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Kolumne von Pascal Duss

16.11.2018

100 Jahre Landesstreik – was geblieben ist

2018 ist das Jahr der grossen Jubiläen: 50 Jahre 68er-Bewegung, 100 Jahre Ende des Ersten Weltkrieges sowie des unmittelbar damit verbundenen Landesstreiks. Oder 400 Jahre seit dem Ausbruch des Dreissigjährigen Krieges. In diesen Tagen wird der Landesstreik da und dort (politisch) instrumentalisiert. Doch was bleibt wirklich von diesen historischen Grossereignissen?


Der Etablierung und Präzisierung demokratischer Rechte gingen stets wirtschaftliche und politische Umbrüche voraus. Es gibt grundsätzlich drei Varianten, wie sich solche Umbrüche manifestieren: Unterdrückung, Integration oder Revolution. 

Auch die Schweiz musste diesen Prozess durchmachen und wir dürfen uns glücklich schätzen, dass mit der Verfassung von 1848 eine Grundlage gesetzt wurde, damit wir seither frei von Bürgerkriegen leben können. Im Anschluss brauchte es aber noch zwei historische Glücksfälle der Integration.

Einerseits galt es den enormen Graben zwischen den katholisch-konservativen und eher liberal ausgerichteten Kantonen zu überwinden. Dieser Prozess wurde sinnbildlich 1891 mit der Wahl des katholisch-konservativen Josef Zemp in den Bundesrat und dem damit verbundenen grossen Schritt hin zur Integration der ehemaligen Sonderbundkantone eingeleitet – die Entwicklung sollte aber noch Jahrzehnte andauern.

Die zweite Hürde, an welcher fast alle europäischen Staaten im Anschluss gescheitert sind, war die Klärung der sozialen Frage, ohne dabei in den Abgrund eines entweder militaristischen, post-monarchistischen oder faschistischen Systems bzw. in sozialistisch-totalitäre Revolution zu geraten. Die Schweiz schaffte auch hier den Ausgleich.

Einführung des Proporz-Systems unterstützte die Integration der Arbeiterschaft

Ein Beispiel dafür, wie die Schweiz in diesen turbulenten Jahren den Mut aufbrachte, möglichst alle an den «demokratischen Tisch» zu bringen: Mit 66,8  Prozent Ja-Stimmen führte der Schweizer Souverän am 13. Oktober 1918 das Proporzsystem für die Nationalratswahlen ein. Dies, nachdem ein solches Anliegen mehrmals verworfen worden war. Nachdem einige Kantone bereits Erfahrungen mit Proporzwahlen sammeln konnten, hatten teilweise auch die Freisinnigen eingesehen, dass eine Veränderung unvermeidbar geworden war.

Dieser Systemwechsel hatte seine Vorgeschichte im ersten Weltkrieg und den damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen in der Schweiz. Zunächst ging ganz Europa von einem kurzen Krieg aus. Als sich der erste «industrialisierte Krieg» auf europäischem Boden aber in die Länge zog, waren die unmittelbaren Kriegsparteien auf die Lieferung von Waffen und Material angewiesen. Dies bescherte der Schweiz zuerst einen wirtschaftlichen Aufschwung. Doch die Kluft zwischen Arbeitern auf der einen Seite und Industriellen auf der anderen Seite wurde immer grösser. Letztere profitierten von Kriegsgewinnen enormen Ausmasses. Die Bevölkerung hingegen litt unter den Rationierungsmassnahmen und der Lebensmittelkrise. Für die Familien der mobilisierten Soldaten gab es keine Sozialhilfe. Weiter wütete die Spanische Grippe ab Juli 1918.

Es liegt auf der Hand, dass diese Verhältnisse den Klassenkampf – auch in der Schweiz – begünstigten. So gedenken wir dieser Tage des Landesstreikes vom 12. bis 14. November 1918, dem viele Demonstrationen – auch von Frauengruppen – im ganzen Land vorangingen. In den letzten Tagen floss reichlich Tinte in dieser Thematik und mancher vermeintliche Historiker, nämlich Politiker, versucht den Streik zu instrumentalisieren. Dies wird dem Stein des Anstosses der Integration der Arbeiterschaft in die politischen Prozesse der Schweiz aber in keiner Weise gerecht.

Schutz der staatlichen Ordnung dank Armee und politischer Integration

In aufrührerischer Stimmung von 1918 setzte die Schweiz, der demokratischen Gesprächskultur unseres Landes folgend, auf Interessenausgleich. So standen der Bündner Bundespräsident Felix-Louis Calonder und der Sozialistenführer Robert Grimm am Anfang noch in Verhandlungen. Die Landesregierung hatte aber die Befürchtung – teilweise berechtigt, teilweise in der von Militärs geschürten Angst –, dass in der Schweiz revolutionäre Bewegungen den Staat unterwandern könnten. Man muss diese Befürchtungen im Lichte der revolutionären Stimmung in ganz Europa sehen. Russland war von den Bolschewiken übernommen worden. In Deutschland übernahmen die Sozialisten die Regierung von Kaiser Wilhelm II.

Am Anfang verzichteten die Behörden auf die Einberufung von Truppen, da eine Grippe-Epidemie wütete. Schliesslich wurde am 6. November 1918 das Infanterie-Regiment 19 zum Ordnungsdienst in Zürich aufgeboten. Erst am 18. Januar 1919 kehrten die Entlebucher Wehrmänner nach Hause zurück, wo sie als Helden empfangen wurden. So schrieb der «Entlebucher Anzeiger»: «Ganz Zürich (die Gebändigten ausgenommen) blickt heute voller Hochachtung, voller Dank und Anerkennung auf unsere Söhne und Brüder. Wir dürfen deren stolz sein.» Beim Einsatz verloren 14 Soldaten aus dem Füs Bat 41 («Entlebucher Bataillon», das Teil des Inf Rgt 19 war) ihr Leben wegen der Grippe.

