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Kolumne der Redaktion

29.06.2022

Am Beispiel des «Sulzigjoggi»: Filmdoku soll Diskussionen über Vorurteile, Machtmissbrauch und Intoleranz auslösen

Anton Schwingruber half mit, den Dokumentarfilm «Der letzte Ketzer» zu realisieren. Hier erzählt er dessen Inhalt und sagt, was er uns lehrt.


Rechtsanwalt Anton Schwingruber war von 1995 bis 2003 Volkswirtschaftsdirektor und von 2003 bis 2011 Bildungs- und Kulturdirektor des Kantons Luzern. Er vertrat damals die CVP (heute Die Mitte) im Regierungsrat.

Bild: Herbert Fischer

David Neuhold, Anton Schwingruber und Gregor Emmenegger (von links nach rechts) während der Dreharbeiten auf der Sulzig mit Blick Richtung Wolhusen (in der rechten Bildhälfte sichtbar).

Eidgenössische Söldner (Animation aus dem Film).

Jakob Schmidli im «Examinierstübli», beziehungsweise der Folterkammer des Turms im Rosengarten.

Jakob Schmidli, im Jahre 1699 in Hergiswil bei Willisau geboren, lebte auf der Sulzig in der Gemeinde Werthenstein und wurde am 27. Mai 1747 in Emmen wegen «verbotenen, religiösen Zusammenkünften und Irrlehre» durch erwürgen und verbrennen zum Tode verurteilt, sein Heimwesen angezündet und auf der Brandstätte eine Schandsäule errichtet. In einem kirchen- und lokalhistorischen Filmprojekt ist ein Filmteam aus Biel (Jan-Marc Furrer und Manuel Dürr) der Causa Schmidli in ihrer ganzen Vielschichtigkeit nachgegangen. Alt Regierungsrat und Jurist Dr. Anton Schwingruber (Die Mitte / Werthenstein) hat sie während den Dreharbeiten begleitet.

Herbert Fischer: Sie haben sich stark für den Film «Der letzte Ketzer» engagiert. Wie stiessen sie auf diese ungeheuerliche und unerträgliche Geschichte?

Anton Schwingruber: Ich bin auf der Nachbarliegenschaft der Sulzig, wo Jakob Schmidli gelebt hatte, aufgewachsen und zu meiner Jugendzeit sprach man zwar vom «Sulzigjoggi», aber niemand wollte wissen, wer das genau war und was für eine traurige Geschichte mit ihm verbunden wird.

Wie geht sie denn, diese Geschichte, kurz gesagt?

Anton Schwingruber: Schmidli, im Jahre 1699 in Hergiswil am Napf geboren, wurde in jungen Jahren als «Ackerbub» beim Bauern Augustin Salzmann in Werthenstein verdingt, der nicht viel auf dem katholischen Wallfahrtsbetrieb (Werthenstein war damals der zweitgrösste Wallfahrtsort nach Einsiedeln) und auf den katholischen Glaubenssätzen und Ritualen hielt. Er wurde deshalb zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Das machte dem jungen Schmidli Eindruck und auch er vertrat schliesslich die Meinung, man könne in anderen Glauben ebenfalls selig werden, nicht nur in der römisch-katholischen Kirche.

War das denn so schlimm?

Anton Schwingruber: Damals schon, denn bis zur Französischen Revolution bestimmte der Staat, welchem Glauben man angehören musste («cuius regio, ejus religio»: wessen Land, dessen Religion). In Luzern und der Innerschweiz bestimmte die Obrigkeit, dass hier nur der römisch-katholische Glauben zählte, während die Zürcher, Berner und Basler nur evangelisch-reformiert zu glauben hatten! Wer sich dem nicht fügte, musste gehen oder hatte gar mit sehr harten Konsequenzen zu rechnen.

Was warf man denn Schmidli konkret vor?

Anton Schwingruber: Jakob Schmidli war der Überzeugung, dass man einfach nach der Bibel leben und Jesus Christus folgen müsse. Das Lesen der Bibel war aber damals Laien verboten! Er hielt auch nicht viel von der Messfeier, der Beichte, der Heiligenverehrung und der klerikalen Kirche. Sondern er veranstaltete selber «Erbauungsstunden» auf seiner Liegenschaft und scharte immer mehr Leute um sich, die derselben Meinung waren.

Das reichte für ein Todesurteil?

Anton Schwingruber: Jawohl, die damalige Obrigkeit schaute nicht lange zu. Sie gab vier Geistlichen Herren – unter anderem dem Leutpriester Gallus Frener, der nachher lange in Ufhusen als Pfarrer wirkte – ein Gutachten über die Lehre von Schmidli in Auftrag und stellte gestützt darauf fest, dass Schmidli ein «Mischmasch» von lutherischem, calvinistischem und pietistischem Glauben lehrte. Das sei ketzerisch und diesen Ketzerglauben müsse man radikal ausrotten.

Was waren die konkreten Folgen?

