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Kolumne der Redaktion

02.10.2016

Zentralschweizer Missionare und die Zwangsbekehrung der Sioux-Indianer

An der Buchvernissage von Manuel Menraths Werk «Mission Sitting Bull. Die Geschichte der katholischen Sioux» (am Donnerstagabend, 29. September) hielt Professor Dr. Aram Mattioli eine Einführungsrede, die Erschütterndes über ein düsteres Kapitel offenbart. Und so die ohnehin erschütternden Aussagen im Buch von Menrath unterstreicht. Professor Dr. Aram Mattioli hat sein Manuskript lu-wahlen.ch zur Verfügung gestellt. Dessen offizielle Überschrift lautet: Die Lakota-Mission des späten 19. Jahrhunderts im Kontext der US-Indianerpolitk.


Professor Dr. Aram Mattioli lehrt Neueste Geschichte an der Universität Luzern und ist Autor des Buches «Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700-1910», das im März 2017 im Klett-Cotta Verlag erscheint.

In der Einleitung zu seinem «Kosmos» schrieb Alexander von Humboldt, dass man die Erscheinung der Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange sehen müsse, wenn man diese wirklich verstehen wolle. 

Genau dies ist Manuel Menrath in seiner Studie «Mission Sitting Bull. Die Geschichte der katholischen Lakota» geglückt. Er verknüpft darin die Geschichte des Dakota-Territoriums mit der Zentralschweizer Regionalgeschichte und kann zeigen, dass sich auch Schweizer und deutsche Geistliche im Prozess, der zum «Winning of the West» (Theodore Roosevelt) führte, beteiligten. 

Der inneren Architektur nach handelt es sich bei seiner dicht recherchierten und trotz aller Wissenschaftlichkeit stets leicht zu lesenden Dissertation um eine Zwei-Kontinenten-Geschichte, in deren Zentrum zwei fast gleichaltrige Protagonisten der Zeit – nämlich der Lakota-Chief Sitting Bull auf der einen und der Benediktinermissionar Martin Marty aus Schwyz auf der anderen Seite  –  stehen. Von 1876 an kreuzten sich deren Lebenswege in den nördlichen Great Plains immer wieder, war Martin Marty doch darauf aus, die ihm von der US-Regierung zugewiesenen Lakota zum katholischen Glauben zu bekehren. In Teilen hatte er damit Erfolg, in Teilen aber auch nicht, wie gerade die Geschichte von Sitting Bull lehrt. Denn der grosse Lakota-Chief blieb seinen spirituellen Überzeugungen allen Bekehrungsversuchen zum Trotz bis zu seinem Tod treu.

Sitting Bull war in den USA der 1870-er-Jahren eine Reizfigur, weil er sich mit seinen Leuten standhaft dagegen wehrte, ein neues Leben in der 1868 geschaffenen «Great Sioux Reservation» zu beginnen. Am 25. Juni 1876 hatte Tatanka Yotanka, wie er eigentlich hiess, einen entscheidenden Anteil daran, dass Krieger der Lakota, Cheyenne und Arapaho ein von Oberstleutnant George Armstrong Custer befehligtes Regiment der 7. Kavallerie bis auf den letzten Mann aufrieben. 

Unter den 269 toten amerikanischen Soldaten befand sich übrigens auch der Hufschmied Vinzenz Schärli aus der Luzerner Gemeinde Zell. 

Manuel Menraths Studie bringt nicht nur ein wenig bekanntes Stück transatlantischer Verflechtungsgeschichte ans Licht, sondern belegt auch die originelle These, dass die katholische Indianermission des späten 19. Jahrhunderts immer auch als Fortsetzung der europäischen Kulturkämpfe zu interpretieren ist. Das hat vor ihm noch niemand so formuliert. Tatsächlich prallten im amerikanischen Westen zwei Kulturen unerbittlich aufeinander, bis die indianische schliesslich in ihren Grundfesten erschüttert war. Natürlich wollte Sitting Bull mit seinem Widerstand die traditionelle, von der Bisonjagd bestimmte Lebenswelt der Lakota verteidigen.

