das gesamte meinungsspektrum lu-wahlen.ch - Die Internet-Plattform für Wahlen und Abstimmungen im Kanton Luzern

Spenden für Verein lu-wahlen.ch

Diese Website gefällt mir! Um weitere Beiträge darauf zu ermöglichen, unterstütze ich lu-wahlen.ch gerne mit einem Betrag ab CHF 10.-

 

 

Kolumne von Herbert Widmer

20.01.2012

Vieles spricht gegen Erstkonsultationen in Apotheken und gegen «Video-Ärzte»

Kürzlich habe ich gelesen, dass Erstkonsultationen künftig in Apotheken erfolgen sollen: «Apothekerinnen und Apotheker werden in Zusammenarbeit mit auf Video zugeschalteten Ärzten eine Lücke schliessen, wo ein Hausarzt fehlt. Weiteres Ziel des Projekts ist es, Kosten zu sparen.» Dagegen spricht allerdings sehr viel.


An dem für zwei Jahre angelegten Pilot arbeiten der Schweizerische Apothekerverband pharmaSuisse, das Schweizerische Zentrum für Telemedizin MEDGATE und der Kranken- und Unfallversicherer Helsana zusammen. In der Medienmitteilung steht weiter geschrieben, Apotheker und Apothekerinnen seien «qualifizierte und anerkannte Medizinalpersonen», die medizinische Leistungen erbringen könnten. Uns Ärzten sprechen die gleichen Leute allerdings die Kompetenz zur Medikamentenabgabe ab.

Man stellt sich dies seitens der Erfinder dieses Projekts wie folgt vor (aus der Pressemitteilung): Ein Patient klagt zum Beispiel an einem Samstag über Rückenschmerzen. Statt in ein Notfallzentrum geht er in eine netCare-Apotheke. Dort wird der Patient in einem separaten Raum beraten. Der Apotheker vermutet nach einigen Fragen eine Entzündung und empfiehlt den Beizug eines Arztes. Dieser wird per Videokonferenz aus dem Schweizerischen Zentrum für Telemedizin MEDGATE zugeschaltet. Nach einer Beratung schreibt der Arzt ein Rezept für einen Entzündungshemmer und rät zur Ruhe. Das Rezept faxt er umgehend in die Apotheke.

Der Apotheker händigt das Medikament dem Patienten aus und berät ihn über die Einnahme. Sollte der Arzt entscheiden, dass der Patient weitere Behandlung benötigt, wird er an ein Spital überwiesen. Die Videoleitung, über die das Beratungsgespräch zwischen Arzt und Patient übertragen wird, sei sicher. Das neue System habe verschiedene Vorteile: Mit dem neuen Modell würden die Ressourcen der Apothekerschaft besser ausgelastet und zugleich die Ärzte von Bagatellfällen entlastet. Gleichzeitig würden Kosten gespart.

Das erlebe ich allerdings anders

Dazu ein konkreter Fall, wie ihn wohl jeder Arzt schildern könnte. Ein 75 jähriger Patient, welchen ich seit zwanzig Jahren gut kenne, sass mir gegenüber und sagte, «eigentlich» fühlte er sich gesund. Aber mir kam er irgendwie verändert vor: in seiner Haltung, seinem Gesichtsausdruck, seinen Worten, ja irgendwie in der ganzen Persönlichkeit. Er staunte über meine entsprechende Aussage, liess sich aber überreden, eine erweiterte Untersuchung durchführen zu lassen. Das Blutbild war hoch pathologisch, die Diagnose des zugezogenen Spezialisten lautete auf «Multiples Myelom in einem sehr frühen Stadium». Ein späterer Brief des Patienten an mich drückte sehr viel Dankbarkeit aus, da seine Chancen durch die Früherkennung doch gestiegen sind.

Glauben Sie, dass mir die Veränderungen des Patienten als «Videkonferenz-Doktor» auch hätten auffallen können? Legt Ihr Arzt auf die Physiognomie, den Gesichtsausdruck, die Haltung, ja vielleicht sogar auf den Händedruck des Patienten, der Patientin auch so viel Wert? Meine Erklärungen verstärke ich oft durch eine Zeichnung eines Divertikels, eines Fersensporns, etcetera. Dies kann ich aber nur, wenn ich neben dem Patienten sitze und nicht eine virtuelle Beziehung zu ihm pflege. Am Schluss der Behandlung will ich dem Patienten mit einem festen Händedruck oder gar mit einem leichten Klaps auf die Schulter zeigen, dass ich ihn ernst nehme, dass ich für ihn (meist) Empathie empfinde. Haben Sie dies einmal via Bildschirm versucht?

Und die Kosten?

