das gesamte meinungsspektrum lu-wahlen.ch - Die Internet-Plattform für Wahlen und Abstimmungen im Kanton Luzern

Spenden für Verein lu-wahlen.ch

Diese Website gefällt mir! Um weitere Beiträge darauf zu ermöglichen, unterstütze ich lu-wahlen.ch gerne mit einem Betrag ab CHF 10.-

 

 

Kolumne von Herbert Widmer

24.05.2012

Warum ich am 17. Juni 2012 zur Managed Care-Vorlage klar nein sage

Nein, wer zu seiner Hausärztin, beziehungsweise zu seinem Hausarzt ein Vertrauensverhältnis hat und weiterhin von so betreut werden will, soll nicht mit hunderten Franken Zusatzkosten bestraft werden! Nein, auf die freie Arztwahl wollen wir nicht verzichten! Nein, der Titel der Webseite des JA-Komitees – «Bessere-Behandlung» – ist nicht Tatsache, sondern eine Beleidigung für alle frei und unabhängig praktizierenden Ärztinnen und Ärzte.


Wenn man zu einem so wichtigen Vorhaben Stellung nimmt, soll man auch seine Interessenbindungen offen legen. Seit 33 Jahren arbeite ich als Hausarzt. Seit 27 Jahren setze ich mich im Vorstand der Ärztegesellschaft des Kantons Luzern für Patienten und unseren Berufsstand ein. In dem von mir herausgegebenen Informationsblatt für die Zentralschweizer Ärzte mit dem Namen «Der Luzerner Arzt» erschienen in den letzten fünf Nummern je acht Seiten pro und contra über die Managed Care-Vorlage, jeweils geschrieben von prominenten Vertretern.

Beruflich führe ich eine Einzelpraxis mit einem sehr grossen Netzwerk. Ich bezahle die Administration meiner Praxis wie auch meine Fortbildung selbst, habe keine Sponsoren, keine Verträge mit den Krankenkassen, lehne Rabatte beim Medikamenteneinkauf ab. Von der Managed Care Vorlage bin ich in keiner Weise selbst betroffen.

Ist  Managed Care unbrauchbar oder wertvoll?

Managed Care – ich spreche hier nicht von der Vorlage, über die wir am 17. Juni abstimmen, sondern von der Idee überhaupt – hat sich vor allem in den letzten 20 Jahren gut entwickelt und hat viel Wertvolles: So die Zusammenarbeit unter Ärztinnen und Ärzten, den Erfahrungsaustausch und die Qualitätssicherung. Das Modell ist entwicklungs- und verbreitungsfähig, wird aber im heutigen Zustand überschätzt. Man kann das Modell nicht über Nacht über die ganze Patientenlandschaft stülpen. Die Managed Care-Vorlage, und jetzt äussere ich mich konkret zur Abstimmung vom 17. Juni, enthält jedoch zu viele Behauptungen, Unsicherheiten und Nachteile.

Die Allianz für die Managed Care-Vorlage hat auf ihrem Flyer ein Argumentarium erarbeitet, welches ich als inakzeptabel und tendenziös bezeichne. Betrachten wir zwei Beispiele: Hier liest man bezüglich der Behandlungsqualität, dass sich heute viele Fachärzte als Einzelkämpfer um den Patienten reissen würden, in Zukunft aber unter Managed Care der Patient «ganzheitlich und in seinem Umfeld betrachtet» werde und dass der Hausarzt die Behandlung koordiniere. Bezüglich Gatekeeping, also die Betreuung und Koordination durch den Hausarzt, bestünden heute teilweise lange Wartezeiten, in Zukunft unter Managed Care sei «der Zugang über den Hausarzt zu Spezialisten rascher, der Zugang zu den neuesten medizinischen Erkenntnissen besser.» 

Da frage ich mich, was wir Hausärzte denn bisher gemacht haben. Genau diese «Zukunftsaussichten» gehören doch heute schon zu unseren Aufgaben! 

In diesem Sinne können Sie mit gutem Gewissen Ihrem Hausarzt, welcher nicht in einem Netzwerk arbeitet, die Treue halten.

1. Ihr Hausarzt ist Ihr Ansprechpartner für alle gesundheitlichen Probleme.

2. Ihr Hausarzt kennt Sie und kann die Behandlung auf Sie und Ihre Bedürfnisse abstimmen.

3. Ihr Hausarzt behält den Überblick.

4. Ihr Hausarzt hilft Ihnen, den für Sie geeignetsten Spezialisten zu finden.

5. Ihr Hausarzt koordiniert Ihre Behandlung und arbeitet eng mit ausgesuchten Spezialisten zusammen.

Dass der in einem Netzwerk arbeitende Arzt das Gleiche für sich beansprucht, ist korrekt.

