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Kolumne von Manuel Bamert

14.10.2019

Sprachwissenschafter zu den Wahlen: «Die KandidatInnen wollen sich profilieren, ohne empfindliche Gemüter zu überreizen»

Der Literatur- und Kulturwissenschafter Manuel Bamert hat sich die Wahlwerbung in seinem Briefkasten genauer angeschaut.


Herbert Fischer: Manuel, du hast alle Flyer und Wahlzeitungen der letzten Wochen aus deinem Briefkasten gesammelt und nun die Beige, die so entstanden ist, genau angeschaut. Was ist dir aufgefallen?

Manuel Bamert: Ganz grundsätzlich kann ich die Kritik an dieser Werbeform, die man immer wieder hört, nur sehr bedingt teilen. Man hört ja oft, dass das «viel zu viel Material» sei, und alles «völlig sinnlos» im Briefkasten lande. Aber der Stapel hat eigentlich ein grosses Potential.

Ein grosses Potential?

Manuel Bamert: Es ist doch paradox: Einerseits heisst es oft, es gehe in den Kampagnen der Parteien und der KandidatInnen zu wenig um Inhalte. Andererseits beklagt man sich, «zu viel Material» im Briefkasten zu haben. Das zeigt ziemlich genau auf, in welchem kommunikativen Dilemma die PolitikerInnen stecken.

Sie müssen ihre Positionen glaubwürdig und deutlich sichtbar kommunizieren, ohne die empfindlichen Gemüter der Leute zu überreizen.

Und genau darum mag ich dieses Werbematerial, hier steckt das analytische Potential: Man kann viel über PolitikerInnen lernen, wenn man darauf achtet, wie sie mit diesem Dilemma umgehen.

Und was hast du gelernt? Wie versuchen die KandidatInnen dieses Dilemma zu lösen?

Manuel Bamert: Sie begegnen dem Dilemma mit unterschiedlichen Ansätzen, die auf jeweils einen der beiden Kritikpunkte reagieren. Die einen reduzieren die Kommunikation von Inhalten auf ein Minimum: Ein paar Köpfe, ein paar Slogans. Die anderen setzen auf grosse Formate und auf erstaunlich viel Text. Jeder und jede kennt wohl diese mehrseitigen Broschüren und Wahlzeitungen, bei denen man intuitiv denkt: Wer liest das alles?

Also doch: Zu viel Material, das nicht gelesen wird!

Manuel Bamet: Moment! Nur weil kaum jemand alles liest, ist der kommunikative Sinn der Sache nicht unbedingt verfehlt. Da müssen wir schon differenzieren: Ich bezweifle auch, dass solche Drucksachen eine entscheidende Rolle in der Meinungsbildung spielen. Die wenigsten Bürgerinnen und Bürger setzen sich wohl zuhause an den Tisch, studieren und vergleichen alle diese Drucksachen und entscheiden dann aufgrund der Flyer, wen sie wählen wollen.

Viel wichtiger sind natürlich andere Kanäle, allen voran das soziale Umfeld und die Medien. Aber das heisst nicht, dass die grossflächige Verteilung von Flyern und Wahlzeitungen über Briefkästen per se völlig wirkungslos ist.

Zum einen können sie als Erinnerung dienen, also zur Mobilisierung von Leuten beitragen, die einem eh schon wohlgesinnt sind. Darauf setzen jene Personen, die zum Beispiel nur einen kleinen Flyer einwerfen. Zum anderen versuchen einige Parteien ja durchaus, die Leute mit Wahlzeitungen und Broschüren über ihre Inhalte zu informieren. Am stärksten sticht hier die SVP hervor. Auf ihr Extrablatt schreibt sie, man könne darin «Lesen, wie es wirklich ist!».

Die SVP inszeniert diese Publikation also explizit als Gegenmedium und sich selbst als Kämpferin für eine ansonsten verschwiegene politische Wahrheit. Diese Rhetorik erinnert nicht zufällig an amerikanische Verhältnisse, wo die Leute inzwischen von höchster Stelle mit «alternativen Fakten» versorgt werden.

Und ansonsten? Welche weiteren Wirkungen können alle anderen Drucksachen haben, die etwas weniger grossspurig daherkommen?

Manuel Bamert: Das Negative zuerst: Zu reden gibt vor allem Propaganda, die als schlecht empfunden wird. Man macht sich lustig über Fotos, über Namen, über misslungene Sprüche. Ich habe es bisher kaum erlebt, dass ein Flyer oder eine Wahlzeitung im positiven Sinn ein Gesprächsthema wurden. Aber das heisst eben noch lange nicht, dass alles andere wirkungslos verpufft. Der Rest wirkt vermutlich schon auch, nur subtiler, wir nehmen die Wirkung also weniger bewusst wahr.

