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Kolumne der Redaktion

18.10.2018

Emmen ehrt die ArbeiterInnen aus Italien, welche die «Viscose» gerettet haben

Heute Donnerstag (18. Oktober) ist auf dem Areal der Viscosistadt in Emmen der Belluno Platz feierlich eingeweiht worden. Er ist eine Hommage an italienische GastarbeiterInnen. Hier ist zu lesen, was der Emmer Geschichtsprofessor Kurt Messmer aus diesem Anlass sagte.


Der heutige Tag steht im Zeichen der Erinnerung und Wertschätzung. Unsere Anerkennung und unser Dank gehen an die zahlreichen Frauen und Männer, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Arbeitskräfte nach Emmen kamen und hier zum Aufschwung der Viscose und zum Wohlstand der ganzen Gemeinde beigetragen haben.

Einige Arbeiterinnen und Arbeiter von damals können heute an dieser Feier teilnehmen. Ich begrüsse sie – stellvertretend für viele andere – besonders herzlich und mit Namen. Es sind dies:

Frau Mirella Fiabane: Sie stammt von Lamon in der Provinz Belluno und trat ihre Stelle 1956 in der Viscose 1956 an. Seit mehr als 50 Jahren trägt Mirella Fiabane den Familiennamen Vonwyl. Sie ist die Ehefrau von Fridolin Vonwyl, einer verdienten Emmer Persönlichkeit.

Frau Silvia Lodi: Sie war die Ehefrau und ist heute Witwe von Luciano Lodi, der zu den ersten vier Männern gehörte, ebenfalls 1956, die aus Belluno nach Emmen kamen.

Herr Giuseppe Deon: Er ist heute der Verantwortliche für die Famiglia Bellunese da Lucerna. Auch er war seit 1956 Viscösler und lebt noch immer in Emmen.

Nomen est omen. Frei übersetzt heisst diese lateinische Weisheit: Namen sind Zeichen, Symbole. Namen sind aufgeladen mit Bedeutungen. Namen erschliessen die Vergangenheit, erklären die Welt.

Emmenbrücke ist dort, wo eine Brücke über die Emme führt. Weil dort in einem Haus Zoll erhoben wurde, bekam dieser Ort den Namen Zollhaus. Vom Platz auf der anderen Seite aus geht man ins Seetal, also heisst er Seetalplatz.

Wenn in einer Gemeinde (Emmen) und in einem Fabrikareal (Viscosistadt) insgesamt ein Dutzend Namen an die Geschichte dieser Fabrik, an ihre Produkte und Direktoren erinnert, zwölf Strassennamen, dann muss es sich um eine besondere Gemeinde und um eine besondere Fabrik handeln. So ist es.

Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen im Gersag- und im Sonnenhofquartier drei Strassen den Namen von Fabrikdirektoren: Dunant, Hill und Wattenwyl – drei weitere Strassen nannte man nach Viscose-Produkten: die Berta-Regina- und die Celtastrasse, dazu den Krinolweg. «Krinol-Star» war ein künstliches endloses Rosshaar, zwar nicht dehnbar wie das natürliche, dafür leicht in allen Nuancen einzufärben.

Nomen est omen. Die lange Tradition dieser Namensgebung ist in unserer Zeit in der Viscosistadt wieder neu aufgenommen worden. Vor mir sehe ich das Schild «Zettelgasse». Sie führt hinunter zur «Polymerstrasse». Da drüben – durch «Manhattan» – führt die «Spinnereistrasse». Sie trifft hinten auf die «Fadenstrasse», und diese führt auf den «Nylsuisse-Platz».

Das Gebäude hinter mir ist die alte und neue Fabrik-Kantine. Sie bekam den trefflichen Namen «Nylon 7». Die Viscösler gingen nach Feierabend eben nicht einfach in den «Emmenbaum», nicht ins Wirtshaus, sondern «is Sebni». Zwölf Namen stehen in Verbindung mit der ehemaligen Viscose.

Und heute kommt ein neu benannter Platz hinzu, der Belluno Platz – grad hier, wo Sie stehen, zwischen Nylon 7 und dem ehemaligen Portier-Häuschen. Es war einst der Eingang zur quasi «verbotenen Stadt».

Nomen est omen. Dass gerade dieser Platz nach Belluno benannt wurde, hat seinen nachvollziehbaren Grund. Dieser Grund wird allen Passanten eindrücklich vor Augen geführt durch das Plakat, das an der Wand der Fabrik-Kantine angebracht wurde. Dieses Plakat hat aus meiner Sicht Denkmal-Charakter.

Wer genau diese Frauen waren, die hier – vermutlich nach der Frühschicht, die um 6 Uhr begann und um 14 Uhr endete – über diesen Platz gehen, weiss man nicht. Die Möglichkeit, dass es sich um Frauen aus der Provinz Belluno nördlich von Venedig handelt, ist aber gross.

Bereits 1924 richtete die Viscose ein Gesuch an die kantonale Fremdenpolizei um Bewilligung für die Einreise und Einstellung von sechs jungen Frauen im Alter von 16 bis 18 Jahren, alle aus Lamon, Provinz Belluno, dazu von zwei Frauen aus Bergamo. Kurze Zeit später ein weiteres Gesuch für die Einreise von 21 Frauen, sämtliche aus Lamon, Provinz Belluno.