Ich durchleuchte die Abstimmungsvorlage nach den folgenden Beurteilungskriterien: Patientenfreundlichkeit, Qualität, Netzwerk, Transparenz, Unabhängigkeit, Kosten, Gesetzesnotwendigkeit.

1. Patientenfreundlichkeit

• Ich bin überzeugt, dass die Patientenfreundlichkeit sowohl in der Managed Care-Praxis als auch in der Einzelpraxis gut ist, Qualitätsunterschiede gibt es bei beiden, also gute Ärztinnen und Ärzte und andere. Managed Care-Befürworter trauen den Patienten offenbar nicht zu, einen Arzt frei wählen zu können. Diesen Eindruck erweckt jedenfalls der erwähnte Flyer der Managed Care Befürworter. 

• Ein Versicherer kann mit den Patienten einen drei Jahre gültigen Vertrag abschliessen. Will der Patient zuvor kündigen, beziehungsweise wechseln, so bezahlt er eine Ablösesumme. Dies betrachte ich als sehr wenig patientenfreundlich.

2. Qualität 

Ich bin überzeugt, dass die MC-Praxen auch durch Qualitätszirkel und EQUAM (Qualitätszertifizierung) gut sind. Die Vorstellung, dass sie aber allemal besser seien als die Einzelpraxen ist falsch. Eine Umfrage durch Prof. Busato von der Uni Bern ergab sogar eine leicht höhere Patientenzufriedenheit bei den Einzelpraxen. Ich betrachte es als erstrebenswert, dass man die Qualitätsarbeit der Managed Care-Modelle ohne ein unnötiges Gesetz wachsen und sich ausbreiten lässt.

Jeder Arzt hat pro Jahr 80 Stunden Fortbildung nachzuweisen, um seinen FMH-Titel behalten zu können. Die Qualitätszirkel zählen dazu und werden zum Beispiel im Luzerner Netzwerk Lumed mit 200 CHF pro Abend abgegolten. Für die EQUAM-Absolvierung erhält der Arzt 3500 CHF. Der Nicht-Netzwerkarzt bezahlt die Fortbildung selbst (circa 2000 bis 3000 CHF pro Jahr).

3. Netzwerk

Ein gutes Netzwerk mit Spezialisten, Spitälern, Chiropraktoren, Physiotherapeuten etcetera ist sehr wichtig, aber nicht die Erfindung der Managed Care-Modelle. 

Dazu zwei Beispiele:

• Im April dieses Jahres kam ein Patient um 08.20 Uhr als Notfall mit Bauchschmerzen in meine Praxis. 08.50 Uhr war der geplatzte Blinddarm mit Laborresultaten und Ultraschall bestätigt, um 11.00 Uhr war der Patient operiert.

• Im Jahre 2008 kamen innerhalb von vier Wochen vier sehr ähnliche Fälle wie der folgende in meine Praxis: Am Montag 07.45 Uhr erschien ein Patient, nachdem er zum ersten Male Brustschmerzen verspürt hatte. Um 0900 wurde die vermutete koronare Herzkrankheit vom Kardiologen bestätigt, am Dienstagabend erholte sich der Patient vom Eingriff mit sechs Bypässen, der drohende Herzinfarkt war abgewendet.  

Im Lumed Netzwerk finde ich 17 Spezialisten, in meinem eigenen Netzwerk finde ich 110; vergleiche ich nur die Fachbereiche, welche im Lumed-Modell vertreten sind, sind es bei mir noch 37 Spezialisten.

4. Transparenz

Auch nach dem Studium von über 400 Seiten über Managed Care bin ich bezüglich der Transparenz nicht zufrieden.

 Zitat Flyer «Managed Care JA»: «Bereits heute wählen schon 60 Prozent aller Versicherten ein alternatives Versicherungsmodell, weil sie von der vernetzten Medizin und einer festen Erstanlaufstelle überzeugt sind.» Zwei Drittel davon würden nicht mehr unter die MC-Modelle fallen, sondern müssten auch die «Strafbeträge» bezahlen, sofern ihre Krankenkasse dieses Hausarzt-Modell überhaupt noch anbieten würde!

 Vor der Einführung der Fallpauschalen an den Spitälern am 1. Januar 2012 wünschten die Netzwerke, im Spital solle möglichst wenig gemacht werden, da diese Kosten ihre Budgetverantwortung belaste; nach dem 1.Januar.12 geht der Wunsch dahin, dass viel im Spital gemacht werde, da dies die Fallpauschale belaste, nicht aber die Managed Care – Rechnung (Budgetverantwortung).

