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Kolumne der Redaktion

29.10.2012

100 Jahre CVP (8): Wie der Historiker Pirmin Meier dieses Geburtstagsfest verortet

Die Hundertjahrfeier der CVP vom Samstag im «Union» in Luzern war wohl einer der bedeutendsten politischen Festanlässe der letzten Jahre. Der Anlass fand erst noch an derselben Stätte statt, nämlich im Hotel Union, wo die nationale Partei im Jahre 1912 unter luzernischer Dominanz (welche bis vor zirka 40 Jahren anhielt) das Licht der Welt erblickt hatte.


Nach dem Jubliäumfest im «Union» lud die CVP am Samstagnachmittag zum Stelldich-ein im Gletschergarten: Pirmin Meier (links) im Gespräch mit dem früheren CVP-Kanto-nalpräsidenten Robert Zemp und dessen Gemahlin Cécile Zemp-Sigrist (Dagmer-sellen).

Bild: Herbert Fischer

Dies zu einem Zeitpunkt, da die Partei in St. Gallen schon fast 80 Jahre, im Kanton Luzern als «Ruswilerverein» 72 Jahre existiert hatte. Waren die St. Galler noch aus den liberalen Aufbruchstimmungen der 1830-er-Jahre hervorgegangen, fussten die Luzerner Konservativen unter dem Einfluss von Niklaus Wolf von Rippertschwand und Josef Leu von Ebersol auf fundamentalistischen und populistischen Grundlagen. Das war damals auf dem Lande eine dynamische Mischung, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts das Wahlvolk bewegte. Noch gegen die Wahl von  Christian Clavadetscher (LPL) in den Ständerat vor bald 60 Jahren wurde die «Religionsgefahr» beschworen, ein Schlagwort, das zwischen 1840 und 1870 im Kanton Luzern in der politischen Auseinandersetzung mit den Liberalen zur Routine gehörte hatte. 

Ein wichtiger Unterschied zwischen liberal und konservativ war die Haltung zur Todesstrafe. Die  Konservativen waren meist dafür, die Liberalen in Erinnerung an die Bluturteile gegen Ketzer (1747) und Jakob Robert Steiger (1845, wegen Flucht nicht vollzogen) mehrheitlich dagegen.

Auch in Sachen Kapitalismus und Industrialisierung waren die Konservativen traditionell zurückhaltender, und beim Frauenstimmrecht verwahrte sich noch bis in die fünfziger Jahre hinein der katholische Frauenbund gegen die Politisierung des weiblichen Geschlechts. Auch gehörte ein im Vergleich zum Nazitum zurückhaltender Antisemitismus noch in den dreissiger Jahren zur Grundausstattung der konservativen Partei, welche sich dann, zum Beispiel im Kanton Thurgau, gerade auch zum Teil deswegen für die Raiffeisen-Idee stark machte (Pfarrer Traber, Bichelsee). 

Von diesen Hintergründen erfährt man freilich in der ansonsten vorzüglich redigierten CVP-Festschrift kaum etwas. Eher tut man so, als ob zum Beispiel die CVP-Frauenpolitik mit Elisabeth Blunschy, Judith Stamm und mit der mit Recht vorzüglich gerühmten Ständerätin Josi Meier begonnen hätte. Ich selber stand noch vor 42 Jahren unter dem Einfluss der katholischen Luzerner Akademikerin Ida Monn-Krieger (gestorben im Dezember 1970), die mich im Herbst 1970 bat, an ihrer Stelle (sie litt an Krebs) in Walchwil vor den Zuger Konservativen die Nein-Position zum Frauenstimmrecht zu vertreten. Auf die Frauenemanzipation würde über kurz oder lang die Liberalisierung der Abtreibung, eine Zunahme der Scheidungen, eine stärkere Verstaatlichung der Kindererziehung, die Freigabe der Homosexualität und eine Beschleunigung des Zerfalls der Familie folgen. 

Obwohl  die kluge konservative Frauenstimmrechtsgegnerin Frau Monn vieles richtig voraussah, glaube ich heute nicht mehr, dass man diese Zeittendenzen mit der Blockierung der Emanzipation hätte verhindern können. Bei  der nachmaligen CVP folgte dann schon 1971 der Aufbruch zur «dynamischen Mitte», wohl auch als Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Die Erfolge der CVP in den sechziger und siebziger Jahren hingen wohl damit zusammen, dass es damals sowohl einen starken ländlich verankerten Konservativismus gab, andererseits aber eine blühende Christlichsoziale Bewegung, als deren historisch stärkster Kopf in St. Gallen sich der brillante Nationalrat und spätere Bundesrat Kurt Furgler hervortat; ein Politiker, der es sogar in Deutschland vielleicht zum Kanzlerkandidaten gebracht hätte. Auch haben die Christdemokraten damals das liberale Gedankengut mit Erfolg integriert, etwa durch Persönlichkeiten wie Leo Schürmann (SO) und Julius Binder (AG), deren überragende Begabung in einer Fraktion ländlicher Hinterbänkler im Gegensatz zu einer Autorität wie Kurt Furgler sich nicht durchsetzen konnte. 

