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Kolumne von Pirmin Meier

04.01.2014

Die Schweiz steht 2014 vor einem Orientierungsproblem

Eine politische Januarbetrachtung zum Dilemma der Einwanderungsinitiativen.


Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger stehen im Jahre 2014 vor Entscheidungen, welche auch gutinformierten Zeitgenossen Knacknüsse aufgeben. So hat die Neujahrsansprache des Bundespräsidenten, deren Hauptaussage auf jedem zweiten Franken lag, der via Export verdient würde, die Menschen nicht bei ihren derzeitigen Sorgen und Nöten abholen können. Dabei scheinen aus europäischer Perspektive die derzeitigen Schweizer Sorgen Luxusprobleme zu sein, befinden wir uns doch in einer Phase konjunkturellen Aufschwungs. Besonders gut und sehr gut Verdienende machen, im Gegensatz zu Otto Normalverbraucher, mehr Geld als bisher schon. Gebaut wird derzeit in einem Ausmass wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Mit zu den Wachstumsbranchen gehört der öffentliche Sektor, zum Beispiel die Sozialarbeit, welche sich selber nach dem Zeugnis ihres Verbandes AvenirSocial in dynamischem Wachstum befindet und drauf und dran ist, Armee und Landwirtschaft  in ihrer staatstragenden Bedeutung einzuholen, im fortlaufenden  21. Jahrhundert sogar zu überflügeln. 

Im Hinblick auf die Zukunft der Bildung in unserem Land ist interessant, dass ein junger Krimineller monatlich ohne weiteres drei- bis viermal so viel kostet wie ein Lehrer oder eine Lehrerin, wiewohl die Schweiz, zumal aber der Kanton Zürich, über die bestbezahlten Lehrkräfte der Welt verfügt.

Dasselbe gilt auch für die Geistlichen. Papst Franziskus verdiente als Erzbischof von Buenos Aires weniger als einen Viertel eines Schweizer Seelsorgers oder einer Seelsorgerin. Es geht uns also gut, und mit Ausnahme der jugendlichen Arbeitslosen, deren Anzahl für unsere Verhältnisse einen Rekord erreicht hat, scheint auch für die meisten mehr als genug Arbeit vorhanden zu sein.

Obwohl die Schweiz bei den neusten Pisa-Studien gut abgeschnitten hat, was unseren Schulen ein positives Zeugnis ausstellt, scheint es an allen Ecken und Enden an hochqualifizierten Arbeitskräften zu mangeln. Dies auch deshalb, weil unter den je 80 000 Einwandern jährlich weniger als 200 Informatikingenieure gezählt werden und auch nur wenige hundert Ärztinnen und Ärzte, die aber dann nichtsdestotrotz die Krankenkassen belasten. In Deutschland klagt man derzeit über die ab dem 1. Januar geltende Personenfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien, von welcher angeblichen Misere die bayrische Christlichsoziale Union, besonders die Fahrenden betreffend, eine Masseneinwanderung ins Sozialsystem Hartz-IV befürchtet. 

Deutschlandkorrespondent Fritz Dinkelmann  verwies im «Echo der Zeit» (am gestrigen 3. Januar 2014) darauf, dass aus Bulgarien und Rumänien nicht nur Sinti und Roma, sondern auch Informatiker, Techniker, Ärzte und Krankenpflegerinnen jetzt legal nach Deutschland zur Arbeit reisen können. Ist das ein Fortschritt?  Der Publizist Henrik M. Broder mahnte jedoch, dass mit jeder hochqualifizierten und gut ausgebildeten Arbeitskraft aus diesen Ländern, die Chance, dass Rumänien und Bulgarien je durchschnittliches EU-Niveau erreichen können, wieder ein Stück weit reduziert wird. Der Grenzwert geht gegen Null. Es wird also sowohl mit den Wanderungsbewegungen wie auch mit der Verelendung der ärmeren europäischen Staaten weiter gehen wie bisher. Während man rituell von Sparhysterie faselt, werden die Probleme mit zusätzlichen Schulden gelöst.  Zu den vergleichsweise nachhaltigsten Sparmassnahmen gehört nicht nur in den USA die Verlangsamung der Erhöhung der Verschuldung.    

Sollte die Ukraine den Beitritt in die Europäische Union schaffen, hätten auch die Hochqualifizierten dieser ehemaligen Sowjetrepublik noch bessere Chancen, bei uns Arbeit zu finden.

