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Kolumne von Pirmin Meier

01.12.2020

Das Ständemehr garantiert Demokratie auch den regionalen Minderheiten

Die Ablehnung der KOVI am Sonntag durch die Mehrheit der Kantone (Ständemehr) bei gleichzeitigem Volksmehr - also der Mehrheit der abgegebenen Stimmen - lässt eine alte Diskussion neu aufflammen.


Wie stark sollen bei Vorlagen, welche eine Verfassungsänderung wollen, die jeweiligen Abstimmungsergebnisse in den 26 Kantonen gegenüber der Summe der Stimmen aller Abstimmenden («Volksmehr») gewichtet werden? Darum geht es bei den immer wieder aufflackernden Diskussionen um die Zukunft des Ständemehrs. Im Bild: Kantonsfahnen auf der Luzerner Seebrücke.

Bild: Herbert Fischer

Bei Kommentaren zu Abstimmungen lässt man gerne Politologen zu Wort kommen. Ihnen wird oft eine Expertenüberlegenheit unterstellt – unabhängig, ob da politische Erfahrung dahintersteckt oder nicht. Im Kanton Aargau war der verstorbene Milizpolitiker Max Knecht (Schneisingen/Wettingen) treffsicherer Meister im Interpretieren von Statistiken und beim politischen Kaffeesatzlesen. Seine Analysen von Wahlen und Abstimmungen hatten Orientierungswert, jenseits von Zensuren, das Abstimmungsverhalten betreffend. Als einstiges Mitglied des Aargauer Verfassungsrates und auch als CVP-Delegierter sowie Beobachter in Bundesbern lernte ich ähnliche Politfüchse kennen, und zwar aus allen Lagern.

Beim Ständemehr fällt auf, dass nach jeweils vielen Jahren bei Eintreten desselben (als krasse Ausnahme) die Verlierer zu murren pflegen.

Wer hier mangelnde Demokratie beklagt, vergisst, dass nicht bloss vor vier Jahren Donald Trump, sondern 1960 auch ein Weltpolitiker wie John F. Kennedy dank einer Minderheitsklausel, die Staaten (bei uns: Kantone) betreffend, zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Dabei machte der Gegenkandidat aber netto mehr Stimmen. Es ging nun mal um die «Vereinigung» nicht von Menschenmassen, sondern von Regionen. Wie wichtig das sein kann, zeigt zum  Beispiel der schwelende regionale Unfriede in Spanien.

Die durch mehrere Medien am vorgestrigen Sonntag (29. November) aus einer Agenturmeldung ungeprüft übernommene Behauptung, das Ständemehr sei 1848 mit Rücksicht auf die Verlierer des Sonderbundskrieges entstanden, ist so nicht haltbar. Damals wurde zum Schutz der Minderheiten zwar der Ständerat eingeführt, aber erst Ende des Jahrhunderts die Volksinitiative mit Ständemehr. Hingegen genügt beim Gesetzesreferendum das Volksmehr.

Es ging damals nicht um die Innerschweizer Kantone, sondern hauptsächlich um die «lateinische» Schweiz mit den inzwischen sechs Westschweizer Kantonen, dem Tessin und teilweise Graubünden, macht acht Einheiten.

Dieselben können nicht generell als «links» oder «rechts», städtisch oder ländlich, grün oder weniger grün, abgetan werden. Bei Vorlagen mit mehr Bundeskompetenzen standen früher diesbezüglich empfindliche Minderheitenkantone zusammen. Zuzugeben ist, dass die Westschweiz heute stärker als früher mehr Staatskompetenz befürwortet.

Die Meinung von Politologen mit «-ic» im Namen, das Ständemehr verstosse gegen das Demokratieprinzip, kommt mir angesichts des Zerfalls des jugoslawischen Vielvölkerstaates mit serbischem und/oder kroatischem Übergewicht nicht nur als inkompetent, sondern schon fast als Hohn auf die Schweiz vor.

Hier muss ich auch mal Herrn Köppel recht geben, weil wir diesbezüglich bei Kritikern, die Kenner jener Region sind, mahnen müssen, dass in der Schweiz die Kantone keine Kleinigkeit sind. Bei einem Vortrag über das schweizerische System vor Lehrerinnen und Lehrern aus Kroatien und Slowenien erlaubte ich mir vor Jahren die Scherzfrage: Wissen Sie, wie in der Schweiz – im Gegensatz zu Frankreich – die Kinder gemacht werden? In Frankreich zwar «par l’amour», anderswo durch In-vitro-Fertilisation; aber für die Schweizerinnen und Schweizer gelte nun mal: «Das ist von Kanton zu Kanton verschieden.»

Wir sind weder Jugoslawien noch die UdSSR. Minderheitenschutz betrifft nicht nur sexuelle Orientierungen. Objektiv wichtiger ist der Ausgleich unter den Regionen und auch das seit 500 Jahren heikle Verhältnis zwischen Stadt und Land. Zur Zeit von Bruder Klaus führte dieser heute natürlich anders gelagerte, aber noch immer existierende Gegensatz beinahe zu einem Bruderkrieg.

