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Kolumne von Pirmin Meier

14.01.2014

Umfragen sind ohne prognostischen Wert - eine Warnung zum 9. Februar 2014

Weniger die Veröffentlichung als die optimistische Fehlinterpretation von Meinungsumfragen kurz vor Eidgenössischen Volksabstimmungen ist verantwortungslos.


55 Prozent Nein gegen 37 Prozent Ja bei der SVP-Initiative «gegen Masseneinwanderung» bei 1200 Befragten sechs Wochen vor der Abstimmung (am 9. Februar 2014) entsprechen fast genau den seinerzeitigen 53 Prozent Nein gegen 35 Prozent Ja bei der Minarett-Initiative, ebenfalls sechs Wochen vor der Abstimmung. Tatsächlich jedoch erreichte diese Initiative einen zur Konsternation führenden Ja-Anteil von 57, 5 Prozent. Bei der Autobahnvignette wurden 53 Prozent Ja prognostiziert, es gab aber effektiv 60 Prozent Nein.

Einigermassen sicher lässt sich nun bei der SVP-Initiative «gegen Masseneinwanderung» vielleicht ein Ja im Tessin voraussagen und Nein in der Westschweiz. Dabei ist aber die überwältigende Mehrheit der Ja-Stimmen bei den online-Foren trügerisch, weil newsnet.ch, wie nicht nur der politisch erfahrene Kollege Peter Beutler gemerkt hat, rechtsunterwandert sein könnte und weil die mit dem Bundesrat Zufriedenen, die mögliche «schweigende Mehrheit», still bleiben. Hingegen neigen männliche Bewohner ländlicher und gebirgiger Gegenden der Deutschschweiz wie vor allem auch Stellensuchende zu einem Ja. 

Umfragen sind für viele Auftraggeber durchaus brauchbar. Sie dienen dem Zweck siegreichen Bestehens von Abstimmungen, nicht dem Zweck der Wahrheitsfindung. Man will wissen, ob sich das Ausgeben von Geld für eine Kampagne überhaupt lohnen könnte.

Dafür sind Umfragen bei 800 bis 1200 «repräsentativ» Ausgewählten allenfalls nützlich. Die bisherigen Umfragen erlauben bestenfalls für die Westschweiz die Voraussage eines ziemlich sicheren Neins.

Ohne politische Erfahrung, historische Hintergründe und genaue Kenntnisse der Mentalität in den Regionen zieht man aus Umfragen ohnehin die falschen Rückschlüsse. Beispielsweise ist es nicht richtig, Abstimmungsresultate zu Migrationsfragen mit einem Gradmesser für Fremdenhass gleichzusetzen.

Die Überraschung bei der Schwarzenbach-Initiative vom 7. Juni 1970 lag darin, dass die Sonderbundskantone einschliesslich Freiburg und dem Oberwallis sowie die Acht Alten Orte der Eidgenossenschaft sozusagen exklusiv Ja gestimmt haben. Hier wirkte ein historischer Reflex nach, ein Identitätsbewusstsein, was nicht auf spezielle Antipathie gegenüber Gastarbeitern rückschliessen liess. Andererseits stimmten Basel-Stadt und Genf immerhin auch um die 40 Prozent für die schliesslich nur knapp verworfene Überfremdungsinitiative, was in so «weltaufgeschlossenen» Städten niemand vermutet hätte. 

Die Initiative von 1970, eine Reaktion auf die unglaubliche Masseneinwanderung vor allem in den Jahren 1961 bis 1963, wäre mutmasslich angenommen worden, hätte nicht der damals sehr besonnene Aargauer Bundesrat und Volkswirtschaftsminister Hans Schaffner (FDP) veranlasst, ab 1965 die in der heutigen Diskussion umstrittenen Gastarbeiterkontingente massiv herunterzufahren. In den Siebziger Jahren engagierte sich auch CVP-Staatsmann Kurt Furgler für die vom Bundesrat versprochene Stabilisierung der Einwanderung. Es gelang ihm umso eher, als bei der Rezession ab etwa 1973 rund 300 000 Gastarbeitende auch ohne Annahme einer der klar über das Ziel hinaus schiessenden Überfremdungsintiativen die Schweiz verlassen mussten. 