Zu kommunistischer Zeit war die Ausreise besonders von Gebildeten deswegen unerwünscht, weil der Staat viel in deren Ausbildung investiert hatte. Dies führte zum berüchtigten «Eisernen Vorhang», dem ausser einigen deutschen Linken kaum jemand nachtrauert. Als Lehrer der Logik habe ich jeweils die Schüler darauf aufmerksam gemacht, dass das Gegenteil des Falschen nicht das Richtige garantiert. Nach den tyrannischen Reisebeschränkungen des Kommunismus ist die kapitalistische rücksichtslose Personenfreizügigkeit offenbar auch nicht das, worauf viele gewartet hätten.

Dass auch ohne Personenfreizügigkeit für Kroatien, Rumänien, Bulgarien - zu schweigen von den Kandidaten Serbien und Ukraine - im Oktober 2013 in die Schweiz ein Einwanderungsüberschuss von 12 000 Personen zu verzeichnen war, ist mutmasslich mehr als der gewöhnliche Bürger zu verkraften vermag. 

Kommt dazu, dass wie der Ökonom und frühere Preisüberwacher Rudolf H. Strahm betonte, bei unserem Bildungssystem etwas massiv nicht stimmen kann, wenn es mit der Ausbildung von Leuten, die man als Hochqualifizierte gebrauchen kann, massiv nicht klappt, zu schweigen vom offensichtlichen Überhang der Einwanderung von wenig Qualifizierten und Armen. Im Gegensatz zu den hochmobilen Global Playern sind wenig Qualifizierte und Arme auch eher geneigt, ihre noch traditionelle Familie samt Grosseltern und weiteren Verwandten in die Schweiz oder nach Deutschland nachzuziehen. Für diese unangenehmen Wahrheiten wurde der SP-Politiker Strahm vom ehemaligen Parteipräsidenten Peter Bodenmann als Produzent einer «fremdenfeindlichen Schallplatte» in die Pfanne gehauen. Desgleichen Philipp Müller und Christoph Darbellay, die sich ohne Rücksicht auf Wählerverluste gegen die Masseneinwanderungsinitiative der SVP engagieren. «Sie alle sind gegen eine lebendige, offene und urbane 11-Millionen-Schweiz», schimpfte der Walliser Hotelier in der «Weltwoche» vom 3. Januar 2014.

1970 sprachen Ortsplaner von einem «Endausbau» des damals 20 000 Seelen zählenden Lägerndorfes Wettingen auf 80 000 Einwohner. Derlei Wahnvorstellungen waren nichts als Werbung für die damals nur knapp abgelehnte Schwarzenbach-Initiative, gemäss welcher einige hunderttausend Gastarbeitende die Schweiz hätten verlassen müssen.

Diese Perspektive ist bei der Masseneinwanderungsinitiative, worüber am 9. Februar abgestimmt wird, nicht gegeben. Abgesehen vielleicht von Asylbewerbern, die aber in der Regel doch nicht ausgeschafft werden,  muss kein Ausländer die Schweiz verlassen. Die Vermischung des Asylproblems mit dem Problem der Arbeitsuchenden und des Familiennachzuges ist aber doch ein Argument für die Ablehnung der Initiative.

Weniger die Sache mit den Kontingenten, ohne die eine Regulierung der Einwanderung so oder so nicht machbar ist. Kontingente bedeuten für sich genommen keine Rückkehr zur unseligen Barackenschweiz von vor 60 Jahren. Mit Baracken könnten, wenn schon, bereits jetzt Billigstarbeitskräfte für Billigbauten in die Schweiz gelockt werden. Dagegen kämpfen Gewerkschafter zurecht.  Aber griffige flankierende Massnahmen erfordern eine derart umfassende Bürokratie, dass es mit Kontingenten im gleichen Zug ginge.

Die Gefahr, dass sich die Schweiz bei einem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative abschotten könnte, gilt nur politisch, sicher aber nicht den Arbeitsmarkt betreffend. Die wahre Gefahr bei der SVP-Initiative liegt darin, dass es sich um eine Mogelpackung handeln könnte, also ein Mittel, mit dem das umstrittene Problem der Masseneinwanderung gerade nicht gelöst, dafür jedoch der Fortgang des Lohndumpings perpetuiert wird. Allerdings droht bei Nichtstun von Bundesrat und Parlament die baldige Annahme der Ecopop-Initiative, welche wie die früheren Überfremdungsinitiativen eine zahlenmässige Begrenzung der Einwanderung fordert. 