Anton Schwingruber: Schmidli und über 70 Anhänger wurden verhaftet, verhört, teilweise gefoltert und verurteilt. Schmidli als Rädelsführer wurde zum Tode durch erwürgen und verbrennen verurteilt, seine Anhänger mussten sich zuerst im römisch-katholischen Glauben unterrichten lassen, dann in der Kirche Abbitte leisten und schliesslich mussten sie das Gebiet der Schweiz verlassen, ansonsten auch an ihnen die Todesstrafe vollzogen würde.

Von Rechtsstaatlichkeit und Toleranz also keine Spur?

Anton Schwingruber: Genau, es gab weder Verteidiger noch ein nachvollziehbares, ordentliches Verfahren. Aber Achtung: Die damaligen Zeiten waren dermassen anders, dass man sie nicht mit heutigen Wertvorstellungen und Ansichten beurteilen darf. Denken wir nur schon an unsere eigene Jugend- oder Schulzeit. Körperstrafen waren gar nicht außergewöhnlich, auch in der Schule nicht. Selbst der Pädagoge Pestalozzi soll geschrieben haben: «Wer sein Kind liebt, züchtigt es»!

Wie kam es denn eigentlich zum Film?

Anton Schwingruber: Der Kirchenhistoriker David Neuhold bot an der Uni Luzern im Jahre 2021 ein Seminar zur «Causa Schmidli» an. Es ging um die Frage von Toleranz in Staat und Kirche, um das damalige Umfeld in der übrigen Eidgenossenschaft, um vergleichende Fälle in anderen Kantonen und Regionen, denn die reformierten Kantone gingen gegen Andersgläubige, etwa gegen Pietisten oder Täufer, genau so brutal barbarisch vor. Ich durfte bei diesem Seminar ebenfalls mitwirken.

Daraus entstand die Idee, diese ungeheuerliche Geschichte in einem Film aufzuarbeiten. Als wichtiger Protagonist kam der Kollege von David Neuhold, der Kirchenhistoriker Gregor Emmenegger (ein Urahne des im Bauernkrieg zum Tode verurteilten Pannermeisters Hans Emmenegger von Schüpfheim) als Kommentator dazu. Er hatte schon Erfahrungen mit wissenschaftlichen Filmen gesammelt.        

Sind sie mit dem Ergebnis zufrieden?

Anton Schwingruber: Der Film ist tatsächlich sehr gelungen. Es ist ja nicht einfach, Geschichte attraktiv und trotzdem korrekt darzustellen. Die Filmemacher wählten einerseits zwar die Form des Erzählens in den verschiedenen, wunderschönen Landschaften des Napfgebietes, aber auch originelle Animationen in der Historie.

Ist der Film eine Abrechnung mit der katholischen Kirche? Denn heute entspricht ja die tolerante Glaubensvorstellung von Schmidli etwa dem Weltethos-Gedanken von Professor Hans Küng.

Anton Schwingruber: Ja, aber als Küng die Unfehlbarkeit des Papstes in Frage stellte, wurde ihm die Lehrerlaubnis entzogen. Das hat damals in den 70-er-Jahren hohe Wellen geworfen. Heute hat man generell die liebe Mühe mit der Institution der klerikalen, hierarchischen, patriarchalen, eucharistischen Kirche. Ich auch. Das heisst aber nicht, dass wir Menschen nicht doch irgendetwas Spirituelles, Transzendentes brauchen. Da sind wir auf entsprechende Fachkräfte, sprich Theologen und Theologinnen (!) angewiesen. Es gibt auch sehr viele Kirchenleute, die hervorragende Arbeit in der pastoralen, diakonischen Kirche und den entsprechenden Sozialwerken leisten.

Der Film zeigt aber anschaulich und wissenschaftlich korrekt den Machtmissbrauch in einzelnen Kantonen, Regionen und Religionen auf, ohne wenn und aber und ohne Schuldzuweisungen an einzelne Regionen oder Religionen.

Was bedeutet der Film für Sie und was nehmen die Zuschauer mit nach Hause?

Anton Schwingruber: Der Film macht sehr betroffen und nachdenklich. Er wird zu vielen spannenden Diskussionen über Religiosität, Toleranz, Rolle von Staat, Macht und (Vor-)Urteilen führen. Er soll aber auch bewirken, dass wir uns unserer Freiheit bewusst werden, dass diese Freiheit nicht selbstverständlich ist, und dass wir ihr Sorge tragen müssen. 

Interview: Herbert Fischer

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Wann und wo «Der letzte Ketzer» zu sehen ist

Der Film wird ab Freitag 1. Juli bis Montag 4. Juli um 17.30 Uhr in der Cinébar Willisau gezeigt. Anton Schwingruber ist am 1. und 3. Juli anwesend. Ab 10. Juli läuft er im Vorabendprogramm im Kino Bourbaki in Luzern und im September wird er im Rahmen der «Sternstunde Religion» am Schweizer Fernsehen ausgestrahlt.


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/