Noch 1999 bei der Wahl von Ruth Metzler in den Bundesrat, die sich damit rühmte, keine Bücher zu lesen, glaubte man qualitative Gesichtspunkte hintanstellen zu können. Es besteht für mich kein Zweifel, dass Eugen David, der damals profilierteste Ostschweizer Politiker, doch in einer ganz anderen Liga politisierte als die Säckelmeisterin des Kantons Appenzell-Innerrhoden, die als Luzernerin in ihrem Wohnkanton politisch kaum verankert war.

Andererseits stand gerade der europafreundliche und sogar NATO-freundliche Eugen David unbeschadet seiner hohen Intelligenz für ein Dilemma, das für die CVP als erzföderalistische ehemalige Sonderbundspartei immer grösser wurde. 

Bei meinem letzten Votum als eidgenössischer Delegierter der CVP in Solothurn plädierte ich mit hohem rhetorischem Aufwand allein auf weiter Flur gegen den EWR-Beitritt (1992) und garantierte in Form einer Wette das Nein aller katholischen Kantone, und dass alles, was zum Beispiel ein konservativer Politiker wie Carlo Schmid für den EWR vorbringen wolle, bei der Mehrheit der eigenen Wählerschaft nicht ankommen würde. 

Analog unterstützte ich in den 80-er- und 90-er-Jahren den durchaus nicht nur reaktionären Entlebucher Politiker Gody Studer (CVP), damals noch mit der Absicht, den bald darauf drohenden Durchbruch der SVP in der Innerschweiz verhindern zu können. 

Es ist bekanntlich anders heraus gekommen. Dabei ist, wie in den Gründerzeiten, die CVP im Kanton Luzern – nebst ihrer liberalen Rivalin – ein bis heute unentbehrlich gebliebener Wahl- und Postenverein, weil keine anderen Organisationen über eine vergleichsweise grosse Anzahl  fähiger und vertrauenswürdiger Politikerinnen und Politiker verfügt. Zumal auf dem Lande würde die kommunale Politik ohne die CVP und ohne ihr Potential langfristig verankerter Persönlichkeiten des örtlichen Establishments nicht so funktionieren, wie es wünschbar wäre. 

Vor allem die SVP scheint noch und noch nicht in der Lage zu sein, genügend allgemein wählbare und auch tüchtige Leute für die Gemeindepolitik bewegen zu können. Andererseits macht es bei den Innerschweizer CVP-Sektionen Sorge, dass sie personell zwar auf kommunaler und kantonaler Ebene regelmässig überzeugen, aber auf Bundesebene seit dem Abgang und dem Tod zum Beispiel von Josi Meier im Vergleich etwa zu Zeiten eines Segesser und eines Kurmann fast nur noch politische Mitläufer nach Bern schicken und insofern den soziologisch bedingten Niedergang der Partei weder bremsen noch aufhalten können.  

Auch auf kantonaler Ebene wurde es schwierig, gewisse Persönlichkeiten der ersten Kategorie angemessen zu ersetzen. Zu den besten und gebildetsten politischen Rednern der letzten 40 Jahre gehörten zum Beispiel der Zuger Erziehungsdirektor und spätere Bundesrat Hans Hürlimann sowie die Luzerner Bildungsdirektoren Walter Gut und Toni Schwingruber, welche jeweils Politik mit historischem Bewusstsein betrieben haben. 

Format dieser Sorte ist auch in der Rede des ehemaligen CDU-Generalsekretärs Heiner Geissler am Jubiläumsparteitag vom vorgestrigen 27. Oktober im «Union» in Luzern durchgekommen, wiewohl  gerade seine Nostalgie nach der Zeit, da seine Partei um die 50 Prozent Wähler anzog, nicht gerade als Ausdruck  dringend benötigter christdemokratischer Selbstkritik gedeutet werden kann.  

Der Anlass in Luzern war eindrücklicher als Treffen alter Kameraden und Kameradinnen, als dass er wirklich eine Perspektive für die Zukunft hätte geben können. Dennoch: Das von Marianne Binder-Keller gestaltete Jubiläums-Sonderheft des CVP-Magazins «Politik» bleibt trotz der Wünschbarkeit von noch deutlicheren und schonungslosen Analysen, die für kommende Nummern nicht ausgeschlossen sind, über alles gesehen lesenswert.

Pirmin Meier, Rickenbach


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/