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Kolumne der Redaktion

01.05.2018

Was die Winterthurer SP-Nationalrätin Mattea Meyer soeben im «Neubad» zum Tag der Arbeit sagte

«Die Rechten haben es mit ihrer Politik erfolgreich geschafft, dass die kleinen und normalen Fische damit beschäftigt sind, die anderen kleinen Fische zu jagen»: Dies sagte soeben im «Neubad» an der 1. Mai-Feier des Luzerner Gewerkschschaftsbundes (LGB) die Winterthurer SP-Nationalrätin Mattea Meyer. Sie hat lu-wahlen.ch ihr Redemanuskript vorab zur Verfügung gestellt. Es gilt das gesprochene Wort.


Vor ihrem Auftritt heute Abend im «Neubad» traf sich Mattea Meyer im «Helvetia-Gärtli» vor dem «Salue» mit dem Präsidenten des Luzerner Gewerkschaftsbundes, SP-Grossstadtrat Martin Wyss.

Bild: Herbert Fischer

Liebe Genossinnen, liebe Genossen, liebe Kolleginnen und Kollegen, geschätzte Anwesende.

Im letzten Herbst war ich an einer Wahlkampfveranstaltung, die eine Gemeinderatskandidatin für ihren Freundeskreis organisiert hatte. Verkäufer, Hauswarte, Spitalangestellte – Menschen mitten im Leben. Sie waren den sozialen Werten zugetan und von der SVP angewidert. Ich fragte sie, wo ihnen der Schuh drücke. Die Antwort kam schnell: Sozialhilfebeziehende, die angeblich Porsche fahren und sich eine Winterjacke für 700 Franken gekauft hätten. Das habe zumindest die Frau des Schwagers gesagt, die eine vom Sozialamt kenne. Dabei wären andere Themen auf dem Tisch gelegen: ein paar Tage vorher wurde dank den Paradise Papers erneut vor Augen geführt, wie Superreiche und Grosskonzerne die Menschen an der Nase herumführen. Doch darüber fiel kein Wort. Kein einziges.  

Auf dem Heimweg wollte mir der eine Gedanke nicht aus dem Kopf: Wie kann es sein, dass sich die Empörung auf die kleinen Fische fokussiert, während die wirklich grossen Fische weiterhin ungestört ihre Runden drehen können? Ist dieser masslose Reichtum, diese Milliarden, die hinterzogen werden, so weit weg von der Realität der Menschen, dass sie sich gar nicht betrogen fühlen? Hingegen die teure Jacke, die sie sich nicht leisten können, der Sozialhilfebezüger aber angeblich bezahlt bekommt, sich wie eine Faust ins Gesicht anfühlen muss. 

Die Rechten haben es mit ihrer Politik erfolgreich geschafft, dass die kleinen und normalen Fische damit beschäftigt sind, die anderen kleinen Fische zu jagen. Sie schaffen soziale Unsicherheit und fordern dann die Menschen dazu auf, Eigenverantwortung zu übernehmen. 

Eigenverantwortung. Ich kann dieses Wort nicht mehr hören. Es wird einem immer dann von rechts entgegen geschleudert, wenn wir Ungleichheit verringern und das Leben der Menschen verbessern wollen.   

Eine solidarisch finanzierte Altersvorsorge, die alle in Würde alt werden lässt? Nein, jeder und jede soll privat auf die Seite legen für später (und gleich noch Steuern einsparen). Dass das nur für die interessant und möglich ist, die viel verdienen, ist den Bürgerlichen egal. 

Sozialleistungen, die nicht nur das Überleben sichern, sondern auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen? Nein, denn sonst haben die Betroffenen noch weniger Grund, sich anzustrengen. 

Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern? Also bitte, es gibt doch keine Lohnungleichheit. Wenn eine Frau weniger verdient, ist sie entweder weniger kompetent oder sie hat schlecht verhandelt. 

