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Kolumne von Valentin Beck

29.03.2013

Missstände in Kinderheimen: aufgearbeitet, aber nicht abgehakt

Soeben ist der Untersuchungsbericht «Hinter Mauern» als Sammelband erschienen. Die Debatte über die jahrzehntelangen Verfehlungen und ihre Vertuschungen ist damit aber keineswegs abgeschlossen; was mich als Mitautor dieser wissenschaftlichen Studie mit Blick auf heute und die Zukunft beschäftigt.


Spätestens seit der Ausstrahlung des DOK-Filmes «Das Kinderzuchthaus» von Beat Bieri im März 2010 stösst das Schicksal ehemaliger Heimkinder im Kanton Luzern auf ein breites öffentliches Interesse (siehe dazu weiter auf dieser Seite unter «Links»). 

Die Erinnerungen der Betroffenen an ihre Zeit in den Heimen zwischen 1930 und 1970 sind häufig von Gewalt, Misshandlung und Geringschätzung geprägt. Diese Erfahrungen haben ihre Biographien oft entscheidend negativ mitgeprägt. Eigentlicher Anstoss zur Aufarbeitung der Geschehnisse gaben aber nicht etwa Medien, Wissenschaftler oder Behörden, sondern die ehemaligen Heimkinder selbst, welche ihre Stimme immer wieder – und allzu lange ungehört – zur Anklage erhoben. 

«Die Öffentlichkeit», welche durch ihre Vorverurteilungen, ihre Ignoranz, und ihren Sparwillen damals eine entscheidende Mitvoraussetzung für die Misshandlungen gewesen war und den klagenden Opfern bis vor kurzem keinen Glauben geschenkt hat, schreckte plötzlich auf: Teils in echter Bestürzung, teils sensationslüstern ausschliesslich auf die spektakulärsten Vorwürfe wie dem der fahrlässigen Tötung oder dem der folterähnlichen Strafformen fokussierend, begann sie, den ehemaligen Heimkindern zuzuhören und an ihrem Schicksal teilzuhaben. Besonders erschreckend war für Viele, in welch ungewohnter geographischer Nähe sich das Unbegreifliche zugetragen hatte.

Mit der spät entfachten Empörung wuchs auch der Druck auf Institutionen, welche die früheren Kinderheime mitverantwortet hatten. Eine der Konsequenzen bestand in der Forderung, das Geschehene wissenschaftlich aufzuarbeiten – ein Bedürfnis der Zeit; vergleichbar vielleicht mit dem Aufarbeitungsprozess der Judenverfolgung oder des Verhaltens der Schweiz während dem Zweiten Weltkrieg. Es war das Verlangen nach Objektivität, Gewissheit und juristischer Beurteilbarkeit: Was war geschehen? Wer waren die Täter, wer die Opfer? Was waren die Gründe? 

Zwar sollte sich bald zeigen, dass Vieles im Dunkeln bleiben würde und die Kombination der Ursachen komplexer ist, als dass sie in den wenigen Zeitungsspalten Platz finden würde. Dennoch kam Vieles zum Vorschein, was lange Zeit verdrängt, unterdrückt, abgestritten, übergangen und relativiert worden war. Zum ersten Mal floss das Schicksal der Heimkinder in die Geschichtsschreibung ein; zum ersten Mal wurde ihre Geschichte offiziell. 

Das ist in erster Linie für die Betroffenen selbst von grossem Wert, weil ihre persönliche Verarbeitung nur durch die Anerkennung des Geschehenen und das dezidierte Ablegen des Selbstverschuldungs-Gefühls abgeschlossen oder gar erst begonnen werden kann. Das alleine würde als Grund für eine Aufarbeitung bereits genügen. Ein solcher Prozess kann aber auch für die Gesellschaft eine heilsame Selbstreflexion sein, und zwar als Eingeständnis von Vergangenem, als geschärfter Blick auf Gegenwärtiges und als Handlungsleitlinien für Zukünftiges. 

So wurden in den vergangenen Monaten drei verschiedene Berichte über die Gewalt in Luzerner Kinderheimen der Öffentlichkeit vorgestellt.