Es gab damals kaum eine funktionierende Arbeitslosenversicherung, weil man dies zur Zeit der Hochkonjunktur für überflüssig erachtete. Auch hatten wir damals noch die von Christian Levrat gegen Toni Brunner dieser Tage mit Recht kritisierte «Baracken-Schweiz». Deren Wiedererrichtung wäre nicht auf das Abstimmungsresultat vom 9. Februar 2014 angewiesen: Niemand hindert im heutigen System einen in- oder ausländischen Bauunternehmer, für ein Grossprojekt möglichst billige Arbeiter etwa aus Polen oder Ostdeutschland für einen vorübergehenden Aufenthalt in die Schweiz zu ziehen. Um Geld zu sparen, wäre dies auch in Baracken möglich, und im Fall von Nichtweiterbeschäftigung könnten diese Zuwanderer im Gegensatz zu 1974 in der Schweiz bleiben.  

Von da her gesehen wäre – im Fall einer Annahme der Initiative «gegen Masseneinwanderung», falls die Bürokratie mit den Kontingenten nötig würde – die Sache mit den flankierenden Massnahmen nicht gestorben, sondern sie würde im Sinne einer gerechten Ordnung erst recht zu einer Notwendigkeit werden. Eine der wichtigsten Massnahmen zum Schutze der Arbeitnehmer wäre wohl die Aufhebung der Personenfreizügigkeit, welche zu den vier Bestandteile des kapitalistischen Glaubensbekenntnisses gezählt wird. 

Zu dieser Einsicht ist nicht erst neuerdings der Gründer der «Erklärung von Bern», der ehemalige Preisüberwacher und SP-Nationalrat Rudolf H. Strahm, gekommen. In der Westschweiz fällt auf, dass die radikale Linke, nämlich die PdA – ähnlich wie in Deutschland Sarah Wagenknecht – nicht an die Personenfreizügigkeit glaubt und sich deshalb im Zusammenhang mit der nun anstehenden SVP-Initiative erstaunlich ruhig verhält. Die Schweizer Kommunisten haben sich voriges Jahr als Gegner des Söldnerwesens sogar zur Wehrpflicht bekannt und loben derzeit auf ihrer Internetplattform Papst Franziskus wegen seiner Kritik am Kapitalismus.

Wie unzuverlässig die neuesten demoskopischen Zahlen zur SVP-Initiative «gegen Masseneinwanderung» einzuschätzen sind, belegt die Differenz von nur 2 Prozent mehr Zustimmung als die Zustimmung zur chancenlosen Initiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache» aus Kreisen frommer Katholiken und fundamentalistischer Protestanten.

Dass es diese Initiative immerhin auf 35 Prozent bringt – die stolze Ehrenmeldung der Linken für ihr «1:12»-Projekt – ist nämlich unwahrscheinlich. Und statt 37 Prozent für die SVP-Initiative tippt der erfahrene frühere Luzerner SP-Grossrat Peter Beutler wohl mit Recht eher auf 45 Prozent. Meine eigene Prognose bewegt sich zwischen 44 und 52 Prozent, mit Schwerpunkt auf eine Ablehnung, weil die Diskussion in der Westschweiz, wo man keineswegs «ausländerfreundlicher» ist, anders läuft.

Im Kanton Luzern rechne ich mit einer knappen Annahme, sofern die Stadt die auf dem Lande vorherrschende Mentalität nicht überkompensiert.

Dass entgegen der Lufthoheit der Befürworter an den ländlichen Stammtischen und bei den Blogs zumal in der mutmasslich zustimmenden Innerschweiz die Gegner wenig tun, erkläre ich unter anderem mit dem Hinschied von Otto Ineichen, der sich jederzeit bereit fand, wieder mal die Schweiz zu retten. 

