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Kolumne der Redaktion

15.09.2018

So hat sich die Schulpsychologie in 75 Jahren verändert

Dreiviertel Jahrhunderte alt wird heuer der Schulpsychologische Dienst der Stadt Luzern (SPD). Der Stadt war dies am Mittwochabend eine Feier im Utenbergschulhaus wert. Die Leiterin des SPD, Ruth Enz, zeichnete die wechselvolle Geschichte dieser Institution auf, die sich ebenso stetig wie grundlegend verändert hat. Hier ist der Wortlaut ihrer Rede, redaktionell leicht überarbeitet, zu lesen.


Die Psychologin Ruth Enz leitet seit 2003 den Schulpsychologischen Dienst (SPD) der Stadt Luzern.

Bild: Herbert Fischer

Mehr über Ruth Enz unter «Dateien».

75 Jahre SPD – ein stattliches Alter. Darum erlaube ich mir zunächst, zurückzuschauen, wie denn die Geburtsumstände damals waren. Und dann möchte ich Sie auf eine kleine Reise durch die Entwicklung der Schulpsychologischen Arbeit mitnehmen. 

Ein Blick in die ältesten Unterlagen zum SPD offenbart etwas vom Denken in der damaligen Zeit und zeigt auch, welch grosse Veränderungen und Entwicklungen in den letzten 75 Jahren in den gesellschaftlichen Werten und Normen und dadurch auch in der Schule und Schulpsychologie stattgefunden haben.

1942 wurde an der Schulpflegesitzung die Einrichtung einer «Erziehungsberatung bzw. eines Schulpsychologischen Dienstes» – die Begriffe wurden synonym verwendet – ausführlich thematisiert. Drei Personen äusserten sich in Kurzreferaten: 

Dr. Rudolf Reutlinger, der Schularzt, sagte, er habe die Arbeiten, die hier zur Diskussion stünden, bisher selber geleistet. Diejenigen Aufgaben, die er mit Vorteil einem Schulpsychologen zuweisen möchte, seien unter anderem:  

«... die Kontrolle der Erstklasskinder mit mangelnder Entwicklungsreife, die Untersuchung der Grenzfälle für die Hilfsklassen, die Sanierung der Situation der mehrfachen Bleiber, polizeiliche Vergehen, psychische Klasseninfektion, Schulschwänzer, Phantasielügner und Schwererziehbare».

Ich habe gegoogelt: der Begriff «psychische Klasseninfektion» findet sich nirgendwo mehr. So ist es Ihrer Phantasie überlassen, sich darunter etwas vorzustellen.

Und weiter meinte Dr. Reutlinger:

«Als Anforderung an den Inhaber eines solchen Postens müsste gestellt werden: Geschulter Psychologe, wenn möglich erfahrener Lehrer mit psychiatrischen Kenntnissen, wenn möglich Absolvent eines heilpädagogischen Seminars.» 

Ein heute noch ideales Anforderungsprofil. Einzig reden wir heute nicht mehr von psychiatrischen Kenntnissen, sondern von Kenntnissen in Klinischer Psychologie und Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters.

Dr. Martin Simmen, der Seminarlehrer, stellte sich auf den Standpunkt, «dass der in Frage kommende neue Dienst mit den vorhandenen Kräften in nebenamtlicher Funktion durchgeführt werden sollte, da die Stadt aus schon erwähnten finanziellen Gründen kaum neue Aemter schaffen könnte, für die sie allein aufzukommen hätte.» Dieses Argument hat seine Aktualität bis heute nicht verloren. Simmens Plan war, Lehrer für die Aufgaben einzusetzen. Es sei möglich, mit kurzer Einführung, eine Anzahl Spezialisten zu schaffen, die in einem engen Aufgabenbereich sehr gute Arbeit leisten könnten. Sie müssten selbstredend für ihre Leistungen honoriert werden.

Und der Dritte im Bunde war Lehrer Moritz Tröndle, die starke Figur und Vertretung vom Lehrerverein: Er meinte: «Der Erziehungsberater vermittle mit beratender Kompetenz zwischen Lehrerschaft und Eltern in allen Fällen, wo dies notwendig ist.» 