Auch beim blossen Überfliegen der Materialien kann etwas hängenbleiben. Die Kulturwissenschaft weiss zum Beispiel um die Macht der Materialität. Das ist ein banaler, aber sehr wirkungsvoller Aspekt: Es spielt eine grosse Rolle, wie eine Drucksache aussieht und wie sie sich zwischen den Fingern anfühlt. Die Optik und die Haptik sind vom Inhalt nicht zu trennen.

Wie meinst du das?

Manuel Bamert: Die Bilder und die Texte auf den Drucksachen sind nur eine kommunikative Ebene. Daneben gibt es noch weitere, zum Beispiel das Format, die Schriftart, das Papier. Die einen setzen auf grossformatige Hochglanzprospekte. Darin sehen Anzugträger schnell professioneller aus. Gleichzeitig zeigt man so, dass man für den politischen Erfolg den finanziellen Aufwand nicht scheut – und dass man sich diesen leisten kann. Andere setzen in Kontrast dazu auf Recycling-Zettel, stapeln also tief, kommunizieren damit aber, dass sie umweltschonendes Papier verwenden, was – natürlich – auch bereits eine Botschaft ist. Es ist ja wohl klar, wer so auftritt.

Schauen wir uns mal ein paar konkrete Beispiele an?

Manuel Bamert: Gerne. Nehmen wir hier diesen Flyer der SP, der Prisca Birrer-Heimo (SP/Rothenburg) und David Roth (SP/Luzern) zeigt. Er kommt ausgesprochen brav daher. David Roth wirkt sympathisch, tritt in Veston und Hemd gepflegt auf, wirkt aber etwas farblos; genau das Gegenteil des Bildes also, das man von ihm in Erinnerung hat als dem früheren wilden und lautstarken Juso-Präsidenten.

Es ist offensichtlich, dass man so versucht, den einstigen Bürgerschreck David Roth dem öffentlichen Idealbild eines Ständerats anzunähern, ihn gewissermassen salonfähig zu machen.

Ein anderes Beispiel: dieser Flyer von Damian Hunkeler  (FDP/Luzern). Er ist einiges aufwändiger gemacht. Die Schlagzeile lautet: «Ein Mann mit Profil». Eine Seite des Flyers ist entlang der Kopfform ausgeschnitten und soll so die Redewendung materialisieren. Amüsant ist hier vielleicht zu bemerken, dass der kunstwissenschaftliche Fachbegriff für die verwendete Porträtform «Halbprofil» lautet, aber das nur am Rande. Auffallend ist jedenfalls, mit welchen Attributen sich der Kandidat in Szene setzt.

Die Verbindung zwischen Äusserlichkeit der Person und politischer Haltung, die grundsätzlich jeder Flyer mit Foto herstellt, wird hier besonders stark gemacht. Die ganze Symbolik zielt darauf, dass man vom Körperlichen des Kandidaten auf seine politischen Fähigkeiten schliesst. Das fängt beim Spruch mit dem Profil an, der ja übrigens extra noch explizit betont, dass er ein Mann ist. Das geht dann weiter bei der Beschreibung seiner Charaktereigenschaften, gemäss dem Flyer ist er «direkt. stark. gradlinig».

Und unterstrichen wird dies noch dadurch, dass er auf der Innenseite von sechs Männern, aber keiner einzigen Frau zur Wahl empfohlen wird. Das ist in der heutigen Zeit doch eine erstaunliche Botschaft.

Und hier ein weiterer Flyer: jener von Yvette Estermann (SVP/Kriens). Auch sie bezeichnet sich als Politikerin «mit Profil», zusätzlich hat sie noch «Pfiff». Zudem sei sie «erfrischend anders». Worauf sich das bezieht, wird nicht weiter ausgeführt. Auffällig ist aber, dass sie im Gegensatz zu den anderen KandidatInnen anscheinend auf ein sorgfältig arbeitendes Korrektorat verzichtete. Der Flyer enthält zahlreiche kleinere Fehler. Ansonsten kommt er – was weiter nicht wundert – in der üblichen SVP-Ästhetik daher.

«Anders» zu sein ist doch für schweizerische Verhältnisse bereits eine vergleichsweise mutige Etikettierung. Überhaupt fällt mir auf, dass die Kandidierenden nicht gross Wert darauf zu legen scheinen, wirklich herauszuragen. Teilst du den Eindruck, dass sich die KandidatInnen in ihren persönlichen Profilen nicht gravierend unterscheiden?

Manuel Bamert: Das ist offensichtlich. Aber man muss das auch als Ausdruck einer politischen Kultur verstehen. Natürlich gibt es viele PolitikerInnen, die einfach nicht mehr Zeit, Geld und Know-how haben für richtig herausragende Kampagnen.

