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Kolumne der Redaktion

30.04.2013

Es gibt aus linker Sicht gute Argumente für die Volkswahl des Bundesrates

Vor der SP des Kantons Luzern hat soeben der Politikwissenschafter Nenad Stojanovic zur Initiative für die Volkswahl des Bundesrates gesprochen. Er erinnerte an zwei SP-Initiativen aus den Jahren 1900 und 1942 mit dem gleichen Ziel und führte Argumente auf, die auch heute genau dafür sprächen. Allerdings empfahl er, am 9. Juni leer einzulegen. Die SP-Delegierten entschieden sich jedoch mit 36:2 Stimmen für die Nein-Parole. Stojanovic hat das Manuskript seines Votums lu-wahlen.ch zur Verfügung gestellt.


Der Politikwissenschafter Nenad Stojanovic (*1976) aus Lugano ist spezialisiert auf die Themen direkte Demokratie und Volksrechte. Seine Dissertation heisst «Dialog über die Quoten: Reflexionen über die repräsentative Demokratie in einer multikulturellen Gesell-schaft». Die SP-Delegierten, denen er im «An-ker» in Luzern soeben empfohlen hatte, am 9. Juni leer einzulegen, beschlossen zur Initiative über die Volkswahl des Bundesrates die Nein-Parole.

Bild: Herbert Fischer

Mit ihrer klaren Ablehnung der SVP-Initiative zur Volkswahl des Bundesrates hat sich die SP Schweiz entschlossen, einen wichtigen Teil ihrer Geschichte nicht weiter zu tragen. Aus diesem und anderen Gründen empfehle ich Euch, die Initiative nicht einfach mit einem Nein abzulehnen. Ich setze mich aber auch nicht für ein Ja ein, da der SVP-Vorschlag zu grosse Mängel enthält.  

Ich werde einen leeren Zettel in die Urne legen. Und zwar nicht aus Unentschlossenheit, sondern aus der tiefen Überzeugung, dass dies der einzige Weg ist, in der Abstimmung vom 9. Juni ein linkes Zeichen für die Demokratie und die Volksrechte zu setzen.

Die linken Kräften im allgemeinen und im besonderen die Sozialdemokratie haben sich in diesem Land immer dafür eingesetzt, dass die Volksrechte ausgebaut werden. Die direkte Demokratie, wie wir sie heute kennen, ist ein Produkt der linken Kämpfe in den 60-er und 70-er-Jahren des 19. Jahrhunderts.

Viele von Euch kennen den Bürkliplatz in Zürich. Aber vielleicht wissen nicht alle, wer ihm den Namen gegeben hat. Karl Bürkli war der «erste autochtone Schweizer Sozialist»; war eine Schlüsselfigur in der sogenannten «demokratischen Bewegung» in Zürich. Er hat sich stark für die direkte Demokratie eingesetzt und hat wesentlich dazu beigetragen, dass die direkte Demokratie in der Zürcher Kantonsverfassung 1869 verankert wurde. In wenigen Jahren hat sich dann die direkte Demokratie in anderen Kantonen und bis auf die Bundesebene verbreitet.

Wie Ihr wisst, stammt der Vorschlag, dass der Bundesrat vom Volk gewählt werden soll, auch aus linken Kreisen. Die Sozialdemokraten haben nämlich sowohl im Jahre 1900 die erste, wie auch 1942 die zweite Volksinitiative zur Volkswahl des Bundesrates mitinitiiert. Schon aus diesen Gründen ist es für mich bedenklich, dass die SP nun die Volkswahl so vehement ablehnt. 

Klar: 1900 und 1942 war die Volkswahl des Bundesrates auch ein Mittel zum Zweck, nämlich dazu, dass auch die Sozialdemokraten auf Bundesebene mitregieren können. Seit 1959 haben wir ja zwei SozialdemokratInnen in der Regierung. Und so denken Einige vielleicht, dass der Zweck erreicht wurde, und dass wir dieses Mittel nicht mehr brauchen.

Auch wenn ich diese pragmatischen Gründe verstehe – die à vrai dire eher unausgesprochen, als explizit sind –, habe ich trotzdem Mühe damit, dass man allein für oder gegen eine institutionelle Reform ist, wenn sie der eigenen Partei konkreten Nutzen bringt, oder umgekehrt und logischerweise: wenn sie keinen konkreten Nutzen bringt.

Auch hier ist ein Vergleich mir der direkten Demokratie nützlich. Niemand in der SP schlägt heute vor, die direkte Demokratie abzuschaffen. Nach wie vor sehen wir dieses Instrument als ein Mittel, um fortschrittliche und linke Anliegen vor die BürgerInnen zu bringen. Wenn wir uns nur auf die Abstimmungen der letzten zehn Jahre beschränken, können wir feststellen, dass der AHV-Abbau, dass Steuersenkungen für die Wohlhabenden, dass der zweite Gotthardtunnel und dass andere Projekte der rechtsbürgerlichen Kräfte ohne Referenden seit langem Realität wären. 

Ohne Volksinitiativen hätten wir heute keinen Alpenschutz in der Bundesverfassung, keine Begrenzung der Zweitwohnungen und keine Grenzen bei den Manager-Löhnen. 

Die direkte Demokratie brachte aber für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht immer positive Resultate. Private Krankenkassen, die späte Einführung des Frauenstimmrechtes und der Mutterschaftsversicherung, die strengsten Einbürgerungsgesetze in Westeuropa, das Minarett-Verbot und andere fremdenfeindliche Gesetze: ohne direkte Demokratie wäre all das kaum möglich gewesen.