Durchaus modern: Beratung – Mediation! Dann aber wieder: «Die Betreuung gesunder, aber abwegiger Kinder, die Schwierigkeiten bereiten, wäre Sache dieser Institution.» Und: «Die Ausscheidung aller geistig und körperlich Minderwertigen sollte mit der 3. Klasse abgeschlossen sein.»

Dann war es soweit: Im Schuljahr 1943/44 wurde der Schulpsychologische Dienst der Stadt Luzern als Beratungsstelle für Ratsuchende in erzieherischen und schulischen Belangen eröffnet. 

Hochblüte der Testdiagnostik

Dr. Martin Simmen und seine Lehrer leisteten während der ersten Zeit wichtige Aufbauarbeiten. Es war die Hochblüte der Test- und Zuweisungsdiagnostik. Bei Lern- und Verhaltensproblemen wurden die Kinder in Hilfs- und Sonderschulen und Heime eingewiesen. Beratung gab es noch wenig. 

Kinderzeichnungen waren immer ein wichtiges Instrument

Die Kinderzeichnung, die auch heute noch in unserer Arbeit sehr bedeutsam ist und in unserer Feier noch eine wichtige Rolle spielen wird, war von Anfang an ein wichtiges Arbeitsinstrument: Die «ungenügenden und zweifelhaften Neuschüler» wurden durch einen sogenannten Zeichentest – nämlich eine freie Zeichnung am zweiten Schultag, die alle machen mussten – erfasst und je nachdem dem Schularzt oder dem Schulpsychologen zugewiesen.

Neben diesen Zeichentests für die «Neuschüler» fanden andere Tests Eingang in die Arbeit, so zum Beispiel der «Biäschtest», ein früher Schweizer Intelligenztest, oder der wahrscheinlich vielen bekannte «Rohrschachtest». 

1959, mit der Pensionierung von Martin Simmen, rief die Entwicklung nun nach einer vollamtlichen Stelle. Die Mitarbeitenden waren immer noch Lehrpersonen im Nebenamt. Die Ansprüche an die Fachstelle stiegen aber zunehmend, und der Dienst wurde mit der Zeit ausgebaut und Psychologen, und recht viel später dann auch Psychologinnen, übernahmen die Arbeit.

Schulentwicklung als Daueraufgabe des SPD

Der SPD begann schnell auch Einfluss auf die Schulentwicklung zu nehmen. Er war beteiligt an der Einrichtung der ersten Einführungsklassen, die Kleinklassen A (die Kleinklassen B, die früheren Hilfsschulen, gab es ja schon viel länger); an der Einführung pädagogisch-therapeutischer Massnahmen (die damaligen Legasthenie- und Dyskalkulietherapien); und auch bei der Planung des Jugendheimes Schachen wirkte er mit. Die Einzelfall-Betreuung mit der Erziehungsberatung wurde ausgebaut. Wie bereits erwähnt, ist die Beratung der Eltern bis heute ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit geblieben. 1972 wurde die Elternberatung ergänzt mit der «Elternschule», in welcher Kurse für Eltern zu verschiedensten Erziehungsthemen angeboten wurden. Die städtische Elternschule wurde übrigens 2012 aufgehoben, unter anderem auch aus finanziellen Überlegungen.

Systemisches Arbeiten mit Einbezug des Umfeldes

In den 70-er- und 80-er-Jahren entwickelten sich die Systemtheorie und auch entsprechende Ansätze für die Beratung und Therapie. Verzögert fasste dieser Ansatz auch in der schweizerischen Beratungslandschaft Fuss. Langsam veränderte sich der Fokus und nicht mehr nur das Individuum, das verhaltensauffällige oder im Lernen beeinträchtigte Kind, sondern auch die Einflüsse des Umfeldes – zuerst mehr die Familie, langsam aber auch die Lehrpersonen wurden miteinbezogen. 

Die Erziehungsberatung hatte, wie bereits erwähnt, schon etwas länger Tradition. Die Beratung der Schulen kam eher zögerlich in Gang, war doch das Bedürfnis danach noch nicht so gross. Kinder, die in der Regelschule nicht mitkamen oder mit ihrem Verhalten auffielen, kamen in die Kleinklassen und Sonderschulen.  

Da haben wir in den letzten Jahren eine 180-Grad-Wendung vollzogen. Heute gilt ja klar das Primat der Integration.

