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Kolumne von Pirmin Meier

26.03.2013

Politik, Lyrik und die Gefahr verbaler Entgleisungen

Der Historiker und Schriftsteller Pirmin Meier zum Gedicht, das Oskar Freysinger 2002 schweizweit in Verruf gebracht hat.


In den Jahren um 1848 gab es kaum einen führenden Schweizer Politiker, der nicht dichtete. Angefangen bei Jakob Robert Steiger, dem Erz-Liberalen, weitergefahren mit Johann Nepomuk Schleuniger, dem Konservativen mit leider antisemitischen Entgleisungen, bis zum Kloster-Aufheber Augustin Keller. 

Im 20. Jahrhundert publizierte der Landesring-Nationalrat und TAT-Chefredaktor Erwin Jaeckle (1909 - 1997) sogar an die vier Dutzend Gedichtbände auf beträchtlichem formalem Niveau. 

Der ausdauerndste Polit-Poet in der Geschichte der Schweiz war wohl Friedrich Dürrenmatts Grossvater Uli Dürrenmatt, Redaktor der «Buchsi-Zitig» und wohl einer der ersten rechtspopulistischen Publizisten der Schweiz. Zu den poetisch engagierten Rechtspopulisten gehörte später James Schwarzenbach, der Cousin der genialischen Linken Annemarie Schwarzenbach, die sich aber – abgesehen von politisch naiven Reportagen über die Diktatoren Stalin und Salazar (beide kamen bei ihr sehr gut weg) – in ihren Hauptwerken kaum politisch geäussert hat.

Was nun den mittlerweile zum Walliser Staatsrat aufgestiegenen Polit-Poeten Oskar Freysinger betrifft, so musste dieser den wohl in der Schweizer Literaturgeschichte schlechtesten literarischen Start aller Zeiten verdauen, was ihm auch politisch lange sehr in die Quere kam. 

Die entsprechende Geschmacksverirrung mit dem Reim «Fuzzi» auf «Bortoluzzi» vor etwa einem Dutzend Jahren musste er teuer bezahlen (siehe unter «Dateien»: Das Freysinger-Gedicht im Wortlaut). Von einer «Schande» für das Wallis sprach seinerzeit der nunmehrige Regierungskollege von Freysinger und Ex-YB-Kicker Jean-Michel Cina. Ausserdem wurde der Rossschwanz-Poet für diese seine Verirrung, die er vorige Woche am Radio immer noch nach dem Motto «Satire darf alles» verteidigen zu müssen glaubte, vor etwa zehn Jahren demonstrativ nicht in den Verband der Schweizer Autoren aufgenommen. Aus diesem Grund gehört Freysinger heute dem serbischen Schriftstellerverband an. 

Freysingers leider im Vergleich zu brauchbaren Texten bekanntestes Machwerk ist indes schlechtestenfalls das zweitschlechteste Gedicht der neueren Schweizer Literatur überhaupt. 

Das schlechteste begann mit den Worten «Jesus Christus war kein Heiliger, sondern ein dreckiger kleiner Bösewicht, der kleine Mädchen in den Arsch fickte». Für dieses Gedicht eines Luzerner Autors – den  Gottseidank niemand mehr kennt und dessen Leistungsausweis auch bei Null geblieben ist – gab es eine Prämie von 3000 Franken aus Luzerner Steuergeldern, zugesprochen von der bekannten Literaturkritikerin, Links-Katholikin und DDR-Verteidigerin Klara Obermüller. 

Die damalige Jurypräsidentin hat aber trotz ihres anderweitigen Kampfes gegen «Vorurteile» betreffs Berliner Mauer in ihrem Leben nicht nur Stuss gemacht, sondern zum Beispiel mal ein schönes Hörspiel über Dorothea von Flüe getextet. Auch besteht ihr literarischer Geschmack nicht nur aus Verirrungen. Allerdings, den Arbeiter-Schriftsteller und Parteikollegen Karl Kloter (1911 – 2002) mochte sie nicht, weswegen dann das «Jesus-Arschficker-Gedicht» statt eines Romans von Kloter prämiert wurde. Es ging auch darum, die totale «Unabhängigkeit» einer Jury gegenüber einem damals (1986) noch fast erzkatholischen Kanton (mit Walter Gut als Bildungsdirektor) zu demonstrieren.

