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Kolumne von Samuel Kneubühler

07.04.2011

Von Hardlinern und Wendehälsen

Die Wiege der Neuen Linken war der Aufbruch von 1968. Damals entfesselte sich, was so lang gebrodelt und gekocht hatte und pflügte seine Wege durch «das System». Manche «68-er» blieben sich treu, installierten sich. Sie wirkten mit bei blossen Reformen, aber auch bei echten Veränderungen. Andere wandten sich radikal ab, kehrten den Spiess gar um. Eine Spurensuche. Und ein Ratespiel.


Umzug der UNIA im Juni 2007 auf der Luzerner Seebrücke Die Gewerkschaftsbewegung wird heute überwiegend von «68-ern» geführt.<br><br>Bilder: Herbert Fischer

Umzug der UNIA im Juni 2007 auf der Luzerner Seebrücke Die Gewerkschaftsbewegung wird heute überwiegend von «68-ern» geführt.

Bilder: Herbert Fischer

Junge Grüne demonstrieren anfangs April 2011 auf dem Luzerner Kapellplatz gegen «Fukushima». Ihre Partei hat ihre Wurzeln in der Anti-AKW-Bewegung, die ihrerseits eine Folge des Aufbruchs von 1968 ist.

Junge Grüne demonstrieren anfangs April 2011 auf dem Luzerner Kapellplatz gegen «Fukushima». Ihre Partei hat ihre Wurzeln in der Anti-AKW-Bewegung, die ihrerseits eine Folge des Aufbruchs von 1968 ist.

Als 23-Jähriger kann ich die Sechzigerjahre und ihre politischen Realitäten nur aus den Erzählungen kennen. Aber es kennen sie genügend Leute, die ich kenne und die mir darüber erzählen konnten. Denn das interessiert mich. Speziell wollte ich mehr wissen über «die 68-er».

«68» ist für manche der damaligen AktivistInnen und AkteurInnen eine «Jugendsünde» oder ein «längst abgeschlossenes Kapitel», mitunter allerdings immerhin auch eine «Lebensschulung». Das sind jene, die zu diesem Kapitel ihrer Biographie stehen und keine Mühe haben, davon unverkrampft zu berichten. Sei es nun, dass sie sich politisch mehr oder weniger verändert haben, oder mehr oder weniger noch immer kapitalismuskritisch sind. 

Eine weitere Kategorie sind die, welche den «Marsch durch die Institutionen angetreten und – auch da: mehr oder weniger – konsequent weitergeführt haben. Beispiele sind alt SP-Bundesrat Moritz Leuenberger, alt SBB-Chef Benedikt Weibel (SP), der verstorbene Solothurner SP-Ständerat Aschi Leuenberger oder der frühere Zürcher SP-Stadtpräsident Josef Estermann (übrigens in Kriens aufgewachsen). Beispiele in Luzern sind etwa Paul Huber (SP-Regierungsrat von 1987 bis 2003) und Ruedi Meier (einst POCH, dann GB, seither Grüne und Stadtrat seit 2000).

Die dritte Sorte von «68-ern» sind Leute wie Thomas Held. Sie haben ihren wilden Jahren nicht nur abgeschworen, sondern vertreten längst lautstark so ziemlich genau das Gegenteil ihrer damaligen Fundamentalpositionen. Der Zürcher Soziologe und Germanist Thomas Held war 2001 bis 2010 Chef der Denkfabrik AvenirSuisse und in dieser Rolle Mitverfasser von – gelinde gesagt – neoliberalen Positionspapieren und Strategien, ein eigentlicher Kapitalismus-Brutalo, quasi der Chef-Wendehals.

Wenden wir uns also letzterer Spezies zu und hören wir uns um, wer denn so alles von der roten Fahne der Revolution gegangen ist und zum Klassenfeind konvertiert hat, in dessen üppigem Sold gar steht; den Konvertiten also.

Da wäre mal ein heutiger Kantonsrichter der SVP. Er gehörte in Luzern Ende der Sechzigerjahre zu den lautesten Rebellen, die im Luzerner Restaurant «Fritschi» beheimatet waren. Ihn muss das Elternhaus politisch so geprägt und verbogen haben, dass er komplett vom Karren fiel. Denn sein Vater herrschte hart als katholisch-konservativer Regierungsrat über das Luzerner Erziehungswesen und sah in jedem Lehrer, der sich nicht für die Armee begeistern konnte, eine von Moskau gesteuerte Gefahr für die Jugend und den Landesfrieden. Der derart entfesselte Sohnemann gehörte zu den Drahtziehern des Luzerner Polizeikrawalls in der Nacht vom 4. zum 5. Januar 1969. Noch während seines Jurastudiums verschwand er gänzlich aus der linken Szene und zeigte sich politisch erst wieder, als er in einer SVP-Sektion ausserhalb der Stadt eine Rolle spielte. Inzwischen amtet er als Teil der «bürgerlichen Klassenjustiz» und verkörpert das «repressive System» mit.

Ein anderer jener linken Lautsprecher war nach dem Polizeikrawall vorübergehend inhaftiert wegen des Vorwurfs, Landfriedensbruch begangen und dazu angestiftet zu haben. Wie durch ein Wunder fand er allerdings wieder eine Stelle als Lehrer und bald schon präsidierte er, ebenfalls auf dem Land, eine Sektion der Liberalen Partei und kandidierte für sie als Grossrat.