Nach und nach bahnte sich nun ein Paradigmenwechsel an: Ressourcen- und lösungsorientierte Konzepte gewannen immer mehr an Bedeutung. Die lange vorherrschende problem- und defizitorientierte Sichtweise wurde erweitert durch einen Ansatz, der auf die Stärken (Ressourcen) einerseits der Kinder und Jugendlichen fokussierte, aber mit dem systemischen Ansatz auch begann, die Ressourcen und Kompetenzen der Eltern und Lehrpersonen für die Unterstützung der Lernenden nutzbar zu machen.

Nun sind wir etwa bei der Jahrtausendwende. Die SchulpsychologInnen eigneten sich systematisch Kompetenzen in den Bereichen Coaching und Supervision an, welche in die alltägliche Arbeit einflossen. «Runde Tische» wurden eingeführt, die Arbeit mit Gruppen etablierte sich genauso wie die Moderation von schwierigen Gesprächen, zum Beispiel bei Konflikten zwischen Eltern und Schule/Lehrperson.

Parallel dazu hatte sich auch in der Schule vieles bewegt. Dazu nur ein paar Stichworte: 

. Aufhebung der Kleinklassen mit Einführung der Integrativen Förderung, 

. die Integration von SonderschülerInnen, 

. Migrationswellen mit Lernenden, die kaum über Deutschkenntnisse verfügen und aus einer ganz anderen Kultur stammen, vielleicht sogar traumatisiert sind. 

All das forderte und fordert die Schule und die Schulpsychologie sehr heraus. Damit sind wir in der Gegenwart gelandet. Der Schulpsychologische Dienst besteht heute, und nach der Fusion mit Littau, aus zwölf MitarbeiterInnen, zehn PsychologInnen und zwei Sachbearbeiterinnen.  

Zum Abschluss noch ein paar Worte dazu, was uns heute in unserer Arbeit wichtig ist. Die Herausforderungen der Schule sind immer auch eine Herausforderung für die Schulpsychologie. Wir bemühen uns, unsere Arbeitsformen und Angebote immer wieder anzupassen, um eine Passung für die Bedürfnisse nach Unterstützung zu erreichen. Darum ist uns die Nähe zur Schule sehr wichtig, wir müssen ihre Nöte kennen (natürlich auch jene der Familien), um gut unterstützen zu können.

Wir sind uns bewusst, dass die Lehr- und Fachpersonen in der Schule täglich eine sehr anspruchsvolle Arbeit leisten. Wir versuchen sie dabei mit unserem Know-how zu unterstützen und bei Problemsituationen Impulse zu geben und gemeinsam etwas zu erarbeiten, was Entlastung bringt und im Schulalltag praktizierbar ist.

Den Umgang mit Kindern, die auffälliges Verhalten zeigen (wie auch immer dies die Gesellschaft definiert), sehen wir als eine der grössten Herausforderungen für die Schule.

Wir setzen uns schon lange intensiv mit dieser Thematik auseinander und favorisieren für unsere Beratungen in der Schule mittlerweile einige, nach unserer Meinung sehr taugliche psychologische Ansätze: einmal das Konzept der Neuen Autorität (Haim Omer, Eia Asen und andere); dann die Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie und ihr Transfer in die Schule; sowie schliesslich auch die Erkenntnisse aus der Bindungsforschung und ihre Relevanz für die Schule. 

Die Gesellschaft und somit die Schule und die Schulpsychologie werden sich weiter verändern. Das fordert uns heraus, macht die Arbeit aber auch vielfältig, spannend und lebendig. Und erlaubt uns, Neues zu denken und zu entwickeln.

Das können wir nicht allein tun. Dafür brauchen wir Unterstützung. Ich bin aber sicher, dass wir diese auch in Zukunft bekommen. Denn wir dürfen immer wieder erfahren, dass wir bei der Stadt und beim Kanton, aber auch bei den Schulen auf offene Ohren stossen. Vielen Dank dafür. Und auch Ihnen, liebe Zuhörenden für Ihre Aufmerksamkeit.

Ruth Enz, Leiterin des Schulpsychologischen Dienstes der Stadt Luzern (SPD), Luzern 


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/