Selber gehörte ich dem bürgerlichen Ja-Komitee für die «Konzernverantwortungs-Initiative» an. In selbigem sind die wenigsten Vertreter ländlicher Kantone über ihren Namen hinaus aktiv geworden. Die Grundlagen des nationalen Zusammenhalts, bei dem Ausgleich wichtiger ist als plattes Überstimmen, haben mit dem Gedanken des inneren Friedens zu tun. Dabei war der Ständerat noch vor wenigen Jahren im Abstimmungsverhalten «linker» als der Nationalrat. Dass es heute umgekehrt ist, gehört mit zum ausgleichenden Hin und Her in der Schweizer Politik.

Als Historiker, Staatskundelehrer und ehemaliger aargauischer Verfassungsrat mit Schwerpunkt Verfassungsgeschichte erhebe ich mit anderen Schweizerinnen und Schweizern den Anspruch, unsere Politik genauso gut zu verstehen wie jeder Politologe.

Diese Eigenschaft würde ich einer grossen Zahl von Mitbürgern in unseren Kantonen ebenfalls zusprechen. Nicht zuletzt vielen, die sich zum Beispiel auf lu-wahlen.ch als Kolumnisten betätigt haben. Auch solchen, die nicht gerade meiner Meinung sind.

Natürlich war das Ständemehr seit seiner Entstehung umstritten. Aber wissen Sie, was zu dessen Abschaffung nötig wäre?  Das Ständemehr!

Dr. phil. Pirmin Meier, Historiker, Aesch (LU)

Siehe auch unter «Links», «In Verbindung stehende Artikel» und «Dateien».


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Über Pirmin Meier:

Dr. phil. Pirmin Meier (1947), aufgewachsen in Würenlingen AG und wohnhaft in Aesch, langjähriger Gymnasiallehrer in Beromünster, war zunächst als Journalist und Herausgeber von Büchern (unter anderem bei Suhrkamp-Insel) tätig, später mehrere Jahrzehnte als Gymnasiallehrer (Beromünster) und Lehrerfortbildner. 

Seine Biographien über Paracelsus (6. Auflage im Jahr 2013), Bruder Klaus (3. Auflage in Vorbereitung) sowie Heinrich Federer und Micheli du Crest gelten als epochal und wurden unter anderem mit dem Innerschweizer und dem Aargauer Literaturpreis ausgezeichnet. Zu den Themen, die mit der Innerschweiz zu tun haben, gehören bei Pirmin Meier das Buch «Landschaft der Pilger», unter anderem mit der Beschreibung der Schattigen Fasnacht in Erstfeld und einer ersten Studie über den heiligen Gotthard. Ausserdem setzte er sich mit der Biographie von Pater Alberich Zwyssig – von ihm stammt der Text des «Schweizerpsalms», der Schweizer Nationalhymne – auseinander, eingegangen in das Buch über Wettingen «Eduard Spörri, ein alter Meister aus dem Aargau».  

Stark beachtet, mit rund drei Dutzend öffentlicher Lesungen seit dem Erscheinen, etwa in Altdorf und im Bahnhofbuffet Göschenen, wurde die mit grossem Aufwand betriebene Neufassung des berühmten Jugendbuches «Der Schmied von Göschenen», welche Neubearbeitung erstmals die Bedeutung der Walser für die ältere Schweizer Geschichte unterstreicht.  

Pirmin Meier gehörte auch zu den geistigen Promotoren des Films «Arme Seelen» von Edwin Beeler, zu welchem Thema er sich im Sommer 2012 in einer ganzstündigen Sendung «Sternstunde Religion» auf SRF ausgelassen hat. Er lebt in Rickenbach bei Beromünster, arbeitet derzeit an einem Grossprojekt über Schweizer Mystik und schrieb auch den Text für das Oratorium Vesper von Heiligkreuz mit Musik von Carl Rütti.

Am 7. September 2013 hielt Dr. Pirmin Meier auf der Rigi die Jubiläumsansprache zum Jubiläum 70 Jahre Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein ISSV. Für sein Buch «St. Gotthard und der Schmied von Göschenen» machte er bedeutende, für die Geschichte der alten Wege einmalige Recherchen über die alten Wege vor 1231, auch zusammen mit dem Historiker Dr. Hans Stadler-Planzer.

In beratender Funktion ist Pirmin Meier tätig für das Filmprojekt «Paracelsus - Ein Landschaftsessay» des in Root (LU) wirkenden Filmunternehmers und Regisseurs Erich Langjahr, wie Pirmin Meier Innerschweizer Kulturpreisträger.

Mehr über Pirmin Meier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pirmin_Meier

Pirmin Meier erhält Innerschweizer Kulturpreis 2008:
https://kultur.lu.ch/-/media/Kultur/Dokumente/preise_auszeichnungen/meier2008.pdf