Das drittschlechteste Gedicht der letzten 30 Jahre stammt leider weder von Freysinger noch dem von Frau Obermüller prämierten abverheiten Autor G. (sein Name tut nichts zur Sache), sondern steht leider in meinem 1984 publizierten Gedichtband «Gsottniger Werwolf». Die Schluss-Verse wurden damals von Hans Stutz in der «WOZ» zitiert und mir wurde postwendend eine perverse Phantasie bescheinigt. Beschämenderweise hat auch mal ein Schüler dieses unanständige Gedicht aus der Feder seines Lehrers sogar während meiner Abwesenheit an die Tafel geschrieben. Der Philosoph Karl Popper bezeichnete meinen Gedichtband übrigens als «Scheisse», und ich habe diesen denn auch jahrzehntelang verleugnet, bis Hugo Loetscher behauptete, dass ich ohne solche Experimente und Erfahrungen nicht der Autor geworden sei, den er schätzen könne.

Zu den Personen, die wegen deplatzierter Äusserungen auf www.lu-wahlen auch schon kritisiert worden sind, gehört der Männerpolitiker René Kuhn. Stuss bleibt Stuss und muss weder bei Freysinger noch bei Kuhn noch bei Obermüller verteidigt werden. Nur fällt auf, dass bei diesem Thema jeweils nicht mit der gleichen Elle gemessen wird. Wenn Alice Schwarzer einen triumphierenden Bravo-Text schreibt über eine Frau, die ihren Mann kastriert hat, ist das natürlich etwas anderes und kein Grund, sie als Feministin nicht ernst zu nehmen. 

Von daher gesehen dürfte man vielleicht anerkennen, dass René Kuhn mit seinen Männerkongressen – von denen ich mich an zweien beteiligt habe und wo ich sogar so gute und besonnene Leute wie Markus Theunert und Gerhard Amendt kennenlernen durfte – eben doch eine wichtige gesellschaftspolitische Idee aufgegriffen hat. Das heisst noch lange nicht, dass ich mit allem, was ein René Kuhn sagt und vertritt, einverstanden sein könnte. Aber er müsste hier nicht mehr länger wegen einer Sache, für die er gerichtlich immerhin recht bekommen hat, weiterhin diffamiert werden – besser wäre es doch, mal das Männerthema als politisches Thema aufzugreifen. 

Freysinger hat mit Klara Obermüller nebst manchmal brillanter Ausdrucksfähigkeit eine sehr hohe literarische Bildung gemeinsam und ausserdem fragwürdige Ausland-Kontakte, welche er nun halt selber verantworten muss und weswegen man kritisiert werden kann. Trotzdem ist er wahrscheinlich der mit Abstand brillanteste und «schöngeistig» am meisten gebildete Kopf nicht nur der SVP, sondern, schrecklich zu sagen, des gegenwärtigen Schweizer Bundesparlaments überhaupt. 

In einen ganz grossen Fettnapf ist neulich Freysinger getreten, als er in seinem Keller bei einer Homestory in SRF1 (24. März 2013) die alte deutsche Reichskriegsflagge präsentierte, was ihm prompt als Nazitum ausgelegt wurde. Das ist historisch und heraldisch zwar nicht einmal halb richtig. Aber es bleibt dabei, dass die Reichskriegsflagge von 1902 ganz sicher nicht ein Symbol für Freiheit und Demokratie ist, wenngleich für deutsche Konservative und Marine-Fans ein durchaus für sie teures, sogar ehrenwertes Zeichen. Mit schweizerischen Werten hat es indes nichts zu tun, das dürfte und müsste auch Freysinger eingestehen. Besser wäre es, das Moderstück in seinem Keller verrotten zu lassen. Eine Nazifahne ist es aber nicht.

Bei einer Google-Bildsuche {«Neonaziaufmärsche Flaggen») findet man die Reichskriegsflagge unter 400 Bildern gerade einmal, dieses Fahnenstück ist also für Hitlerfreunde nicht repräsentativ. Aber die Schweiz ist ein für allemal aus dem «Reich» ausgetreten, was doch für unsere Unabhängigkeit in Europa eine substanzielle Grundüberzeugung des schweizerischen Patriotismus bleibt.