Im September 2012 präsentierte eine Forschungsgruppe um Prof. Markus Furrer den vom Kanton in Auftrag gegebenen «Bericht Kinderheime im Kanton Luzern - im Zeitraum von 1930-1970» (siehe dazu unter «Dateien»). Diese historische Studie untersucht die Vorfälle in zwölf Erziehungsanstalten und bettet diese in ihren institutionellen und gesellschaftlichen Hintergrund ein. Der Bericht stützt sich vorwiegend auf Interviews, welche mit 54 ehemaligen Heimkindern durchgeführt wurden und zieht als Ergänzung auch schriftliche Quellen bei. 

Gleichzeitig stellte Prof. Markus Ries die Studie «Hinter Mauern - Fürsorge und Gewalt an kirchlich geführten Erziehungsanstalten im Kanton Luzern» vor, welche von der Katholischen Kirche im Kanton Luzern (Landeskirche und Bistumsregion) in Auftrag gegeben und von Universität und PHZ Luzern ausgearbeitet wurde (soeben erschienen als Sammelband beim Theologischen Verlag Zürich, siehe dazu unter «Dateien»). Diese interdisziplinäre Studie stützt sich ebenfalls auf Interviews, sowie schriftliche Zeugnisse. Sie fragt dabei nach den spezifisch kirchlichen und konfessionellen Ursachen der angewandten Gewalt und sucht Wege zum Umgang der Kirche mit Schuld und Konsequenzen für das heutige kirchlich-pastorale Handeln. Aufgrund dieser beiden Aufarbeitungsberichte entschuldigten sich sowohl der Kanton Luzern (Regierungsrat Guido Graf), als auch die katholische Kirche (Bischofsvikar Ruedi Heim) für das Leid, das die Institutionen durch ihr Versagen verursacht haben. 

Ende Januar stellte schliesslich eine Expertenkommission einen weiteren Bericht vor, welcher mit juristischen und psychologischen Methoden die schwerwiegenden Misshandlungs-Vorwürfe untersucht hat, welche gegen die damals  in vielen Kinderheimen tätigen Ingenbohler Schwesterngemeinschaft vorgebracht werden (siehe unter «Dateien»). Der Bericht offenbart zwar, dass die tatsächlichen Vorgänge rund um mehrere Todesfälle in der Erziehungsanstalt Rathausen wegen der grossen zeitlichen Distanz in ihren Details nur schwer nachprüfbar sind, bringt aber ebenfalls hervor, dass das damalige Erziehungssystem zum grossen Leid der Kinder vielfach versagt hat.

Obwohl die Schwerpunkte und Interpretationen der drei Berichte Unterschiede aufweisen, sind die Feststellungen insgesamt erschütternd: Über Jahrzehnte und bis in die 1970er-Jahre wurden fremdplatzierte Kinder in Luzerner Erziehungsanstalten (nicht nur in Rathausen!) medizinisch und emotional vernachlässigt, zum Teil systematisch massiv körperlich bestraft, misshandelt und sexuell missbraucht. Neben der Benennung der individuellen Tat- oder Unterlassungsschuld einzelner ErzieherInnen und VertreterInnen staatlicher und kirchlicher Instanzen war es wichtig, strukturelle und mentalitätsgeschichtliche Gründe für das Geschehene ausfindig zu machen. 

Im Folgenden möchte ich als Mitverfasser der zweitgenannten Studie «Hinter Mauern» einige Ergebnisse kurz darstellen und einige weiterführende Überlegungen dazu anstellen. Dabei interessiert mich die Frage, inwieweit die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Luzerner Sozialgeschichte heute relevant ist. Kann uns das «kollektive historische Schuldeingeständnis» sensibilisieren? Finden wir heute in Sozialwerken und in Gesellschaft noch vergleichbare Strukturen und Mechanismen, die neue Opfer «hervorbringen»? Wo stehen diese «heutigen Mauern»? 

Im strukturellen Bereich ist zunächst die generelle Unterfinanzierung sowohl der privat, als auch öffentlich getragenen Institutionen zu nennen. Diese wirkte sich direkt auf die Infrastruktur und die personelle Besetzung aus und war mit ein Grund, weshalb man an vielen Orten auf Kongregationsschwestern als kostengünstigstes Erziehungspersonal zurückgriff. 