Aber ich bin überzeugt, dass es auch viele Vollprofis gibt, die bewusst ästhetisches Mittelmass produzieren. Man gibt sich, wie man gesehen und wahrgenommen werden will. Weil man weiss – oder zu wissen meint – welche Typen die Schweizer Stimmbevölkerung mag.

Ein Beispiel: Die meisten KandidatInnen stellen sich auf ihren Websites und oft auch auf Flyern in drei Bereichen vor, als Politiker, Berufsleute und als Privatleute; früher wurde jeweils auch noch der militärische Rang erwähnt. Es scheint also sehr wichtig zu zeigen, dass man nicht nur Politik macht, sondern auch noch einen anderen Job und eine Familie hat und gerne wandern geht. Die Kritik an Wahlkampagnen fällt also auch immer wieder ein wenig auf sich selbst zurück. Wir kriegen einfach die Kampagnen vorgesetzt, die ankommen.

Du hast vorher von der SVP-Ästhetik gesprochen. Kann man vermuten, dass die SVP «bewusst auf bieder macht»?

Manuel Bamert: Absolut! Wenn man ihre Erzeugnisse anschaut, stellt man ein ganz krasses Missverhältnis zwischen Aufwand und Ästhetik fest. Da wird sehr viel Geld in Drucksachen gesteckt, die dann aber nicht danach aussehen dürfen. Die Ästhetik vieler Drucksachen der SVP richtet sich gezielt an einem Boulevardstil aus, der Volksnähe suggerieren soll. Gleichzeitig wird ein enormer Aufwand betrieben. Beim «Extrablatt» wird jeder Kanton und jede Sprachregion mit massgeschneiderten Ausgaben beliefert, insgesamt gibt es 30 verschiedene Versionen. Und im Kanton Luzern gab es mit dem «SVP Kurier» noch eine weitere eigene Wahlzeitung.

Man liest auch «Blabla» in diesen Werbemitteln, zum Beispiel immer wieder Allgemeinplätze wie «Für mich steht der Mensch im Mittelpunkt» – was zum Geier soll das denn heissen?

Manuel Bamert (lacht) Mit solchen Sprüchen versucht man natürlich, so viele Menschen wie möglich anzusprechen. Nur geht es in der Politik letztlich immer darum, die Lebenssituation der Menschen zu gestalten. Insofern ist das zumindest vordergründig keine wirkliche politische Botschaft. Aber ernsthaft: Es gab und gibt durchaus auch politische Bewegungen, die nicht allein den Menschen ins Zentrum stellen. Hast du dir zum Beispiel mal den Flyer der Partei «Integrale Politik» angeschaut? Deren Vision ist eine Gesellschaft, «in der das Wohl aller Menschen, aller Tiere, aller Pflanzen und der ganzen Erde verwirklicht ist». Und die Grünen werben ja nicht nur mit Köpfen, sondern mit einem Bild der Erdkugel, gewissermassen dem Porträt unseres Planeten.

Deine Ausführungen tönten nun ein wenig wie die Verteidigung der politischen Briefkastenwerbung. Leben wir also doch in der besten aller möglichen Wahlkampagnen?

Manuel Bamert: Nein, das sicher nicht. Mich erstaunt schon auch, wie viele Ressourcen für mittelmässige bis fragwürdige politische Kommunikation aufgewendet werden. Was mir in meinem Briefkasten fehlte, sind Produkte wirklich origineller, kluger Ideen, die das eingangs geschilderte kommunikative Dilemma erkennen und es gezielt unterlaufen oder es sich gar zum Nutzen machen.

Und wie könnte eine solche Idee aussehen?

Manuel Bamert: Es ist nicht meine Aufgabe als Wissenschafter, solche Ideen zu entwickeln. Aber wer weiss, vielleicht überlege ich mir ja welche für eine zweite Laufbahn als politischer Berater? (lacht)

Interview: Herbert Fischer, Redaktor lu-wahlen.ch, Luzern

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Die beiden Gesprächspartner duzen sich, weil sie sich seit vielen Jahren persönlich kennen.


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Über Manuel Bamert:

Manuel Bamert (1989) arbeitet als Literatur- und Kulturwissenschafter an der ETH Zürich. Er befasst sich schwerpunktmässig mit Text- und Sprachanalysen und der Untersuchung von Literatur, Kultur und Wissensbeständen des 20. und 21. Jahrhunderts.

Bamert studierte Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie an den Universitäten Zürich und Hamburg und arbeitete begleitend dazu unter anderem als Deutschlehrer. Er ist im Kanton Schwyz aufgewachsen und lebt heute in Luzern.