Christoph Blocher, den der Erfolg Freysingers wohl etwas wurmt, könnte aber noch recht bekommen mit der Vermutung, dass der vom SVP-Alphatier unabhängige Nonkonformist Freysinger eigentlich kein Exekutiv-Politiker ist und sich auf viele Fussangeln gefasst machen muss. 

Das Wichtigste für einen Politiker oder eine Politikerin, aber auch für einen Poeten oder eine Poetin ist und bleibt, dass man nicht über sich selber stolpert. 

Pirmin Meier, Rickenbach 


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Pablo Haller aus Luzern

Mittwoch, 27.03.2013, 11:25 · Mail  Website

Könnte man an dieser Stelle noch Anschauungsbeispiele sowie den Namen des Verfassers des «Jesus Christus»–Gedichts publizieren?

Pablo Haller, Luzern

 
 
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Über Pirmin Meier:

Dr. phil. Pirmin Meier (1947), aufgewachsen in Würenlingen AG und wohnhaft in Aesch, langjähriger Gymnasiallehrer in Beromünster, war zunächst als Journalist und Herausgeber von Büchern (unter anderem bei Suhrkamp-Insel) tätig, später mehrere Jahrzehnte als Gymnasiallehrer (Beromünster) und Lehrerfortbildner. 

Seine Biographien über Paracelsus (6. Auflage im Jahr 2013), Bruder Klaus (3. Auflage in Vorbereitung) sowie Heinrich Federer und Micheli du Crest gelten als epochal und wurden unter anderem mit dem Innerschweizer und dem Aargauer Literaturpreis ausgezeichnet. Zu den Themen, die mit der Innerschweiz zu tun haben, gehören bei Pirmin Meier das Buch «Landschaft der Pilger», unter anderem mit der Beschreibung der Schattigen Fasnacht in Erstfeld und einer ersten Studie über den heiligen Gotthard. Ausserdem setzte er sich mit der Biographie von Pater Alberich Zwyssig – von ihm stammt der Text des «Schweizerpsalms», der Schweizer Nationalhymne – auseinander, eingegangen in das Buch über Wettingen «Eduard Spörri, ein alter Meister aus dem Aargau».  

Stark beachtet, mit rund drei Dutzend öffentlicher Lesungen seit dem Erscheinen, etwa in Altdorf und im Bahnhofbuffet Göschenen, wurde die mit grossem Aufwand betriebene Neufassung des berühmten Jugendbuches «Der Schmied von Göschenen», welche Neubearbeitung erstmals die Bedeutung der Walser für die ältere Schweizer Geschichte unterstreicht.  

Pirmin Meier gehörte auch zu den geistigen Promotoren des Films «Arme Seelen» von Edwin Beeler, zu welchem Thema er sich im Sommer 2012 in einer ganzstündigen Sendung «Sternstunde Religion» auf SRF ausgelassen hat. Er lebt in Rickenbach bei Beromünster, arbeitet derzeit an einem Grossprojekt über Schweizer Mystik und schrieb auch den Text für das Oratorium Vesper von Heiligkreuz mit Musik von Carl Rütti.

Am 7. September 2013 hielt Dr. Pirmin Meier auf der Rigi die Jubiläumsansprache zum Jubiläum 70 Jahre Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein ISSV. Für sein Buch «St. Gotthard und der Schmied von Göschenen» machte er bedeutende, für die Geschichte der alten Wege einmalige Recherchen über die alten Wege vor 1231, auch zusammen mit dem Historiker Dr. Hans Stadler-Planzer.

In beratender Funktion ist Pirmin Meier tätig für das Filmprojekt «Paracelsus - Ein Landschaftsessay» des in Root (LU) wirkenden Filmunternehmers und Regisseurs Erich Langjahr, wie Pirmin Meier Innerschweizer Kulturpreisträger.

Mehr über Pirmin Meier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pirmin_Meier

Pirmin Meier erhält Innerschweizer Kulturpreis 2008:
https://kultur.lu.ch/-/media/Kultur/Dokumente/preise_auszeichnungen/meier2008.pdf