Doch bei all den berechtigten Befürchtungen, welche bis hin zur Mobilisierung von Truppen führten, hielt die Schweiz ihre Dialogbereitschaft intakt. Der Grabenkampf zwischen liberalen und konservativen, beziehungsweise protestantischen und katholischen Regionen hat die Schweiz geradezu dazu gezwungen, ihre Institutionen auf Integration auszurichten. Aus der Not wurde eine Tugend: Wir wollen kein oppositionsfreies System, sondern sind stark genug, um unsere Einheit in Vielfalt zu leben. Gerade angesichts der zunehmend populistischen und teilweise auch antidemokratischen Stimmen vor unserer Haustür: Zu dieser politischen Kultur müssen wir Sorge tragen!

Der Landesstreik ist nur die Spitze des Eisberges einer gesellschaftlichen Entwicklung, welche in der Schweiz – wie anderswo – gewaltig in die Hose hätte gehen können. Was bleibt? Nicht wenig, wenn man die 1918 gerade erst angestossenen Entwicklungen hin zur Integration der Arbeiterschaft in die demokratischen Prozesse unseres Landes beleuchtet. Ein weiterer Glücksfall in der Geschichte der noch jungen Schweiz: Sozialpartnerschaft dank Integration und Dialogbereitschaft, statt dem Drang zu Totalitarismen aufgrund der Heraufbeschwörung einer Klassengesellschaft.

Die Schweiz setzte hier im Gegensatz zum restlichen Europa beschränkt auf Repression (Unterdrückung), versuchte die staatliche Ordnung aber zu jeder Zeit aufrecht zu erhalten. Die Unzufriedenheit in breiten Bevölkerungskreisen war während und unmittelbar nach den zermürbenden Kriegsjahren verständlicherweise gross und so formierte sich die Arbeiterschaft. Dieses revolutionäre Element hätte zu einer Bedrohung des Staatsapparates werden können, wurde aber in die demokratischen Prozesse integriert und entwickelte nicht dermassen antidemokratische Tendenzen, wie anderswo.

NEIN zu politischem Extremismus – damals und heute

Es gab auf beiden Seiten des Streikes Extreme: Da war einerseits der Kommandant der Ordnungstruppen in der Stadt Zürich, der durch und durch militaristische Oberst-Divisionär Emil Sonderegger, der sich dann später in der Zwischenkriegszeit klar am rechtsextremen Rand positionierte. Auf der anderen Seite gab es ernst zu nehmende Untergruppen rund um das Oltner Komitee, welche – angespornt von der Revolution in Russland – die staatliche Grundordnung zu kippen drohte. Diese beiden Extreme nun 100 Jahre später in einer politischen Betrachtung gegeneinander auszuspielen, ist nicht zielführend. Schliesslich ebnet 1918 den Weg hin zur Konkordanz, welche mit der Aussöhnung liberaler und konservativer Kantone begonnen hat. 1929 wird Rudolf Minger Bundesrat, 1943 gelingt der SP der Einzug in die Landesregierung, nachdem sie sich zur Armee bekannt hat. Dies ausgerechnet mit Ernst Nobs, welcher 1919 von einem Militärgericht zu einer Haftstrafe verurteilt worden war, nachdem Telefongespräche von ihm mit Robert Grimm abgehört worden waren.

Der Landesstreik 1918 offenbarte ein regelrechtes Pulverfass in der Schweiz. Dieses wurde, nicht nur friedlich, aber auf Dialogbereitschaft gründend, nach und nach entschärft. Die direkte Demokratie unterstützte diese Entwicklung, wenn sie diese nicht gar überhaupt erst ermöglicht hat.

Angesichts dieser schicksalshaften Stunde befremdet es, wenn heute gewisse politische Kreise im Rausch der politischen Profilierung darauf abzielen, einen gegenrichtigen Weg einzuschlagen: Am rechten Rand üben sich selbsternannte Erlöser in der Konstruktion von Verschwörungstheorien. Am linken Ufer haben wir eine der extremsten Sozialdemokratien Europas, welche den Bezug zu ihrer Basis – der Arbeiterschaft – längst gänzlich verloren hat. Die Sozialdemokratie von Robert Grimm und Ernst Nobs ist (wieder) zu einer politischen Bewegung verkümmert, wo Staatsgläubige die Überwindung des Kapitalismus fordern und sich nicht zur bewaffneten Neutralität der Schweiz bekennen. Dies entspricht nicht dem Glücksfall einer ab 1918 zunehmend in die politischen Prozesse der Schweiz integrierten Arbeiterschaft.

Pascal Duss, Entlebuch


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Über Pascal Duss

Pascal Duss (1988) ist Bürger von Entlebuch. Er ist ein Ur-Ur-Enkel von Josef Zemp, dem ersten katholisch-konservativen Bundesrat. Nach seinem Studium an der Universität Bern (M.A. Business and Law) arbeitete er als Jurist in Bern, Luzern und Zug und war als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Zürich tätig (schweizerisches Unternehmenssteuerrecht und internationales Steuerrecht). Heute arbeitet er bei der CPH Chemie + Papier Holding AG in Perlen.

Pascal Duss war 2009 bis 2019 Präsident der FDP.Die Liberalen Entlebuch. Daneben engagiert er sich in diversen ehrenamtlichen Ämtern in seiner Heimatregion, dem Entlebuch. Im Militär ist der Hauptmann Kommandant einer Infanterie-Stabskompanie.