Entscheidender gesetzgeberischer Hintergrund für die zahlreichen Fremdplatzierungen war die Einführung der Kinderschutzartikel im ZGB im Jahre 1912. Unter dem sehr weit gefassten Begriff der Gefährdung durch «Verwahrlosung» und dem propagierten «Recht auf Erziehung» wurden behördliche Eingriffe wie Kindeswegnahmen legitimiert. In der pädagogischen und politischen Rechtfertigung dieser vermehrt angewandten vormundschaftlichen Massnahmen wird deutlich, welche Haltung dahinter stand: Es ging in erster Linie nicht um das Wohl der betroffenen Kinder, sondern um das Wohl der Gesellschaft, die es vor den Gefährdungen durch diese Kinder zu schützen galt. Mit dem Begriff der «Verwahrlosung» ging auch eine Stigmatisierung einher: Die fremdplatzierten (Heim- oder Verding-)Kinder wurden wegen ihrer familiären Herkunft geringgeschätzt und vorverurteilt, indem sie die «Schwächen» ihrer Eltern (pseudowissenschaftlich begründet) «erbten». Die moraltheologisch begründete Verurteilung von Scheidung und unehelicher Geburt hat diese Stigmatisierung religiös untermalt und damit noch verstärkt.

Es gibt weitere mentalitätsgeschichtliche Mechanismen, welche dazu geführt haben, dass die Missstände in der Erziehungspraxis trotz Beschwerden von Betroffenen und Aussenstehenden unter dem Deckel gehalten wurden und sich deshalb lange Zeit fortsetzen konnten. 

An erster Stelle ist hier die Ideologisierung der Auseinandersetzungen zu nennen: Sobald Vorwürfe, Beschwerden oder Verdächtigungen auftauchten, wurden diese als grundsätzliche Infragestellung des katholischen Erziehungswesens und als Angriff auf die katholische Weltanschauung insgesamt betrachtet. Unterstellt wurde den Kritikern eine ideologische Motivation, sei es reformierter, liberaler oder sozialistischer Couleur. Damit wurde, bewusst oder unbewusst, die Diskussion sehr schnell von der sachlichen Ebene hin auf die ideologische und/oder emotionale gelenkt. Das verhinderte nicht nur objektive Untersuchungen und notwendige Reformen, sondern war für die Kinder zusätzlich verhängnisvoll, weil sie oft instrumentalisiert und die Auseinandersetzungen auf ihrem Buckel ausgetragen wurden.

Ein weiterer Aspekt sind die personellen Verstrickungen und Seilschaften. Diese waren in der Welt des katholischen Erziehungswesens in der Schweiz besonders eng. Es lässt sich zum Beispiel feststellen, dass in Konfliktfällen Personen als gegenseitige Experten angerufen wurden, die sich aus der gemeinsamen Ausbildungszeit oder aus fachlichen, kirchlichen oder politischen Netzwerken bestens kannten. Insbesondere war im katholischen Umfeld auch ein starkes Hierarchiegefälle wirksam, welches offene Kritik vielfach verhinderte.

Beispiele zeigen, wie sich kirchliche und politische Instanzen gegenseitig schützten, meist mit dem gemeinsamen Ziel, einen drohenden öffentlichen Skandal zu vermeiden, der vernachlässigte Verantwortlichkeit aufgedeckt und Reformen erzwungen hätte. Auf der anderen Seite waren es die Auseinandersetzungen zwischen den zahlreichen kirchlichen und weltlichen Behörden über die oftmals unklar verteilten Kompetenzen, welche von den eigentlichen Problemen ablenkten und vorwärtsstrebende Lösungen verhinderten. 

Es war aber nicht nur das Versagen behördlicher Instanzen, welche das Aufdecken und die Eliminierung von Missständen lange verhindert haben, sondern auch der fehlende gesellschaftliche Wille.