Nach dem Sieg am Little Big Horn floh er mit einigen tausend Gefolgsleuten nach Kanada, um dem sich immer enger werdenden Zugriff durch die herbeigerufene Kavallerie zu entziehen. Diese griff im Winter 1876/77 gezielt die Winterlager von Cheyenne und Lakota an und machte sie dem Erdboden gleich. Sitting Bull konnte sich mit seinen Leuten noch bis 1881 in der Gegend von Wood Mountain halten, bis die Bisons auch in den nördlichen Plains fast ausgerottet waren. Damit brach die Lebensgrundlage der letzten Plainsnomaden weg. Martin Marty reiste dem grossen Lakota-Chief durchaus mutig hinterher, um diesem und seinen Leute den «alleinseligmachenden Glauben» nahe zu bringen. Doch seine Bekehrungsversuche scheiterten in seinem Fall immer wieder, auch dann noch als Sitting Bull in die USA zurückkehrte und sich ins Standing Rock-Reservat zurückzog, wo er 1890 bei einer gewalttätigen Verhaftungsaktion den Tod fand. Bei vielen anderen Lakota erreichten Martin Marty und seine aus dem deutschsprachigen Raum stammenden Missionare ihr Ziel.

Um das Wirken der katholischen Missionare im Dakota-Territorium zu verstehen, ist es unabdingbar, sich den grösseren Kontext vor Augen zu führen: In den Jahren um 1880 hatten die Vereinigten Staaten die ganze Landmasse zwischen Atlantik und Pazifik unter ihre Kontrolle gebracht und dem einstmals indianisch geprägten Kontinent ihr Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell aufgedrückt. 

Die Hauptverlierer der US-Kontinentalexpansion waren die First Peoples, die sich – ihres Landes und ihrer angestammten Subsistenzgrundlage beraubt – mittlerweile nicht mehr ohne Bundeshilfe ernähren und kleiden konnten. Mehr ökonomisch als militärisch in die Knie gezwungen war den Native Americans am Ende bloss die Wahl zwischen Skylla und Charybdis geblieben, mussten sie sich doch zwischen dem Hungertod und einem als demütigend empfundenen Leben in einer Zwangsinstitution entscheiden. Ausser, sie sassen als Kriegsgefangene in Militärgefängnissen ein, hatte Washington alle Überlebenden der ehemals freien Nationen in Reservaten konzentriert. Diese Enklaven im amerikanischen Siedlungsteppich waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert nichts anderes als Institutionen der kolonialen Fremdbestimmung, ja eigentliche «Dispositive der Macht» (Michel Foucault), die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Grundlage der US-Indianerpolitik blieben. Rasch entpuppten sie sich als Orte einer neuen Sozialtechnik, durch die man den Indianern all das auszutreiben versuchte, was sie zu Indianern machte. Bezeichnenderweise gehörten Modellfarmen, Schulen, Internate, Missionskirchen, Gerichte und Polizeikorps zu ihrer Grundausstattung.

Nach 1880 leitete Washington eine neue, sozialreformerisch inspirierte Indianerpolitik ein. Ihre Leitideen lauteten «Zivilisierung» und «Amerikanisierung». 

In der Praxis lief diese Politik auf die vollständige Auslöschung der indianischen Kulturen, ja auf einen versuchten Ethnozid hinaus, wie der Fachterminus dafür lautet. 

Jedenfalls ruhte die rigide Reformpolitik, welche die USA seit den 1880er Jahren den American Indians gegenüber durchzusetzen begann, auf drei Säulen: auf der Unterdrückung von unerwünschten Kulturpraktiken wie dem Sonnentanz; auf einem rigorosen Umerziehungsprogramm für Kinder und auf der Parzellierung und Privatisierung des verbliebenen Reservatslandes. 

Washingtons neue Politik versuchte unter anderem, Indianerkinder ihrer kulturellen Traditionen zu entfremden und sie, nachdem sie ein eigenes Schulprogramm durchlaufen hatten, als entindianisierte Neoamerikaner in die Mehrheitsgesellschaft einzupassen. 