Das Gerede von Eigenverantwortung gaukelt uns vor, dass wir alles werden und tun können, wenn wir halt genug fest wollen. Im Umkehrschluss gilt: Wer es nicht schafft, der hat zu wenig gewollt. Der war ein zu fauler Fisch. Selber schuld, wer mit der Rente nicht über die Runde kommt, wer auf Sozialhilfe angewiesen ist oder wer sich nicht damit abfindet, weniger als der männliche Kollege zu verdienen. 

Die Rechten machen damit die Menschen für herrschende Ungerechtigkeiten selber verantwortlich. Der Kampf gegen Ungleichheit und für Gerechtigkeit wird zu einem Kampf mit sich selber. Versteht mich nicht falsch: Ich bin auch dafür, dass alle für ihr Leben Verantwortung übernehmen. Aber das geht nur, wenn wir als Gesellschaft die Voraussetzungen dazu schaffen. Heute aber werden die Rahmenbedingungen so ungleich gestaltet, dass die einen sich noch so anstrengen können und nie genug gut sind, nie genug schnell schwimmen. 

Liebe Genossinnen und Genossen, Ungleichheit ist nicht individuelles Versagen, sondern politisch gewollt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die einen ohne eigenes Dazutun mehr Macht und Möglichkeiten haben als andere. Die Rechten halten schützend die eine Hand über die Mächtigen und zeigen mit der anderen auf die Sozialschmarotzer, die nimmersatten Emanzen, die Gutmenschen. Das ist eine Frechheit! 

Doch nicht nur das. Sie schaffen sich auch die Rahmenbedingungen so, wie es ihnen passt. Die Panama und Paradise Papers haben offenbart, wie Superreiche den Rest der Welt um Milliarden Steuereinnahmen bringen. Die Enthüllungsberichte haben aber vor allem auch gezeigt, dass die Mächtigen dafür gar keine Gesetze brechen müssen – sie lassen sich ihre Steuerumgehungen ganz legal auf den Leib schneidern. 

Anders bei den kleinen Fischen: Dort wird der Schraubstock immer strenger angezogen. Die, die nach einem harten Arbeitsleben eine zu tiefe Rente haben, müssen um Ergänzungsleistungen betteln – und auch das wird immer weniger. 

Alle, die auf Sozialleistung angewiesen sind, müssen sich in Zukunft von privaten Detektiven ins Schlafzimmer spähen lassen. Sie haben das Recht auf Privatsphäre und Würde mit dem Leistungsbezug abgegeben. 

Bei den Frauen wiederum nimmt man es mit dem Gesetzestext nicht so genau. Ich war noch nicht auf der Welt als Lohngleichheit in der Verfassung verankert wurde – und neun Jahre alt, als gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit ins Gleichstellungsgesetz geschrieben wurde. Heute verdient eine Frau immer noch 600 Franken weniger im Monat, nur weil sie eine Frau ist. Das macht über 300'000 Franken unerklärter Lohnunterschied in einem ganzen Arbeitsleben! Als im letzten März die Herren (und wenigen Frauen) im Ständerat aus fadenscheinigen Gründen minimste Verbesserungen zurückgewiesen haben, hat mir eine Studi-Kollegin geschrieben, von der ich seit Jahren nichts mehr gehört habe. Für sie sei Emanzipation und Feminismus ein alter Zopf und Gleichberechtigung längst erreicht gewesen. Bis sie im Berufsalltag auf die Welt gekommen sei. Heute kämpfe sie in ihrem Job für Gleichstellung und für Lohngleichheit. 

Im gleichen Atemzug wie Eigenverantwortung fällt ja immer auch das Wort „Leistung“. Die, die viel leisten, die hätten ihr Geld auch verdient. Heisst das im Umkehrschluss, dass die, die wenig haben, einfach zu wenig leisten? Wir alle wissen, dass das nicht stimmt. Meine kleine Tochter geht zwei Tage pro Woche in die Kinderkrippe. Die Arbeit, die diese schlecht bezahlten, meist jungen Frauen (und Männer) leisten, hat die grösste Hochachtung verdient. Der tiefe Lohn und die prekären Arbeitsbedingungen stehen in keinem Verhältnis zur tagtäglichen Leistung. Doch es ist kein Zufall, dass gerade die Kinderbetreuung schlecht entlöhnt wird; das ist bei allen klassischen Frauenberufen der Fall. 