Die Praxis der möglichst kostengünstigen Versorgung problematischer und von Armut betroffener Kinder und Jugendlichen beruhte auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens: «Hinter Mauern, aus dem Sinn.» Und falls doch einmal etwas ruchbar wurde, dann war die Reaktion mitunter oft so, wie sie sich leider auch heute noch grosser Beliebtheit erfreut: Wegschauen und weitergehen. 

Empirisch schwierig zu untersuchen ist die Frage, inwieweit die Bevölkerung von den Missständen in den einzelnen Heimen gewusst und diese durch diese Mitwisserschaft auch mitgetragen hatte. Zahlreiche Klagen von Aussenstehenden lassen aber erahnen, dass Vieles bekannt und die stillschweigende Mitwisserschaft entsprechend gross war.

Wie erwähnt, haben konfessionelle Besonderheiten im stark katholisch geprägten Kanton Luzern diese unheilvolle Kombination von Ursachen der Gewaltanwendung an Kindern noch verstärkt. Die Theologie blieb lange Zeit die bestimmende Leitwissenschaft auch für die Pädagogik. Das verhinderte nicht nur Fortschritte in der pädagogischen Theoriebildung und deren praktischen Umsetzung, sondern wirkte sich auch unmittelbar auf die Begründungsmodelle der Erziehungs- und Strafpraxis aus: Wenn Gott seine Gläubigen aus Liebe und zur Prävention vor schlimmeren Vergehen und jenseitigen Strafen straft, so tut dies der Erzieher als sein Stellvertreter bei den Kindern ebenso. Leiden und Opfer gehören zum Leben und ihre Annahme kann als Beweis für die Jesusnachfolge und Gottergebenheit gedeutet werden.

Ein weiterer verheerender Aspekt war und ist die verbreitete Tabuisierung der Sexualität, insbesondere in der Ausbildung des kirchlichen Personals. Nicht thematisierte und damit unreflektierte Sexualität erhöhen das Risiko von sexuellen «Ersatzhandlungen», für die fremdplatzierte Kinder ohne familiären Rückhalt besonders anfällige Opfer sind. Die verbreitete Tabuisierung wirkte sich auch hindernd aus, wenn Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch geistliches Personal geschöpft wurde, oder ein solcher offensichtlich vorlag: «Was nicht sein darf, ist nicht wahr...».

Ein weiterer konfessionsspezifischer Aspekt besteht darin, dass die häusliche Erziehungsarbeit vielfach von Kongregationsschwestern übernommen wurde. Diese Kongregationen – zu denen zum Beispiel die Baldegger, Menzinger, Ingenbohler oder St. Anna-Schwestern gehören – waren im Kontext der sozialen Nöte während der Industrialisierung entstanden. Die Kindererziehung gehörte neben der Krankenpflege und der Bildung zu ihren wichtigsten Tätigkeitsfeldern. Dabei haben die Schwestern zweifellos viel Gutes für Gesellschaft und insbesondere Benachteiligte geleistet. Ohne sie wäre der Betrieb zahlreicher Institutionen schlicht nicht möglich gewesen. Es gibt jedoch spezifische Aspekte, welche Konflikte und damit die Missstände begünstigt und ihre Behebung von Missständen verhindert haben. 

Zum einen waren die äusseren Bedingungen für die Schwestern unbestritten äusserst problematisch: Ohne Mitbestimmungsrecht wurde ihnen die Erziehungsarbeit in einem der Heime zugewiesen. Dort wirkten sie oftmals in heute unvorstellbaren Betreuungsverhältnissen und unter extremen Arbeitsbedingungen: So hatten sie weder an den einzelnen Tagen, noch über das Jahr hinweg Anspruch auf Freizeit und mussten in ihrem 24-Stunden-Einsatz beinahe vollständig auf eine Privatsphäre verzichten. 

Dazu kam, dass die pädagogische Ausbildung, unter anderem wegen des sich verschärfenden Schwesternmangels, oftmals mangelhaft war. Selbstverständlich soll hier kein Kausalzusammenhang zwischen schlechten Arbeitsbedingungen und sexuellem Missbrauch konstruiert werden. Das wäre zynisch. Die strukturellen Probleme hatten aber vielerorts ein Frustpotenzial zur Folge, welches sich insbesondere auf die Strafhäufigkeit und die Strafhärte ausgewirkt hat. 

