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Kolumne der Redaktion

06.09.2020

Von der Vergötterung der Jugend ist es ein Katzensprung zur Diskriminierung des Alters

Der parteilose Silvio Bonzanigo eröffnete am Donnerstag (3. September) die konstituierende Sitzung des neuen Luzerner Stadtparlaments für die Jahre 2020 bis 2024. Heute Sonntag hat er lu-wahlen.ch das Manuskript seiner Rede zur Verfügung gestellt. Es ist - gelinde gesagt - lesenswert!


Ich darf Sie hier als Alterspräsident begrüssen. Diese Ehre ereilt nur jene, die politisch lange genug nicht gestorben sind. Und es ist ein kleines Paradox, dass hier das Alter geehrt wird, während alle Parteien nach jungen Kandidierenden auf ihren Listen gieren, weil sie glauben, damit sei ein Qualitätsnachweis erbracht.

Mit solchen Denkmodi geht allerdings die Nebenwirkung einher, dass all die Älteren auch gern so jung wären oder zumindest so zu wirken wünschen. Männer legen sich dafür gern auf die Hantel- oder Sonnenbank, Frauen mögen sich nicht mehr ihres Geburtsjahrs erinnern, lieben dafür umso mehr die plastische Chirurgie. So geht wenigstens der Volksmund.

Im Ernst: Unsere Gesellschaft hat nur dürftige Antworten auf die gestiegene Lebenserwartung entwickelt. Das Lebensalter hat sich seit der Einführung der AHV 1948 um rund zehn Jahre verlängert und damit auch die Spanne, in der ein Mensch echt produktiv sein könnte, so möchte man folgern.

Das Verständnis für ältere Menschen und ihre Leistungsfähigkeit ist dadurch aber nicht gewachsen. Noch immer werden sie in die Freiwilligenarbeit verbannt oder aber man rät ihnen zu Kreuz- und Kaffeefahrten, obwohl jeder vierte Schweizer gemäss der Deloitte-Studie nach seiner Pensionierung noch erwerbstätig sein möchte.

Von der Vergötterung der Jugend ist es nämlich ein Katzensprung zur Diskriminierung des Alters und zum Rassismus gegen die Alten in der Gesellschaft. Ich brauche das Wort sehr ungeniert, denn gemäss WHO zählt die Diskriminierung des Alters mit jenen des Geschlechts, der Religion und der Ethnie zu den vier verbreitetsten Diskriminierungen in der Weltgesellschaft.

Wenn ich Ihnen sage, dass IBM USA über 35-jährige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Kündigung drängt, um sich des angejahrten Firmenimages zu entledigen, verstehen sie die Ernsthaftigkeit des Anliegens vollends.

Laut UBS fehlen aufgrund der demografischen Lücke bis im Jahr 2030 voraussichtlich 580 000 Berufsleute in der Schweiz. Fände jeder der Arbeitswilligen jenseits der Pensionierungsguillotine eine Anstellung, wäre die Lücke geschlossen.

Also will ich sie an dieser Stelle erstens dafür gewinnen, in der künftigen politischen Arbeit dieses Rates von der Diskriminierung der Alten und Älteren in der Gesellschaft abzusehen.

Mein zweites Anliegen ist eines der politischen Methodik. Mein Vorschlag hierzu: Besuchen sie die Wirklichkeit und lesen Sie zunächst die Quellen, befragen sie die Fakten für ihre politische Arbeit, bevor sie in die Kanon ihrer Partei einstimmen. Schon Grimmelshauses Simplizissimus wusste: «Wissen und Meynen ist Zweyerlei.» Oder um es mit Simone de Beauvoir zu sagen: «Seien Sie der Kieselstein im Schuh Ihrer Partei.»
Reisen während meiner Studienjahre haben mich nämlich gelehrt, an Darstellungen zu zweifeln und die Fakten zu verehren.

Es war die Zeit des Kalten Krieges und die beiden Blöcke versuchten die Untauglichkeit des «anderen» Werte-Systems mit möglichst drastischen und unbelegten Beispielen zu illustrieren. Da das «Vom Hörensagen» nie so mein Ding war, wollte ich lieber nachprüfen. Also reisten meine Frau und ich zu den Obristen nach Griechenland, durch Ulbrichts DDR, besuchten Francos Spanien und Salazars Portugal, wo Bürgern die politische Teilhabe verwehrt war; reisten durch Europas kommunistischen Osten und wir waren selbstverständlich auch in der Sowjetunion unterwegs. Und überall sprachen wir mit den Bürgerinnen und Bürgern; so, wie es eben ging und kein Missfallen erregte!
Der erste Befund war: Die Lüge ist konstituierender Bestandteil von linken wie rechten Diktaturen. Gewiss, auch hierzulande wird politisch gelogen: Maudet in Genf, Infatino in Zürich, Lauber in Bern, die Reihe ist endlos.

Aber diese Lügen sind Ausdruck persönlichen Versagens und werden juristisch geahndet und gesellschaftlich gebrandmarkt. Der demokratische Staat aber lügt nie systematisch, so meine Überzeugung. Tragen wir im Rat dazu bei, dass dem so bleibt.

Der zweite Befund war: Sowohl in den Links- wie den Rechtsdiktaturen entzweite ein nicht zu kittender Riss Staat und Gesellschaft. Bürgerinnen und Bürger versuchten sich in diesen Ländern ein unauffälliges Leben einzurichten neben dem Staat mit seinen Soldaten, seinen Polizisten, seinen Häschern und Spitzeln. Und sie stellten die Fahne der Regierungspartei ins Fenster, weil sie nicht riskieren wollten, dass ihre Kinder von den Universitäten ausgesperrt werden. Bürgerinnen und Bürger bildeten in diesen Nationen das Volk, politische Kasten und ein Übermass von Funktionären bildeten den Staat. Und das eine hatte mit dem anderen nichts zu schaffen.

Von ähnlichen Missverständnissen zu Staat und Gesellschaft sind wir in der Schweiz verschont geblieben. So möge es bleiben!

Politik hat die vornehme Aufgabe, Bürgerinnen und Bürger in den Staat zu integrieren, also in ihnen die Überzeugung zu wecken, dass sie selbst den Staat bilden und dieser keinen Widerpart zu ihrem privaten Dasein darstellt.

Fällen wir unsere Entscheide in dieser Legislatur also möglichst oft so, dass genau diese Gewissheit bei den Bürgerinnen und Bürgern sich einstellt: Die Politik dieser Gemeinde ist die Politik ihrer Gesellschaft. Diese Aufgabe ist anspruchsvoll. Gehen wir sie entschlossen an.

Silvio Bonzanigo, Grossstadtrat (parteilos), Alterspräsident der Eröffnungssitzung der Legislatur 2020 / 2024 am Donnerstag, 3. September 2020


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/