In den folgenden zwei, drei Jahrzehnten kamen vor allem Schweizer Arbeitskräfte zum Zuge, oft junge Frauen aus Bauernfamilien, die im Winter, nach dem Ende der Ernte, in Gruppen nach Emmen kamen und gemeinsam Arbeit in der Fabrik suchten.

Nach 1945 verkörperten die «fadengewandten Arbeiterinnen», wie sie in den Quellen genannt werden, den rasanten Aufschwung der Viscose. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Europa zerstört, die Schweiz verschont, ihr Produktionsapparat intakt. Mit den neuen erfolgreichen Nylon-Produkten ging es dem Höhepunkt der Viscose zu.

1947 arbeiteten bereits 48 Italienerinnen in der Viscose. Interessant, dass die Firmenleitung vorgängig die Meinung der Gewerkschaften einholte, ob die Frauen aus Italien allenfalls Konkurrentinnen um Arbeitsstellen seien. Ebenfalls beachtlich ist ein Eintrag vom 12. November 1949: An diesem Tag traten 10 Italienerinnen aus der Viscose aus. Ihnen allen wurde bei dieser Gelegenheit sowohl die Anreise als auch die Rückreise entschädigt. Die Reisekosten wurden also vom Betrieb übernommen, nicht etwa vom Lohn abgezogen.

Weiter ist in den Akten der Viscose vermerkt: «Belluno, 13. Mai 1951 – Gute Nachrichten! Die erste Reisegruppe von 14 Mädchen ist auf Ende Woche, spätestens am 21. Mai 1951, startbereit. (…) Eine Reserve von 6-8 Mädchen ist bei eventueller Notwendigkeit – nach meiner Rückkehr – sofort abrufbar; (unterzeichnet) Ines Meier, Betriebspsychologin».

Die Betriebspsychologin war also vor Ort, wartete in Lamon ein paar Tage, bis sich die Angeworbenen bereit gemacht hatten und begleitete sie gleich persönlich nach Emmen – wo sie im «Mädchenheim» der Viscose in die Obhut von Klosterfrauen kamen. Weitere Frauen standen in Belluno schon bereit – auf Abruf.

Die systematische Suche nach Arbeitskräften setzte 1951 ein, mit dem NYLON-Boom. Mehr als 60 neue italienische Arbeiterinnen sind für dieses eine Jahr verzeichnet. 1956 traten innerhalb von drei Wochen insgesamt 28 Frauen ein. Das erscheint vorerst nicht als eine allzu grosse Zahl. Bedenkt man aber, dass innert so kurzer Zeit im «Viscose-Heim» 28 Personen mehr zu verköstigen, unterzubringen und zu betreuen waren, ist das beträchtlich.

1960 dasselbe Bild: Am 16./17. März traten gemeinsam insgesamt 20 Personen ein: 12 Männer, 8 Frauen, alles «Hilfsarbeiter/innen», am 28. März nochmals 7 Männer und 3 Frauen, wie gewohnt in Gruppen, am 15. Juni nochmals 20 Männer, am 27. Juni weitere 10 Männer. Innert weniger Wochen 60 Arbeitskräfte – jetzt aber aus einem neuen Zentrum: aus der Provinz Forli-Cesena.

Das ist insofern ein wichtiger Hinweis, als dieser Platz künftig zwar den Namen Belluno Platz trägt, weil nachweislich sehr viele Frauen und Männer aus dieser Provinz kamen. Aber geehrt werden mit diesem Platz ausdrücklich alle Arbeiterinnen und Arbeiter, aus dem Ausland und aus der Schweiz, die vielfach ihr ganzes Berufsleben lang zum grossen Erfolg der Viscose beitrugen.

Damit haben sie auch einen bedeutenden Anteil am rasanten Aufschwung der Gemeinde Emmen in den 1950-er, 60-er und 70-er Jahren.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben vor uns ein bescheidenes und zugleich bedeutendes Zeichen der Erinnerungskultur. Mit unserem Dank an die vielen Viscöslerinnen und Viscösler von damals verbindet sich der Dank an die Verantwortlichen der Viscosistadt von heute, an die Herren Alain Homberger und Elmar Ernst, in ihren Diensten der PR-Fachmann Marc Lustenberger. 

Verdienter Dank geht zudem an die Gemeinde Emmen, an den Bauvorsteher Josef Schmidli und an seine Mitarbeiter von der Wasserversorgung.

Der Belluno Platz ist eigens für diesen Festtag neu asphaltiert und mit dem Jubiläumsbrunnen von 1981 geschmückt worden. Nun wird er mit einer Gedenktafel eingeweiht, wertvoll für das individuelle Erinnern, ebenso wichtig aber auch für das kollektive Gedächtnis.

Zum Schluss: Nach Auskunft von Frau Silvia Lodi haben die Männer und Frauen aus der Provinz Belluno damals, beim Nylon-Boom der 1950-er und 60-er Jahre, «die Viscose gerettet». Ob die Viscose ohne Bellunesi gleich hätte den Betrieb einstellen müssen, mag zwar offen bleiben. Am heutigen Einweihungs- und Festtag lassen wir die Aussage aber so stehen, voller Freude und Dankbarkeit: «Die Bellunesi haben die Viscose gerettet.»

Kurt Messmer, Emmen


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/