Für die Kinder wohl verheerender als die schwierigen äusseren Bedingungen waren einige spezifische weltanschauliche Aspekte ihrer Erziehung durch Schwestern: Hier sind vor allem die zentrale Rolle der Religion, sowie die wichtigen ethischen Ideale von Opferbereitschaft und Gehorsam zu nennen. Diese Ideale wurden auf die anvertrauten Kinder übertragen, also unbesehen auch von ihnen verlangt: Leid soll als Teil des Lebens demütig angenommen und geschuldeter Gehorsam geleistet werden. Dass diese für Kinder inadäquaten Erwartungen oftmals enttäuscht wurden, führte zu viel Frust. 

Das Gehorsamsgelübde gegenüber kirchlichen Vorgesetzten hatte eine weitere verheerende Auswirkung: Es verunmöglichte vielerorts einen offenen Dialog und verhinderte so konstruktive Kritik an Vorgesetzten oder Strukturen, sodass notwendige Reformen ausblieben. Diese Tendenz war innerhalb der steilen Hierarchie der kirchlichen Organe besonders wirksam.

Eine weitere Besonderheit der von Kongregationsschwestern geführten Heime ist die verbreitete Interpretation des Heimes als «Ersatzfamilie», so, wie die Schwesternkongregation selbst für die ihr beigetretenen Frauen eine Art «neue Familie» darstellte. Die Generaloberin und die Lokaloberinnen nehmen in diesem Fall die zentrale Rolle der «Mutter» ein. Dass sie diese Rolle vielfach nicht ausfüllen und die fremdplatzierten Kinder ihre «neue Familie» im Gegensatz zu den Schwestern nicht aussuchen konnten, führte zu zusätzlichen Enttäuschungen und weiterem Konflikt- und Frustpotenzial.

Keiner der genannten strukturellen und weltanschaulichen Aspekte wäre für sich alleine wohl genug gewesen, um die festgestellten Missstände und Gewaltanwendungen in der Luzerner Heimerziehung auszulösen und so lange zu erhalten. Es waren individuelle Schuld und die Kombination vieler verschiedener äusserer Faktoren, welche zum Unheil für die Betroffenen geführt haben. 

Am verheerendsten dürfte neben den Tabuisierungen und den nicht kindergerechten enttäuschten Erwartungen die gesellschaftliche Stigmatisierung gewesen sein. Sie schaffte zwischen den Heimkindern und ihren ErzieherInnen und Aussenstehenden eine Distanz, bis hin zu einer Entmenschlichung der späteren Opfer. Erst diese entsubjektivierende Distanzierung verhindert eine empathische Identifikation mit dem Gegenüber und kann so vernunftbegabte Menschen dazu bringen, anderen Menschen Gewalt anzutun.

Dieser Distanzierungs-Mechanismus kann als wichtiger psychologischer Vorgang auch in heutigen Formen der Gewaltanwendung immer wieder festgestellt werden. Daneben finden sich im Vorgefundenen aber noch weitere Parallelen zu heute. Der Schritt vom gestern zum heute ist naheliegend, ja geradezu verlockend: Die neulich aufgedeckten Fälle von Gewalt in der Altersbetreuung: Ebenfalls ein Missbrauch eines Abhängigkeits- und Betreuungsverhältnisses, ebenfalls äusserer Spar- und Personaldruck, ebenfalls unvorstellbar, ebenfalls lange ein Tabu, ebenfalls «hinter Mauern»…

Wie oft hören wir aus dem Erziehungs- und Gesundheitswesen von reform- und rationalisierungsbedingten unheilvollen Auseinandersetzungen und Machtkämpfen zwischen einzelnen Angestellten, Berufsgattungen, Managern/Direktoren und politischen Instanzen? Bedeutet der heutige Reformüberdruck etwa dasselbe Unbehagen und dieselben anfälligen Rahmenbedingungen, wie früher der Reformstau?     

Wie naheliegend war auch die Assoziation, als ich in der Mittagspause zwischen der Arbeit an «Hinter Mauern» einen skandalisierenden Zeitungsartikel über die schlechten Zustände in der Asylunterkunft in Eigenthal (Gemeinde Schwarzenberg) las. Sind heute einfach Stacheldrähte, wo früher Mauern waren?  

