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Kolumne der Redaktion

05.06.2020

Pirmin Meier erinnert sich an den steinigen Weg zur neuen Aargauer Verfassung

Auf youtube.com ist seit kurzem ein von den Historikern Fabian Saner und Titus Meier behutsam vorbereitetes Interview mit dem Historiker Pirmin Meier (*1947) abrufbar (siehe unter «Links»). Meier hat schon mehrmals auf lu-wahlen.ch publiziert und sich als herausragender Kenner der Schweizer Geschichte ausgewiesen. Er war als CVP-Vertreter (ab 1974) Mitglied des Aargauer Verfassungsrates.


Der Video-Beitrag aus der Reihe «Zeitgeschichte Aargau» enthält dokumentarische Aussagen über das Verhältnis zwischen Christen und Juden im unteren Aaretal, die Geschichte der CVP im Aargau und in der Schweiz sowie über die aargauische Pressegeschichte. So über die «Botschaft» (gegründet 1856 von Johann Nepomuk Schleuniger), über das «Aargauer Volksblatt» mit seinen legendären Redaktoren Johann Baptist Rusch und August Bärlocher, über das «Badener Tagblatt» mit den Pressepionieren Otto Wanner, Kurt Schneider («Rüebliländer») und Christian Müller (später «LNN», heute infosperber.ch), und über das «Aargauer Tagblatt» mit dem seinerzeitigen Chefredaktor und Verfassungspolitiker Samuel Siegrist.

Ebenfalls porträtiert wird der bekannte «Überfremdungspolitiker» James Schwarzenbach, mit dem Autor Pirmin Meier zwischen 1964 und 1973 (als späterer scharfer Kritiker) in einer biographisch denkwürdigen Beziehung stand. Dabei sind unter diesen Persönlichkeiten Johann Nepomuk Schleuniger (1810 bis 1874) als Gründer der «Botschaft», sowie Preussen- und Nazikritiker Johann Baptist Rusch (1886 bis 1954), erster Redaktor «Aargauer Volksblatt», welche trotz ihrer Verdienste für die direkte Demokratie und die Unabhängigkeit der Schweiz ähnlich wie James Schwarzenbach leider in die Geschichte des Antisemitismus in der Schweiz gehören. Auch davon ist beim Historiker Pirmin Meier die Rede.

Umweltschutz und «Würde der Kreatur»

Als bedeutendster Aargauer Verfassungspolitiker wird CVP-Nationalrat, Ständerat und Verfassungsratspräsident Julius Binder (*1925) gewürdigt, Schwiegervater der Nationalrätin Marianne Binder-Keller. Binder setzte sich massgeblich für einen Grundrechtskatalog in der Aargauer Kantonsverfassung ein, welcher dann in teilweise sehr ähnlichen Formulierungen 1999 in die Bundesverfassung eingegangen ist. Binders historisch grösstes Verdienst bleibt aber seine Motion im Nationalrat (1964), mit welcher er die Grundlagen für Umweltschutz als Bundespolitik gelegt hat. Der charismatische Politiker und grossartige Redner wurde seinerzeit bei der Wahl von Bundesrat Alphons Egli (CVP / LU) für den Zweiervorschlag vorzeitig ausgebootet, weil Egli-Anhänger bewusst den blassen und braven Walliser Hans Wyer als klar schwächeren Konkurrenten aufs Ticket setzten, das sie der Vereinigten Bundesversammlung servierten. Gewählt wurde am 8. Dezember 1982 prompt Alphons Egli (im Amt bis Ende 1986).

Der Hauptteil des Interviews mit Pirmin Meier ist der Geschichte der Totalrevision der aargauischen Kantonsverfassung gewidmet. Die Stationen: 1972 Grundsatzabstimmung mit umstrittener Staatspropaganda, 1973 Wahl des Verfassungsrates, 1979 Ablehnung des ersten Verfassungsentwurfs durch das Stimmvolk (bei sehr niedriger Stimmbeteiligung) und 1980 Annahme der Kantonsverfassung. Der formal ausgefeilte, jahrelang ausgebrütete Text erhielt Einfluss auf die Bundesverfassung von 1999.