5. Unabhängigkeit

Eines der wichtigsten Kriterien für eine patientennahe Medizin in Zukunft ist deren Unabhängigkeit:

• Die Allianz für eine «bessere»  Medizin ist der Ansicht, dass die MC-Vorlage die Unabhängigkeit der Ärzte von den Krankenkassen stärke. Da hege ich meine grossen Zweifel.

• Die Managed Care-Modelle erhalten pro betreute Versicherte 28.- CHF pro Jahr für ihre Aufbauarbeit. Bei 1,5 Millionen entsprechend Versicherten wären dies 42 Mio CHF. Die Ärzte dieser Modelle erhalten nach ihren Aussagen davon 10 – 15 Prozent.

• Managed Care-Befürworter schreiben: «Qualitätsarbeit braucht Geld. Kosten sparen muss sich für Netze und Praxen lohnen.» Genau aber das Sponsoring für Qualitätszirkel und EQUAM durch Krankenkassen und Pharma und durch Pay Back-Verträge mit Leistungsanbietern – teilweise auch mit öffentlichen Spitälern – durch hohe Rabatte und Boni beim Medikamenteneinkauf sind Kostentreiber. Der Chef eines so genannten Netzwerks sagte dazu: «Ohne das Sponsoring durch die Industrie könnten wir die Ausgaben einer MC-Praxis nicht decken.»

Und wir unabhängigen Ärzte? Die Annahme geldwerter Vorteile durch den einzelnen Arzt ist verboten und wird bestraft. In einer Charta haben die Netzwerke festgelegt, dass für sie nicht das Gleiche gilt, da die Beiträge ja an das Netzwerk, nicht an den einzelnen Arzt gehen würden. Für den Aufbau der Modelle und für patientenbezogene Projekte dürfe das Geld verwendet werden.

Nachdem ich 40 bis 50 Firmen- und Krankenkassen Logos auf den Webseiten oder Verlautbarungen von Managed Care- Institutionen gefunden habe, gestatte ich mir, an der verlangten Unabhängigkeit zu zweifeln. Die Verträge zwischen Krankenkassen, Pharma und den Ärztenetzwerken sind meist geheim.

6. Kosten

Ein wichtiges Argument für die Managed Care-Vorlage ist die prophezeite Kosteneinsparung. Nur: niemand kennt diese! Die Schätzungen gehen in Richtung rund 12 Prozent.

Der bereits zitierte Prof. Busato behauptet, die Arztpraxen seien desto teurer, je grösser sie sind. Der bekannte Gesundheitsökonom Willy Oggier kann sich dies ebenso vorstellen wie der Präsident der Schweizerischen Vereinigung der Hausärzte, welcher selbst für die MC-Vorlage eintritt.

Gehen wir nochmals auf den Wichtigsten im Gesundheitswesen, auf den Patienten zurück. Aus dessen Sicht können folgende Argumente gegen die Managed Care-Vorlage genannt werden:

• Diese Vorlage bringt den Arzt in Konflikt zwischen Patienten und die Netz-Performance und erhöht den Druck zur verdeckten Rationierung.

• «Knebelverträge»: Ein Versicherer (Krankenkasse) kann Verträge auf drei Jahre abschliessen und bei früherem Austritt eine Ablösesumme verlangen.

• Freie Spital- und Arztwahl nimmt ab.

• Die Medikamentenwahl nimmt ab (Abhängigkeit von Sponsoren).

• Nur der Vermögende kann sich die freie Arztwahl noch leisten. 

Es hat sich eine recht grosse Allianz gegen die Vorlage aufgebaut; es finden sich hier nicht nur «Linke und konservative Ärzte», wie es in der Einladung zur Delegiertenversammlung der FDP Schweiz zur Parolenfassung über Managed Care stand. Auch die Vereinigung der Luzerner Hausärztinnen und Hausärzte hat eine korrekte Umfrage durchgeführt. Das Resultat war ein NEIN, wenn auch ein knappes.

Dem Schweizerischen Gesundheitswesen fehlt ein Konzept. Überall stehen angefangene Bauprojekte wie Fallpauschalen, E-Health, Heilmittelgesetz, Ideen der Allianz gegen die Hausarztmisere, die Prämienverbilligung, undsoweiter. Zu glauben, dass wir mitten in diese Bauprojekte einen Prunkbau Managed Care stellen könnten, ist illusorisch.

Dr. med. Herbert Widmer, Hausarzt, Kantonsrat FDP, Luzern


Teilen & empfehlen:
Share    
Kommentare:

Keine Einträge

Kommentar verfassen:

Ins Gästebuch eintragen
CAPTCHA-Bild zum Spam-Schutz  

Über Herbert Widmer:

Dr. med. Herbert Widmer (*1946) führt in Luzern eine Praxis für Innere Medizin und ist FDP-Kantonsrat.

http://www.herbert-widmer.ch