So einfach ist es wohl nicht. Man würde die damaligen Rahmenbedingungen verkennen, wenn man sie auch heute noch für gültig erklären würde. Da sind zum einen die insbesondere durch die 68er-Bewegung fundamental veränderten Wertvorstellungen: Als wichtigste Tugenden gelten heute nicht mehr Anpassung, Disziplin und Folgsamkeit, sondern Individualität, Selbstentfaltung und Miteinmischung. 

Die mitunter durch den Bedeutungsrückgang der Religion verursachte Werteverschiebung wirkt sich mitunter direkt auf die Pädagogik und die von ihr propagierten Erziehungsmassnahmen aus. Physische und psychische Unterdrückung wird anders als noch vor vierzig Jahren nirgends mehr offiziell vertreten.

Auch die strukturellen Voraussetzungen im Sozialwesen haben sich stark verändert: Es fand eine systematische Professionalisierung auf allen Ebenen statt. Das führte unter anderem dazu, dass sich die ohnehin unter Nachwuchsmangel leidenden Kongregationsschwestern aus der Erziehungsarbeit verabschiedeten. Ausserdem wurden die Finanzierungsmodelle stabiler, voraussehbarer und von privaten Zuwendungen unabhängiger, was sowohl personelle und infrastrukturelle Mängel, als auch unheilsame Abhängigkeiten entschärfte. 

Was äussere Missstände oder Misshandlungen in den Heimen und Erziehungsinstitutionen betrifft, herrscht in der heutigen Gesellschaft, die geprägt ist von vielen schmerzlichen Erfahrungen, eine viel grössere Sensibilität. Transparenz und Rechenschaftspflicht nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch bezüglich Erziehungsmassnahmen sind heute zentrale Anforderungen an jede soziale Institution. Insbesondere bezüglich des sexuellen Missbrauches wird in der Ausbildung der potenziellen Täter und in der Aufklärung der potenziellen Opfer viel für die Prävention getan.

Und doch: Es gibt sie, die Parallelen zwischen gestern und heute, die Mechanismen die sich fortsetzen, die Konstanten in den Entstehungsmustern, in der sich individuelles, institutionelles und gesellschaftliches Versagen auf Kosten von einzelnen Menschen und Minderheiten kumulieren. Es gibt sie, die heutigen Mauern... 

Diese Aktualität betrifft zunächst den sexuellen Missbrauch. Trotz der erwähnten Sensibilisierung und Prävention wird uns immer wieder schmerzhaft vor Augen geführt, dass die sexuelle Ausbeutung von Kindern erstens weiterhin stattfindet und zweitens in institutionellen Betreuungsverhältnissen besonders günstigen Nährboden findet. Dieser Nährboden besteht auch heute in Hierarchie- und Abhängigkeitsverhältnissen, dem räumlichen und sozialen Getrenntsein von Familienstrukturen und in der sich hartnäckig haltenden Tabuisierung. 

Ähnlich steht es mit der Gewaltanwendung in sozialen und erzieherischen Institutionen. Mit dem Unterschied, dass sie im Gegensatz zu früher heute nicht mehr als wirksame und systematische Erziehungsmassnahme «gerechtfertigt» werden kann, sondern von Öffentlichkeit und Justiz konsequent als Vergehen taxiert wird. Trotz der immer wieder enthüllten Vorkommnisse von sexueller und körperlicher Gewalt in sozialen Institutionen kann positiv festgestellt werden, dass unsere Gesellschaft bei der Ursachenerkennung, Prävention und Intervention bedeutende Schritte in die richtige Richtung vorangekommen ist und offen nach weiteren sucht. 