Auch in der Armee gärte es, vor allem in den Rekrutenschulen, einem der Aktionsfelder der «Revolutionären Marxistischen Liga» (RML), die den Armeenachwuchs mit ihrem Kampfblatt «Maulwurf» aufzuwühlen versuchte. Was ihr aber zumindest bei einem ihrer seinerzeitigen Aktivisten nicht ganz nachhaltig gelang. Denn keine acht Jahre später stand er als Berufsmilitär gänzlich im Sold des Heeres, wo er bis zum Generalstabsobersten aufrückte. Seine politische Kehrtwende manifestiert sich heute auch in einem Parlamentsmandat auf Bundesebene, wo er selbst seiner Fraktion häufig etwas gar «hardlinerisch» auftritt und auch schon mal in eine andere Partei verwünscht worden ist. 

Aber nicht allein «68» gebar «junge Wilde», auch «80» schuf eine revolutionäre Avantgarde, eine Light-Version des Originals. Hervorgegangen aus der «68-er-Bewegung», der Anti-AKW, der Frauen- und der Friedensbewegung formierten sich in den Siebzigern die «Progressiven Organisationen der Schweiz» (POCH) und, etwas früher allerdings, eben die RML. In deren Reihen fummelte und tummelte sich ein auffällig smarter junger Mann – besondere Kennzeichen, dezentes Brillengestell, vermögendes Elternhaus –, der sich fürs Kantonsparlament nominieren liess. Auch seine Wende lohnte sich, brachte er es doch zum Mediensprecher des bürgerlichen Innenministers. Inzwischen hilft er dem Ägyptischen Grossinvestor Sami Sawiris bei der Vermarktung seiner Luxussuiten in Andermatt und befehligt ein PR-Agentur, deren Lobbying auch schon mal die eidgenössischen Flugzeugbeschaffer für ein bestimmtes Kampfflugzeug weichzuklopfen versucht. 

Auch ein heutiger FDP-Richter hat seine politischen Wurzeln bei den Klassen- und Häuserkämpfern der RML. Freilich gehörte er nie zu den wirklichen Schreihälsen, nervte dafür an der Kanti Alpenquai mit seiner Schülerzeitung Optimum den Lehrkörper und belustigte seine Mitschüler. Ganz zu schweigen von einem Luzerner Stadtrat, der zuerst in der SP herumkrabbelte, ehe er sich als Bürgerlicher verankerte. 

Die Reihe der Beispiele liesse sich fortsetzen. 

Warum das alles hier der Rede wert ist? Erstens, weil es amüsant ist und zum Rätseln animiert.

Zweitens: Weil Veränderungen im politischen Denken und Handeln, falls denn einst überhaupt vorhanden, zur Entwicklung jedes Menschen gehören.

Drittens: Weil man nicht zu laut über andere Positionen herfallen sollte, die man einst selber vertreten hatte.

Viertens: Weil Demokratie von Vielfalt lebt und niemand alleine die Wahrheit besitzt, wie es ja bekanntlich überhaupt nie nur «eine Wahrheit» gibt.

Und fünftens: Weil mich an der Politik die Auseinandersetzung mit anderen Positionen begeistert. Vor allem mit Leuten, die vor 50, 40, 30 Jahren das vertreten hatten, wofür ich mich heute engagiere, die aber genau davon nichts mehr wissen wollen.

Ich kann zwar sehr gut nachvollziehen, 

. dass man aus dem ätzenden Mief der Nachkriegsjahre ausbrechen wollte, 

. dass man sich von der Wachstumseuphorie der Hochkonjunktur nicht anfixen liess, 

. dass man sich für die brillanten Reden der Leader des Aufbruchs begeisterte,

. dass man sich aus der lustfeindlichen, eindimensionalen Gesellschaft und ihrer Fixierung auf den Kalten Krieg, namentlich auch aus der unterwürfigen Verherrlichung der USA, befreien und vor ihr fliehen wollte. 

Ich frage mich aber: Wie kann man sich denn so radikal von seinen Ideen und Idealen abwenden, dass schon wenig später das vordem so verteufelte Gegenteil gilt? Ist es allein der schnöde Mammon, der dafür fliesst und das nicht zu knapp?

Denn gerade «68» lehrt mich so vieles: 

. Kämpfen lohnt sich: wer kämpft, kann verlieren – wer nicht kämpft, hat schon verloren!

. Die Fehler von gestern sind die Probleme von heute.

. Wer gegen den Strom fliesst, sieht mehr von der Landschaft.

Diese und weitere Illusionen, ääh Visionen lasse ich mir nicht nehmen. 


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Hans Widmer aus Luzern

Sonntag, 10.04.2011, 10:51 · Mail

Diese Kolumne von Samuel Kneubühler hat Klasse: sie wird dem geschichtlichen Wesen des Menschen gerecht, ohne die Bedeutung von Engagement zu verleugnen und einer Unverbindlichkeit zu verfallen.

Hans Widmer, alt Nationalrat

 
 
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Über Samuel Kneubühler:

Samuel Kneubühler (* 1988 / Junge Grüne / Luzern) hat am 10. Januar 2011 als Kantonsrat kandidiert, ist aber nicht gewählt worden. Er hat im Herbst 2011 die Ausbildung an der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern begonnen.

Samuel Kneubühler kandidiert am 6. Mai 2012 für das Luzerner Stadtparlament.