Wenn Lohn wirklich nur mit Leistung zu tun hat, dann soll es eine grössere Leistung sein, Aktien am Computer hin und her zu verschieben anstatt Kinder zu betreuen? Das glaubt doch niemand. 

Liebe Genossinnen und Genossen. Wir alle haben ein Leben in Würde verdient. Rentnerinnen und Rentner, die ein Leben lang geschuftet haben und nicht wissen, wie sie die Miete, die Prämien, geschweige denn einen Zooeintritt für das Enkelkind zahlen sollen. 

Leistungsbezügerinnen und -bezüger, die jeden Tag mit dem Gefühl leben müssen, nichts wert zu sein in dieser Gesellschaft. Frauen, die müde und wütend sind vom täglichen Kampf, die gleiche Anerkennung zu bekommen wie die männlichen Kollegen. 

Für sie alle ist das Gerede von Eigenverantwortung und Leistung eine Ohrfeige mitten ins Gesicht. Lohnungleichheit, Abbau bei Sozialversicherungen und Sozialhilfe, zu tiefe Renten: Das ist nicht Privatsache. Sondern die bewusste Politik von denjenigen, die an der Macht sind.  

Oder positiv gesagt:  Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, Leistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, anständige Renten: Das ist nicht Privatsache. Sondern es liegt an uns, dafür zu kämpfen. 

Dass wir heute überhaupt eine AHV haben, ein soziales Netz oder Lohngleichheit in der Verfassung steht: Das fiel nicht vom Himmel, sondern wurde erkämpft. Wir verdanken fortschrittlichen, mutigen Menschen, dass wir heute da stehen, wo wir stehen. 

Ihr Mut lebt weiter. Sie haben mit ihrem Engagement unsere heutigen Errungenschaften erkämpft. Wir werden mit unserem Engagement die Zukunft prägen. Kämpfe dafür gibt es viele. Elternzeit, die diesen Namen verdient; Genossenschaften, die bezahlbare Wohnungen ermöglichen und Boden dem Profitdruck entziehen; ein starker Service Public, der demokratische Kontrolle über Alltagsgüter wie Bildung, Gesundheitsversorgung oder Wasser garantiert; eine Regularisierung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht, wie sie in Genf umgesetzt wird. Eine Zukunft, die konsequent auf erneuerbare Energien setzt. Oder – um bei den Beispielen vom Anfang zu bleiben: Ein Ausbau der solidarisch finanzierten AHV; soziale Sicherheit, die die Menschen befähigt und nicht bevormundet. Gleichstellung, die nicht nur auf dem Papier steht, sondern gelebt wird. Eine Steuerpolitik, die keine Schlupflöcher zulässt und eine Gesellschaft, in der alle ihren angemessenen Beitrag leisten. 

Wir werden auf Widerstand stossen, weil wir unverdiente Privilegien infrage stellen und weil wir das Gerede von Eigenverantwortung und Leistung als Betrug an den Menschen entlarven. Wir werden Energie brauchen, Erkämpftes zu verteidigen. 

Aktuell in der Debatte um die Kürzungen bei den Ergänzungsleistungen, beim Referendum gegen das Überwachungsgesetz oder für kleinste Fortschritte bei der Lohngleichheit. 

Es ist anstrengend, gegen den Strom zu schwimmen. Doch es wird sich lohnen. Denn wir werden auch gewinnen. Und das zählt. Ein kleiner Fisch mag nicht allein gegen einen grossen ankommen. Aber viele kleine Fische, die zusammenarbeiten, sind ein Fischschwarm.  

Klüger und mächtiger als jeder noch so grosse Hai. Wir sind dieser Fischschwarm. Und wenn wir zusammenstehen, dann, ja dann, gehört die Zukunft uns. 

Mattea Meyer, Nationalrätin (SP / Winterthur)


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/