Etwas pessimistischer beurteile ich die Frage, inwieweit sich auch die dahinterliegenden gesellschaftlichen und strukturellen Mitursachen verändert haben. Zu nennen sind hier zunächst die Mechanismen der latenten Pauschalisierung und Stigmatisierung von Minderheiten wie (ehemaligen) GefängnisInsassinnen, Arbeitslosen, Drogen- und Alkoholsüchtigen, Obdachlosen, Asylantinnen und Asylanten und natürlich auch der heutigen (ehemaligen) Heimkinder. Es wird in der Schweiz viel Geld für sie ausgegeben und viel für sie gemacht; wie viel mit ihnen? Wer lässt sich wirklich auf sie ein? Bekommen sie von uns die gleiche erste Chance wie andere? Dominiert die Minderheitenzugehörigkeits-Kategorie nicht oft die Fremdbeurteilung dieser Person, indem sie die erstgedachte und erstgenannte Assoziation ist? «Er ist zwar ein…, aber trotzdem ganz in Ordnung» / «Sie ist halt ein…».

Wenn diese Stigmatisierung nicht nur punktuell vorkommt, sondern die Betroffenen Tag und Nacht begleitet, so beeinflusst das ihr Selbstwertgefühl und damit ihre Biografie grundlegend. Unmittelbar mit diesen Stigmatisierungsmechanismen verbunden ist ein damals wie heute besonders verbreitetes Verhaltensmuster: Das Wegschauen, die bewusste Ignoranz. Als oft bereits bei Pausenplatzschlägereien erlernter Selbstschutz scheint das Wegschauen vor allem dann geboten zu sein, wenn uns die Betroffenen / die Opfer fremd sind und uns «nichts angehen». Dieses Fremdsein wird durch die genannten Stigmatisierungen «gewährleistet», die emotionale Distanz zu ihnen gewahrt.

Es wurde in den Studien festgestellt, dass auch damals fortschrittliche juristische Kinderschutzmassnahmen und pädagogische Programme diese Stigmatisierungen zum Teil gestützt haben, indem zum Beispiel mit der «Diagnose» der drohenden «Verwahrlosung» Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen oder verhaltensauffällige Kinder ohne Mitspracherecht der Eltern fremdplatziert und «fachmännisch» einer bestimmten Minderheitengruppe zugeordnet wurden. 

Zwar sind die willkürlichen Fremdplatzierungen heute selten und die Rechte der Eltern stark ausgebaut geworden. Die medizinischen, psychologischen, soziologischen und (insbesondere heil-) pädagogischen Zuschreibungen jedoch, vor allem aber die bürokratischen Schubladisierungen, sind wirksam wie nie zuvor: Standardisierte Einteilung nach Leistungsstärke, Sonderbegabung, partieller Lernschwäche, Symptom, familiärem Hintergrund, körperlicher Verfassung... 

Obwohl für eine individuelle Betreuung unverzichtbar und in vielen Bereichen auch förderlich, können diese Zuschreibungen für Aussenstehende, Betreuende und die Betroffenen selbst wiederum zu Stigmata werden.

Bei der aktuellen Bevölkerungsentwicklung rückt in diesem Kontext eine weitere besonders heikle Frage in den Vordergrund, nämlich die nach unserem Umgang mit alten (oder auch behinderten) Menschen. 

Geht es bei ihrer «Versorgung» hinter teure und gut isolierte Mauern um ihr Wohl oder um dasjenige der Gesellschaft? Wie viel kann und will die Gesellschaft dafür aufwenden? Wie viel Kostendruck und Personalmangel kann ausgehalten werden (beide Faktoren waren übrigens bereits in den 1930er- bis 70er-Jahren wirksam)? Werden alte Menschen in erster Linie als betreuungsbedürftig, «aufwändig» und teuer wahrgenommen? Sind sie damit für die Gesellschaft vor allem Hemmschuh und Hypothek? Bekommen sie durch ihr Angewiesensein (oder Ausgeliefertsein?) diese negativen Zuschreibungen emotional und manchmal auch körperlich zu spüren? Wollen wir es wissen, wenn es so ist?

Im Laufe der Untersuchungen über die Vorkommnisse im vergangenen Jahrhundert wurde vielfach festgestellt, dass bei der Reaktion auf interne oder externe Vorwürfe seitens der verantwortlichen, beteiligten oder beaufsichtigenden Instanzen häufig ausschliesslich der drohende Image-Schaden für die betroffene Institution im Vordergrund stand. Man war auf das Wohlwollen der (abstimmenden) Bevölkerung und die Unterstützung von privaten Geldgebern angewiesen und wollte die «gute Sache» wegen eines «Einzelfalles» nicht gefährden. Es wurde viel Energie dafür aufgebracht, Kritik unter dem Deckel zu halten und kritische Angelegenheiten intern zu lösen. 

