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Kolumne der Redaktion

24.08.2015

Sepp Riedener blickt auf 30 Jahre Gassenarbeit zurück

Am nächsten Samstag (29. August) feiert die Gassenarbeit Luzern ihr 30-jähriges Wirken. Eine zentrale Figur in diesen Jahrzehnten ist Sepp Riedener. Er war 1976 Mitbegründer des Drogen Forums Innerschweiz (DFI) und ist seitdem treibender Motor für sämtliche Aktivitäten zugunsten der Drogenkranken. Er arbeitete nach der Pensionierung noch sieben Jahre als Seelsorger für die Gassenszene. Dieses Mandat gibt er Ende August 2015 ab.


Einer der Treffpunkte der Suchtkranken in Luzern: das Perron 2 der VBL am Bahnhof.

Bild: Herbert Fischer

Sepp Riedener: Sie sind das Urgestein der Luzerner Gassenarbeit. Noch lange nach der Pensionierung haben Sie sich für die Nöte der Randständigen engagiert: Sind Sie selber vielleicht auch irgendwie «süchtig»? 

Sepp Riedener: Die Botschaft Jesu «Ich bin gekommen für die Armen» hat mich betroffen gemacht. Ich kam selber aus der Armut, musste als Jugendlicher betteln. Daraus hat sich ein Lebensmodell ergeben, das für mich stimmt. Es ist eine innere Landkarte, der ich überzeugt gefolgt bin und die mich motiviert hat, diese Botschaft in ganz konkreter Arbeit umzusetzen. Es ist nicht einfach ein Job, den ich gemacht habe. Ein Engagement ist etwas, das weiter geht. Von daher ist dieses «süchtig sein» nur eine konsequente Lebenshaltung, die auch mit einem Job nicht einfach aufhört. 

Sie haben vor 30 Jahren die Gassenarbeit in Luzern initiiert. Wie notwendig ist sie heute?

Wenn ich realisiere, dass in der «Chochi» über 1100 Leute registriert sind, dass im «Paradiesgässli» 80 Familien mit insgesamt 150 Kindern ein- und ausgehen und wenn ich beim Perron 2 der VBL am Bahnhof die Menschen sehe, die sich dort aufhalten, dann merke ich, wie dringend nötig die Gassenarbeit ist.  

Gibt es Ansichten oder Überzeugungen zur Drogenarbeit, die Sie geändert haben in diesen 30 Jahren?

Früher habe ich gemeint, ich müsse alle Betroffenen von den Drogen wegbringen und sie in die Gesellschaft integrieren. Das stimmt überhaupt nicht mehr. Wenn es gelingt, so ist es wunderbar, und das ist auch immer wieder möglich. Aber sie müssen für einen Ausstieg selber motiviert sein. Ich kann nicht für sie den Weg machen. Der Auftrag heisst heute für mich: Vermenschlichung der Gesellschaft. Für ganz viele, die lange auf der Gasse gelebt haben, ist es heute aussichtslos. Sie bekommen keinen Job mehr, und es fällt ihnen auch schwer, von den Drogen loszukommen. Ich will mit ihnen auf dem Weg bleiben. Wenn sie sterben müssen, bin ich da und schaue dafür, dass sie menschlich in den Tod begleitet und beerdigt werden.

Sind sie auf eines ihrer zahlreichen Projekte besonders stolz?

Das «Paradiesgässli» liegt mir am Herzen. Das Projekt ermöglichte eine Gewichtsverschiebung hin zu einer Gruppe, die ganz wichtig ist: Eltern und ihre Kinder. Wo es um Kinder und Jugendliche geht, geht es um die Zukunft. Das «Paradiesgässli» war eine wesentliche Innovation und schweizweit das erste Projekt in dieser Art. Wir sind denn auch zum Vorbild für ähnliche Angebote in andern Städten geworden. 

Wollten Sie in ihrer oft auch aufreibenden Arbeit nie den Bettel hinschmeissen?

Nein. Diese Versuchung habe ich nie gekannt. Ich kam auch nie in eine Burn-out-ähnliche Situation. Die Arbeit hat immer gestimmt für mich. Ich bin damals nicht von ungefähr aus dem Orden ausgetreten. Ich habe das nie bereut. In meiner Arbeit konnte ich genau das leben, was ich im Gelübde versprochen hatte. 

Es ist im Grunde fantastisch, welche Angebote seit den Anfängen der Gassenarbeit in Luzern entstanden sind: Wie war das überhaupt möglich?

Man muss sehr genau die Not wahrnehmen, die sich zeigt und scharf überlegen, was die Antwort darauf ist. Nachher geht es darum, einen Projektbeschrieb zu machen, der fachlich sauber daherkommt. Wichtig: Das Anliegen muss glaubwürdig sein. So konnte ich jeweils an den Regierungsrat, den Stadtrat und an die Kirche gelangen und die Projekte vermitteln. Wenn das professionell gemacht wird, gibt es immer Menschen, die das unterstützen. Wichtig waren auch Persönlichkeiten wie Franz Kurzmeyer und später Urs W. Studer, dann auch die Zusammenarbeit mit der Polizei und nicht zuletzt die Kirchen: Sie haben mich von Anfang weg durch alle Böden hindurch unterstützt und die Projekte immer mitfinanziert. 

Wie schätzen Sie das gegenwärtige politische Klima für die Anliegen der Gassenarbeit ein? Könnte sie es auch mal schwerer haben?

Es hat in den letzten 30 Jahren immer wieder politische Initiativen gegeben, die gegen unsere Arbeit waren. Aber wir konnten stets eine Mehrheit überzeugen, dass wichtig ist, was wir machen. Vielen Köpfen ist es inzwischen klar geworden, dass es für die öffentliche Hand ohne den Einsatz unserer Institutionen viel teurer würde. Was wir jetzt an Angeboten haben, ist gut und es braucht keine grossen neuen Würfe. Wenn es gelingt, den status quo zu stabilisieren und in die Zukunft zu retten, ist schon ganz viel erreicht.

Was hat Ihnen persönlich das jahrzehntelange Engagement für suchtabhängige Menschen gegeben?

Ich schaue mit einer grossen Zufriedenheit zurück. Ich bin glücklich, dass es überhaupt gelungen ist, solche Institutionen auf die Beine zu stellen. Ich denke, dass ich meine Vision, das Evangelium und die Botschaft Jesu zu leben, zu einem grossen Teil habe verwirklichen können. Ich bin auch dankbar, dass ich immer gesund geblieben bin dabei. 

Interview: Pirmin Bossart

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Dieser Text ist zuerst in der jüngsten Ausgabe der «Gassezytig» erschienen. 


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/