Diese Politik wurde nicht zuletzt deshalb auf den Weg gebracht, weil es den Staat deutlich weniger kostete, in die Umerziehung der Jungen zu investieren als ständig militärische Befriedungskampagnen gegen die Indianer zu führen. Bis zur Jahrhundertwende richtete das Bureau of Indian Affairs auf dem US-Territorium 154 Tagesschulen und 153 Internate für sie ein, davon 25 ausserhalb der Reservate gelegene Boarding Schools. Mehr als vier Fünftel der insgesamt 21500 indianischen Schüler und Schülerinnen gingen 1900 auf solche Internate. 

Es handelte sich um staatlich finanzierte, von christlichen Kirchen und Orden geführte Sonderschulen, die nach der Losung «Kill the Indian but save the man» funktionierten. Martin Martys Missionstätigkeit ist ganz in diesem Rahmen zu verorten, was ihn, wenn man darin dem Schweizer Historiker Leo Schelbert folgen will, zu einem Werkzeug des US-Kontinentalimperialismus machte.

Die Internatsschulen waren Teil eines kolonialen Projekts, das, als die Schlachten um das Land entschieden waren, sich nun der Köpfe, Herzen und Körper der Indianer annahm. Um ihnen spezifisch amerikanische Werte zu vermitteln, galten die ausserhalb der Reservate gelegenen Internate als am effektivsten. 

In diesen speziellen Wohn- und Arbeitsstätten mussten die Eleven – für viele Jahre von ihren Familien und ihrem Herkunftsmilieu abgeschnitten – ein abgeschlossenes, streng reglementiertes Leben führen, das ihre kulturelle Dressur begünstigte. In ihnen führten die Vertreter der christlichen Kirchen – und zwar protestantischer wie katholischer Observanz – im staatlichen Auftrag ein unerbittliches Regiment. Lehrer, Erzieher und Missionare setzten die Eleven einer «totalen Erziehung» (Michel Foucault) aus, die sämtliche Dimensionen ihrer Existenz im Blick hatte. Nicht nur Habitus, Alltagsroutinen und Freizeitverhalten, sondern auch moralische Einstellungen und Glaubensüberzeugungen sollten in radikaler Weise umgepolt werden. 

Den christlichen Pädagogen ging es darum, die kulturelle Identität indianischer Kinder in Stücke zu schlagen, um Platz für eine amerikanische mit ihren christlich-westlichen Werten zu schaffen. 

Die Umstellung auf das Leben in Reservaten fiel den meisten Native Americans schwer, wurde von ihnen doch nichts weniger verlangt, als ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen und innert nützlicher Frist das kleine ABC der kolonialen Dominanzkultur zu erlernen. Unermesslich schwierig war das, was ihnen die Vertreter der Kolonialmacht abverlangten, insbesondere für die Puebloindianer des Südwestens und die Reiternomaden der Great Plains. Nichts in ihrer angestammten Kultur bereitete sie auf das Reservatsleben vor. Allerorten stiessen weisse Instruktoren und Missionare zunächst auf eine kulturell bedingte Renitenz. Wie diese aussah, lässt sich aus einer Aussage von Sitting Bull erahnen, der 1882 einem Zeitungsmann gegenüber bemerkte: «Weisse Männer lieben es, für ihr Essen im Boden zu wühlen. Mein Volk zieht es vor, den Büffel zu jagen, wie es seine Vorväter taten. Mein Volk will seine Tipis hier und dort zu verschiedenen Jagdgründen bewegen. Das Leben des weissen Mannes ist Sklaverei. Sie sind Gefangene in Städten oder Farmen. Das Leben, das mein Volk will, ist ein Leben der Freiheit.» 

Manuel Menrath legt mit seiner eindrücklichen Dissertation ein ebenso spannend zu lesendes wie wissenschaftlich innovatives Werk vor, nach dessen Lektüre man die Tragödie, die sich im amerikanischen Westen, aber auch in anderen Kolonialgebieten der Welt vollzog, weit besser versteht als zuvor. 

Aram Mattioli, Luzern


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/