Über alles gesehen sind die Einwanderungsinitiativen in den Detailbestimmungen unbefriedigend. Auch mit einem Nein gegen die Personenfreizügigkeit gegenüber Kroatien wird das wahre Problem, die unbegrenzte masslose  Personenfreizügigkeit gegenüber einer wachsenden EU, nicht gelöst. Noch schlimmer aber im Hinblick auf eine kaputte «Elfmillionenschweiz» mit massivem Verarmungs- und Verschandelungspotenzial wäre es, die Wahnvorstellung des exzessiven Kapital-, Güter- und Personenverkehrs auf Dauer zu akzeptieren.  

Die Schweiz hatte in den beiden letzten Jahren den höchsten Energieverbrauch ihrer Geschichte. Der Atomausstieg in vielleicht 40 Jahren und der Traum von einer 2000-Watt-Gesellschaft genügen nicht. Die Notbremse wird  bei einer der drei bevorstehenden Abstimmungen zur Personenfreizügigkeit  gezogen werden.

Das ist trotz unbefriedigender Vorschläge nicht schlechter, eher besser als die gegenwärtige Politik. Für ein richtungsweisendes Resultat schon am 9. Februar ist es wohl noch zu früh. Es muss, wie Bayerns Franz Joseph Strauss sich mal ausdrückte, «noch schlimmer kommen, bis sich etwas ändert».

Pirmin Meier, Rickenbach  


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Über Pirmin Meier:

Dr. phil. Pirmin Meier (1947), aufgewachsen in Würenlingen AG und wohnhaft in Aesch, langjähriger Gymnasiallehrer in Beromünster, war zunächst als Journalist und Herausgeber von Büchern (unter anderem bei Suhrkamp-Insel) tätig, später mehrere Jahrzehnte als Gymnasiallehrer (Beromünster) und Lehrerfortbildner. 

Seine Biographien über Paracelsus (6. Auflage im Jahr 2013), Bruder Klaus (3. Auflage in Vorbereitung) sowie Heinrich Federer und Micheli du Crest gelten als epochal und wurden unter anderem mit dem Innerschweizer und dem Aargauer Literaturpreis ausgezeichnet. Zu den Themen, die mit der Innerschweiz zu tun haben, gehören bei Pirmin Meier das Buch «Landschaft der Pilger», unter anderem mit der Beschreibung der Schattigen Fasnacht in Erstfeld und einer ersten Studie über den heiligen Gotthard. Ausserdem setzte er sich mit der Biographie von Pater Alberich Zwyssig – von ihm stammt der Text des «Schweizerpsalms», der Schweizer Nationalhymne – auseinander, eingegangen in das Buch über Wettingen «Eduard Spörri, ein alter Meister aus dem Aargau».  

Stark beachtet, mit rund drei Dutzend öffentlicher Lesungen seit dem Erscheinen, etwa in Altdorf und im Bahnhofbuffet Göschenen, wurde die mit grossem Aufwand betriebene Neufassung des berühmten Jugendbuches «Der Schmied von Göschenen», welche Neubearbeitung erstmals die Bedeutung der Walser für die ältere Schweizer Geschichte unterstreicht.  

Pirmin Meier gehörte auch zu den geistigen Promotoren des Films «Arme Seelen» von Edwin Beeler, zu welchem Thema er sich im Sommer 2012 in einer ganzstündigen Sendung «Sternstunde Religion» auf SRF ausgelassen hat. Er lebt in Rickenbach bei Beromünster, arbeitet derzeit an einem Grossprojekt über Schweizer Mystik und schrieb auch den Text für das Oratorium Vesper von Heiligkreuz mit Musik von Carl Rütti.

Am 7. September 2013 hielt Dr. Pirmin Meier auf der Rigi die Jubiläumsansprache zum Jubiläum 70 Jahre Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein ISSV. Für sein Buch «St. Gotthard und der Schmied von Göschenen» machte er bedeutende, für die Geschichte der alten Wege einmalige Recherchen über die alten Wege vor 1231, auch zusammen mit dem Historiker Dr. Hans Stadler-Planzer.

In beratender Funktion ist Pirmin Meier tätig für das Filmprojekt «Paracelsus - Ein Landschaftsessay» des in Root (LU) wirkenden Filmunternehmers und Regisseurs Erich Langjahr, wie Pirmin Meier Innerschweizer Kulturpreisträger.

Mehr über Pirmin Meier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pirmin_Meier

Pirmin Meier erhält Innerschweizer Kulturpreis 2008:
https://kultur.lu.ch/-/media/Kultur/Dokumente/preise_auszeichnungen/meier2008.pdf