Die Inanspruchnahme der netCare-Apotheke kosten 18 Franken, wird der Bildschirmarzt zugezogen noch 45 Franken dazu. 20 Minuten Behandlung durch den Arzt kosten in unserem Kanton circa 57 Franken. MEDGATE hat bei uns nicht den Ruf, billig zu arbeiten. Bezüglich der Kosten von netCare ist vieles möglich, nur nicht, dass sie niedriger sein werden als in der Arztpraxis!

Swisscom stellt die Technologie zur Verfügung und schreibt in einer Medienmitteilung: «Der Patient profitiert von einer schnellen, umfassenden und kompetenten ärztlichen Beratung». Hochinteressant sind die Kommentare von Lesern in den Medien, meist negativ und die Wichtigkeit eines hochstehenden Arzt–Patienten-Verhältnisses betonend. Ein Apo-Team schrieb unter anderem: «Und verdienen tun wir absolut nichts daran. Im Gegenteil!» Ein Kommentator schreibt: «Sie scheinen wohl nicht zu wissen, dass ein Apotheker genauso Medizin studiert, wie ein Arzt. Und meist noch besser ausgebildet ist als ein Assistenzarzt, der sie in einer Notfallstation untersucht. Und das Apothekennetz ist weiter gesponnen als das Ärztenetz» .

Das alles wusste ich bisher allerdings auch nicht! Immer wieder wird darauf aufmerksam gemacht, dass das netCare-Modell dem bekannten Leitspruch der Apotheker widerspricht: «Wer verschreibt, gibt nicht ab!»

Nennt mich ruhig «fortschrittsungläubig» 

Gerne akzeptiere ich, dass ich in den Verdacht gerate, gegen Innovationen und fortschrittsungläubig zu sein, wenn ich an diesem Projekt erhebliche Zweifel hege. Gestatten Sie mir, hier nicht alle Zweifel zu nennen, aber einige doch. Glauben Sie, dass der «Video-Arzt“ die korrekte Diagnose stellen kann, ohne den Patienten zu berühren, seine Druckschmerzhaftigkeit zu prüfen, die eventuele Verspanntheit der Muskulatur zu beurteilen oder die Überwärmung der Entzündungszone? Glauben zum Beispiel die Initianten des Projekts «Videokonferenz in der Apotheke», dass die notwendige zwischenmenschliche Nähe zwischen Patient und Arzt so erreicht werden kann? Glauben Sie, dass der  «Video-Arzt», den physischen und ebenso wichtigen seelischen oder psychischen Zustand des Patienten genügend beurteilen kann, um eine Diagnose zu stellen und die Behandlung festlegen zu können? Glauben Sie, dass Kosten gespart werden, wenn Apotheker, Telemedizin-Anbieter und Bildschirm-Arzt am «Fall» verdienen und in der Apotheke noch Kosten für Beratung und Führung der Krankengeschichte anfallen oder gar mit Spitalkosten gerechnet werden muss? Was passiert, wenn der Fall des Patienten nicht zu netCare passt; wer bezahlt dies? Wer haftet bei netCare für Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen? 

Fragen Sie sich auch, weshalb reihenweise solche Projekte auftauchen, aber kaum jemand echte Massnahmen trifft, um genügend Ärztinnen und Ärzte auszubilden und zukünftigen Grundversorgern ein vernünftiges Einkommen zu ermöglichen? 

Wir hätten ganz andere Aufgaben!

Statt immer wieder zu solchen «Innovationen» Zuflucht zu nehmen oder über Prozente zu feilschen, welche der Prämienzahler zusätzlich bezahlen muss, wenn er an der freien Arztwahl festhalten will, statt Millionen sparen zu wollen, gleichzeitig aber Milliarden zu verschwenden, müssten wir andere Aufgaben an die Hand nehmen.

Warum hat noch kein EDI-Vorsteher einen echten runden Tisch zur Lösung der Probleme im Gesundheitswesen einberufen? Warum bilden wir als eines der reichsten Länder der Welt noch immer zu wenig Pflegepersonal und Ärzte aus, sondern nehmen diese ärmeren Völkern weg? Eine Sozialistische Frage? Keineswegs, das ist eine Frage der Ethik!

Auch diese Fragen können wir nicht am Bildschirm, nicht virtuell lösen, sondern nur im echtem Kontakt von Mensch zu Mensch!

Herbert Widmer, Arzt und FDP-Kantonsrat, Luzern

 


Teilen & empfehlen:
Share    
Kommentare:

Keine Einträge

Kommentar verfassen:

Ins Gästebuch eintragen
CAPTCHA-Bild zum Spam-Schutz  

Über Herbert Widmer:

Dr. med. Herbert Widmer (*1946) führt in Luzern eine Praxis für Innere Medizin und ist FDP-Kantonsrat.

http://www.herbert-widmer.ch