Zu erwähnen sind der einleitende Grundrechtskatalog wie einzelne Bestimmungen, etwa  «Würde der Kreatur». Dieser Begriff ist via den Kanton Aargau ins eidgenössische Verfassungsrecht eingebracht worden. Dafür erhielt, als seinerzeitiger erster Antragssteller, Pirmin Meier (1973 bis 1980 Mitglied des aargauischen Verfassungsrates)  2015 eine Auszeichnung aus Tierschutz-Kreisen.

1291 Seiten Protokolle durchforstet

Pirmin Meiers Interview, für das er die 1291 (!) Seiten Protokolle der aargauischen Verfassungsrevision von 1973 bis 1980 sorgfältig konsultierte, ist nicht als Selbstdarstellung konzipiert, sondern eine Würdigung der bedeutendsten damaligen Protagonisten; allen voran Verfassungsratspräsident, Nationalrat und Ständerat Dr. Julius Binder (CVP Baden), der 1964 mit einer epochalen Motion in Bern den Umweltschutz ins schweizerische Verfassungsrecht überführt hat. Desgleichen wird gezeigt, wie bedeutende Aargauer Politiker, später oftmals Regierungsräte und eidgenössische Parlamentarier, als Verfassungsväter ihr späteres Profil erarbeitet haben. So Thomas Pfisterer (FDP,  Regierungsrat, Bundesrichter, Ständerat), Anton Keller (CVP, Nationalrat), Kurt Wernli (ex-SP- Regierungsrat) und, als Verfasser der gewichtigsten einflussreichen Vernehmlassung, Ulrich Siegrist (später SVP-Regierungsrat und -Nationalrat). Das stärkste Gewicht für die Ausformulierung der Kantonsverfassung hatten am Ende aber Staatsrechts-Professor Prof. Dr. Kurt Eichenberger und Bundesrichter Carl Hans Brunschwiler (CVP) als eigentliche Verfassungsredaktoren. Unter den ebenfalls nicht unbedeutenden «Verfassungsmüttern» von 1973 bis 1980 nennt Pirmin Meier die Nachkommin des Vizepräsidenten des Verfassungsrates von 1831, Heinrich Zschokke (SP), Ruth Zschokke, sowie die CVP-Politikerinnen Katharina Herzog und Rosa Eichholzer.

«Nicht sesshafte ethnische Minderheiten»

Im Vorfeld wie auch bei der Ausarbeitung der Verfassung spielten immer wieder auch politische Aussenseiter eine erstaunlich starke Rolle, so der frühere Pfarrer und Werbefachmann Jakob Hohl und in einem ganz speziellen Fall der Badener Altapotheker Dr. Edmund Zander: ihm ist die vermeintliche Kuriosität der Berücksichtigung «nicht sesshafter ethnischer Minderheiten» in der Aargauer Kantonsverfassung zu verdanken, ein zumal symbolpolitisch bedeutender Artikel. Über die Umsetzung der Verfassung nach ihrer Annahme (ebenfalls bei schlechter Stimmbeteiligung) äussert sich unter «Zeitgeschichte Aargau» der ehemalige Grossrat, EVP-Nationalrat und Wettinger Alt-Vizeammann Heiner Studer in präziser Würdigung, was eine Kantonsverfassung heute noch bedeuten kann und wie der Regierungsrat schon kaum nach ihrer Annahme versuchte, die neuen Volksrechte in Sachen Finanzen mit den berüchtigten «Finanz-Delegationen» in Gesetzen postwendend wieder zu umgehen. Studer verweist auch darauf, dass «grüne» Anliegen längst vor der Gründung einer gleichnamigen Partei im Aargau vertreten wurden, zum Beispiel durch EVP-Politiker und Vogelschützer Jakob Zimmerli.

(red)


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/