Ist das aber ein Grund, die direkte Demokratie abzuschaffen? Mir ist kein Schweizer Sozialdemokrat bekannt, der einen solchen Vorschlag heutzutage wagen würde.

Das gleiche soll für die Volkswahl des Bundesrates gelten. Natürlich enthält dieser Vorschlag auch gewisse negative Aspekte: das Parlament würde geschwächt, die Bundesräte würden vielleicht populistischer und die Wahlkampagnen teurer und dazu durch das Geld noch stärker beeinflussbar.

Die positiven Aspekte wären aber auch vorhanden und in meiner Abwägung haben sie mehr Gewicht, viel mehr Gewicht sogar: 

. Unser System wäre demokratischer, weil die BürgerInnen und Bürger die BundesrätInnen zur Rechenschaft ziehen würden;

. die Mehrheit der Stimmberechtigten würde nicht die eidgenössischen Wahlen ignorieren oder sabotieren – wie das eigentlich schon seit 1979 der Fall ist, weil 1975 das letzte Mal war, als mehr als 50 Prozent des Stimmvolkes an den Wahlen teilgenommen hat –,  weil die Leute wissen, dass – was auch immer passiert – die gleichen Parteien in den Bundesrat ziehen werden;

. der Zusammenhalt der mehrsprachigen Schweiz würde gestärkt. Bei einer Volkswahl hätten wir plötzlich BundesratskandidatInnen, die ein Interesse daran hätten, im ganzen Land einen (mehrsprachigen) Wahlkampf zu führen und sich auch für die Anliegen der Randregionen zu interessieren. Heute kommen sechs von sieben Bundesräten aus dem Espace Mittelland plus Aargau plus Zürich. In einer Wahl nach Majorz-Regeln wären sogar die 4 bis 5 Prozent Tessiner Stimmen keine «Quantité négligeable» mehr. Und nicht nur das: ganz im Gegensatz zum verbreiteten Klischee glaube ich, dass die Italienischsprachigen bessere Chancen als heute hätten, gewählt zu werden.

Auch wenn, wie ich gerade unterstrichen habe, die rein parteipolitischen Kalküle bei institutionellen Reformen keinen Platz haben sollten, ist es der Versammlung einer Partei doch nicht verboten, sich auch solche Überlegungen zu machen. Schweizer Politikwissenschafter sind sich übrigens einig, dass besonders die SVP-Kandidaten bei einer Volkswahl des Bundesrates Mühe hätten, gewählt zu werden. Die Linke – SP und Grüne – hätten hingegen eine reale Chance, einen dritten Vertreter im Bundesrat zu bekommen, was im heutigen System mittel- und langfristig kaum möglich ist. 

Trotzdem empfehle ich Euch nicht, die SVP-Initiative zur Volkswahl des Bundesrates zu unterstützen. Sie hat nämlich mehrere bedenkliche Mängel. Hier beschränke ich mich auf zwei davon, die ich «Amerikanisierung», beziehungsweise «Belgisierung» nenne.

Erstens: Die SVP-Initiative beinhaltet keine Bestimmung betreffend Transparenz bei der Finanzierung und Durchführung der Wahlkampagnen. Ohne diese Transparenz laufen wir Gefahr, dass die Volkswahl zu einer Amerikanisierung der Schweizer Politik führen würde, wo die Privatinteressen der Reichen und der Einflussreichen das Wahlresultat bestimmen.

Zweitens: Die Initiative sieht eine schlecht durchgedachte Quote für die lateinische Schweiz vor. Sie wäre ein echter Fremdkörper in der Verfassung, der die mehrsprachigen Kantone trennt und die Schweiz in zwei Sprachblöcke, wie in Belgien, teilt. Für die Umsetzung dieser Quote würde nämlich das Land in zwei Sprachregionen geteilt, wobei die Stimmen der «lateinischen» Bürgerinnen und Bürger mehr Gewicht als diejenigen der Deutschsprachigen haben würden und die Stimmen der Italienischsprachigen denjenigen aus der Westschweiz klar unterlegen würden. Das ist Gift für den nationalen Zusammenhalt und für das friedliche Zusammen- oder Nebeneinander der SchweizerInnen verschiedener Sprachen. 

Diese Mängel sind ernst genug, um die SVP-Initiative nicht zu unterstützen. Schade, dass das Bundesparlament keinen Gegenvorschlag erarbeitet hat. Und schade, dass die SP-Fraktion keinen Gegenvorschlag, der den Grundsatz der Volkswahl mitträgt, vorgelegt hat.

Diejenigen von uns, die das Prinzip der Volkswahl unterstützen, können aber nicht einfach Nein stimmen. Seien wir realistisch: die Nein-Stimmen werden so oder so gewinnen. Unser Nein wird aber als ein grundsätzliches Nein zur Volkswahl interpretiert werden. Und das wollen wir nicht. Aus diesem Grund werde ich einen leeren Zettel in die Urne legen und ich lade Euch ein, dasselbe zu tun.

Wir sollen die demokratische Geschichte der schweizerischen Sozialdemokratie mit Stolz und Überzeugung weiter verteidigen und weitertragen. Wir können nicht und wir dürfen nicht die direkte Demokratie und die Volksrechte durch die SVP als Themen monopolisieren lassen.  

Grossrat Nenad Stojanovic, Vize-Präsident der SP des Kantons Tessin, Lugano


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/