Der Unterschied zwischen der CVP und der Linken liegt im Bereich der Gesinnung. Linke kämpfen auch für ein Anliegen, wenn es – wie etwa bei «1:12» – aussichtslos ist. Sie werden sich sogar für das bedingungslose Grundeinkommen, für einen liberalen Deutschschweizer Chrampfer das Letzte schlechthin, stark machen. Im Bundesrat ging noch vor weniger als 30 Jahren Kurt Furgler wegen der Abtreibungsfrage in den Ausstand. Die CVP wurde unter Christophe Darbellay vor allem darauf stolz, gerne das zu vertreten, was ohnehin durchkommt. Zu meiner Zeit als Eidgenössischer Delegierter in dieser Partei (1983 - 1993) wurden ethische Fragen zwar auch schon kontrovers, aber ernsthaft, gründlich und sogar leidenschaftlich diskutiert. Judith Stamm zum Beispiel war gleichzeitig hoch angesehen und umstritten. Andererseits wurde mit Pius Segmüller der letzte bekennend papsttreue Katholik 2011 aus dem Nationalrat abgewählt.

Sowohl Fragen der Migration wie auch ethische Fragen um Leben und Tod sind für den Stimmbürger und die Stimmbürgerin letztlich Gewissensfragen und nicht bloss ein Problem der Statistik. Eine Stimmbeteiligung von ausnahmsweise wieder mal über 60 Prozent, also weit mehr als bei eidgenössischen und kantonalen Wahlen, wäre wünschbar.

Pirmin Meier, Rickenbach  


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Über Pirmin Meier:

Dr. phil. Pirmin Meier (1947), aufgewachsen in Würenlingen AG und wohnhaft in Aesch, langjähriger Gymnasiallehrer in Beromünster, war zunächst als Journalist und Herausgeber von Büchern (unter anderem bei Suhrkamp-Insel) tätig, später mehrere Jahrzehnte als Gymnasiallehrer (Beromünster) und Lehrerfortbildner. 

Seine Biographien über Paracelsus (6. Auflage im Jahr 2013), Bruder Klaus (3. Auflage in Vorbereitung) sowie Heinrich Federer und Micheli du Crest gelten als epochal und wurden unter anderem mit dem Innerschweizer und dem Aargauer Literaturpreis ausgezeichnet. Zu den Themen, die mit der Innerschweiz zu tun haben, gehören bei Pirmin Meier das Buch «Landschaft der Pilger», unter anderem mit der Beschreibung der Schattigen Fasnacht in Erstfeld und einer ersten Studie über den heiligen Gotthard. Ausserdem setzte er sich mit der Biographie von Pater Alberich Zwyssig – von ihm stammt der Text des «Schweizerpsalms», der Schweizer Nationalhymne – auseinander, eingegangen in das Buch über Wettingen «Eduard Spörri, ein alter Meister aus dem Aargau».  

Stark beachtet, mit rund drei Dutzend öffentlicher Lesungen seit dem Erscheinen, etwa in Altdorf und im Bahnhofbuffet Göschenen, wurde die mit grossem Aufwand betriebene Neufassung des berühmten Jugendbuches «Der Schmied von Göschenen», welche Neubearbeitung erstmals die Bedeutung der Walser für die ältere Schweizer Geschichte unterstreicht.  

Pirmin Meier gehörte auch zu den geistigen Promotoren des Films «Arme Seelen» von Edwin Beeler, zu welchem Thema er sich im Sommer 2012 in einer ganzstündigen Sendung «Sternstunde Religion» auf SRF ausgelassen hat. Er lebt in Rickenbach bei Beromünster, arbeitet derzeit an einem Grossprojekt über Schweizer Mystik und schrieb auch den Text für das Oratorium Vesper von Heiligkreuz mit Musik von Carl Rütti.

Am 7. September 2013 hielt Dr. Pirmin Meier auf der Rigi die Jubiläumsansprache zum Jubiläum 70 Jahre Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein ISSV. Für sein Buch «St. Gotthard und der Schmied von Göschenen» machte er bedeutende, für die Geschichte der alten Wege einmalige Recherchen über die alten Wege vor 1231, auch zusammen mit dem Historiker Dr. Hans Stadler-Planzer.

In beratender Funktion ist Pirmin Meier tätig für das Filmprojekt «Paracelsus - Ein Landschaftsessay» des in Root (LU) wirkenden Filmunternehmers und Regisseurs Erich Langjahr, wie Pirmin Meier Innerschweizer Kulturpreisträger.

Mehr über Pirmin Meier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pirmin_Meier

Pirmin Meier erhält Innerschweizer Kulturpreis 2008:
https://kultur.lu.ch/-/media/Kultur/Dokumente/preise_auszeichnungen/meier2008.pdf