Das dürfte in der heutigen Medienlandschaft um ein vielfaches schwieriger und insbesondere bei allzu offensichtlichen Missständen oder vielen Mitwissern kaum mehr möglich sein. Wie aber sieht es mit subtilen Verdachtsfällen aus, die Mitarbeitende oder nahestehende Personen für sich persönlich hegen?  Kann nicht gerade das Wissen um die leichte Auslösbarkeit von medialen Lawinen Kommunikationshemmungen fördern, im Sinne von: «Wenn man etwas weiss, sagt man es und dann passiert auch etwas. Wenn man etwas nur ahnt, sagt man nichts, weil sonst vielleicht etwas Falsches passiert.»

Obwohl sich die weltanschaulichen und konfessionellen Risse von damals mehrheitlich ausgelöst haben, spielen die Ideologisierung von Auseinandersetzungen und die Gefahr (oder Absicht?), damit von Sachproblemen abzulenken, auch heute noch eine wichtige Rolle. Das gilt insbesondere für öffentliche, medial orchestrierte Diskussionen im Sozial- und Asylwesen: «Die Rechten wollen das Asylzentrum verhindern, weil sie ausländerfeindlich sind…» / «Die Linken wollen allen AusländerInnen den roten Teppich ausrollen…»

Ein letzter Aspekt, der in der «kleinen» und überschaubaren Schweiz nach wie vor besonders relevant scheint, sind die engen personellen Verbindungen, welche innerhalb eines Berufszweiges oder einer Region vorhanden sind. Zwar werden gesetzgebende, ausführende, beaufsichtigende, vermittelnde oder urteilende Instanzen durch ausgeklügelt Organigramme als unabhängig voneinander dargestellt und ihre spezifischen Funktionen und Kompetenzen präzis beschrieben. Doch wir machen im Alltag immer wieder die Erfahrung, dass die beruflichen und privaten Verbindungslinien kurz, die Welten klein und persönliche Bekanntschaften wichtiger als Papier sind.

Oft bringen diese Verbindungen Vorteile, weil sie bürokratische Umwege überflüssig machen und fruchtbare Vernetzungen ermöglichen. Gerade im Bereich öffentlicher und privater Sozialleistungen können sie aber auch unheilsame Verstrickungen, Seilschaften und Abhängigkeiten hervorbringen: Direkte oder indirekte Bekanntschaft kann verhindern, dass Kritik offen geäussert wird. Wenn die Wahrscheinlichkeit gross ist, dass man sich in seinem beruflichen Leben wieder begegnen wird, tritt man einander nur ungern auf die Füsse. Das gilt besonders in einer Gesellschaft, deren Kommunikationskultur wie kaum irgendwo sonst auf Zurückhaltung, diplomatischer Vermittlung, Kompromissbereitschaft und förmlich gewahrter Freundlichkeit beruht. 

Bleiben wir wachsam, damit unsere wertvollen Anstandsbarrieren nicht zu neuen Mauern werden.

Valentin Beck, wissenschaftlicher Assistent an der Professur für Kirchengeschichte an der Universität Luzern  


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Über Valentin Beck:

(Jahrgang 1984) ist aufgewachsen in Ruswil; Studium der Theologie an der Universität Fribourg und der Humboldt-Universität in Berlin: 2009 Lizenziat; anschliessend Studium der Religionslehre an der Universität Luzern; 2012 MA in Secondary Education Religion mit Lehrerdiplom für Maturitätsschulen. 

Seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Kirchengeschichte an der Universität Luzern und ebenda Dissertationsprojekt im Bereich kirchliche Zeitgeschichte; daneben in der Schule und früher in der freiwilligen Jugendarbeit (Jungwacht und Unihockey) in Bildung und Erziehung von Jugendlichen tätig; Mitglied der Jugendkommission Ruswil.