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Gastbeitrag von Hans Widmer

Über den Autor:

Dr. phil. Hans Widmer
(9. September 1941) unterrichtete an der Kanti Alpenquai während 36 Jahren Spanisch, Religionswissenschaften und Philosophie. Er war während zweier Jahre Präsident der Philosophischen Gesellschaft der Schweiz. Von 1996 bis 2010 vertrat er die Gewerkschaften und die SP im Nationalrat. Zuvor war er auch Grossrat und Grossstadtrat.

Bild: Herbert Fischer

28.03.2022

Gib der Angst Raum, aber nicht mehr, um der Hoffnung Platz zu machen

Der globale Klimawandel mit schlimmen Unwettern letzten Sommer; die nicht enden wollende Pandemie; und vor einem Monat Putins Angriff auf die Ukraine: Geist und Psyche sind schlichtweg überfordert, derlei, Krisen, Kriege und Katastrophen in dieser Kadenz und Heftigkeit auch nur halbwegs zu verarbeiten; und sich ihnen entgegenzustemmen, um nicht unterzugehen.

Es gibt Vulkanausbrüche, mit denen die Menschen verhältnismässig gut umgehen können, weil sie auf eine ganze Reihe von ähnlichen Eruptionen zurückblicken und über deren Intensität und Reichweite Bescheid wissen. Das gleiche gilt auch für andere Naturereignisse wie etwa Erdbeben oder Hochwassersituationen.

Die Wissenschaft versucht in solchen Fällen aufgrund der von der Vergangenheit zur Verfügung gestellten Daten die Wahrscheinlichkeit analoger Ereignisse in der Zukunft zu prognostizieren.

In Vorlesungssälen und Schulungsräumen sowie in den Handbüchern der Verwaltungen ist sodann in nüchternem Stil die Rede von zu erwartenden «Normal- oder Jahrhundert-Ereignissen». Eine solche Prozedur ermöglicht es, entsprechende Vorkehrungen zu planen und so kann die Öffentlichkeit mit absehbaren Bedrohungen einigermassen entspannt leben.

Zwar weiss man, dass die prognostizierten Bedrohungen sich mit höchster Wahrscheinlichkeit einstellen werden. Aber man ist sich kaum bewusst, wie schwerwiegend die Tatsache ist, dass man den genauen Zeitpunkt des Eintretens dieser Ereignisse – allen Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Statistiken zum Trotz – nicht kennt.

Genau an dieser Stelle des Nichtwissens öffnet sich das Tor für das spezifisch Menschliche: Wenn einzelne Gesellschaften, vor allem aber der einzelne Mensch, vom statistisch Wahrscheinlichen zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz konkret getroffen wird, dann gilt es ernst. Sie/er wird gleichsam vom Blitz getroffen und es bleibt nur wenig Zeit, die Schockstarre zu überwinden, um sich in der Verwirrung zu orientieren. Entweder es gelingt, diesen Schicksalsschlag als solchen zu akzeptieren und ihm in einem grösseren Zusammenhang einen Ort anzuweisen.

Oder: Ganze Gesellschaften, und die Individuen ohnehin, versinken in Angst und Depression. Dass Ängste und Stressgefühle uns befallen, ist in solchen Situationen unvermeidlich. Aber dass wir uns solchen Gefühlen ausliefern – das muss nicht sein.

Die Geschichte beweist, dass die Angst durch eine Entscheidung zur Hoffnung an jene Stelle verwiesen wird, die ihr auch von der Evolution her zukommt. Nämlich an jene Stelle, wo es darauf ankommt, ein den Menschen packendes Signal zum Handeln auszusenden (vergleiche dazu die sogenannte Signal Angst bei Sigmund Freud).

In diesem Sinne könnten wir den Imperativ formulieren: Gib der Angst den ihr zukommenden Raum, aber nicht mehr, um der Hoffnung Platz zu machen; einer Hoffnung, welche nicht in die Schockstarre führt, sondern in unserem Inneren einen hellen Raum eröffnet, der selbst in scheinbar ausweglosen Situationen ein inneres (gedankliches) oder auch ein äusseres Handeln möglich macht.

Es ist heute grosse Mode, gescheite Ausdrücke wie denjenigen von der Resilienz in die Debatte zu werfen. In Anspielung auf diesen Begriff – der eigentlich nichts anderes meint als die Handlungs-und Regenerationsfähigkeit sowie eine zudem unabdingbare Frustrationstoleranz in schwierigen Zeiten – bedeutet für mich Resilienz ein Leben mit kontrollierbarer Signal Angst bei gleichzeitigem Entscheid zum Handeln aus einer Hoffnungsperspektive.

Es ist in der Tat beängstigend, wie die Ressourcen unseres Planeten stets kleiner werden. Aber die Hoffnung darf nicht sterben angesichts dieser Situation. Viel mehr soll sie uns ermuntern, nicht nur von den ganz grossen Schritten zu träumen, sondern auch konkrete kleine Taten zu setzen.

Bei der Pandemie hat sich gezeigt, dass kaum eine Gesellschaft, kaum ein Staat auf dieser Welt sich passiv verhalten hat. Die Reaktionen waren sehr verschieden und erfolgten auf allen Ebenen der Gesellschaft. Völlige Resignation jedenfalls gab es nirgends, denn die unerwartete Seuche nahm eine Mehrheit der Menschen am Wickel ihres Überlebenstriebes. Dieser erforderte kreatives Tun, welches ohne Hoffnung kaum möglich ist. Die Bilanz: In resilienter Manier schaffen es die Erdenbewohner, sich von dieser Seuche nicht unterkriegen zu lassen.  

Völlig überraschend kam für uns alle der blutige Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine. Angsterfüllte Erinnerungen aus den schlimmsten Episoden des Kalten Krieges haben ganze Gesellschaften und Staaten gepackt und sie haben teilweise unverhältnismässige Reaktionen in Richtung Aufrüstung ausgelöst. In wenigen Tagen wurden ganze Regierungsprogramme über den Haufen geworfen (denken wir an Deutschland).

Selbst im Angesicht dieses schrecklichen Krieges muss man jetzt aufpassen, dass man nicht in einen von schierer Angst getriebenen Reaktionsaktivismus verkommt. Sondern von der Seite der Hoffnung her versucht, Neues zu denken und umzusetzen. Dazu gehören sicher nicht ein unhinterfragtes neues Wettrüsten, sondern – mindestens als Ergänzung zu realistischen Rüstungsprogrammen – Effizienzsteigerungen im Bereich der Diplomatie sowie das Begehen neuer Wege bei präventiven friedensfördernden Massnahmen.

Jede Zeit steht vor neuen Herausforderungen, die von keinen Wahrscheinlichkeitsrechnungen prognostiziert worden sind (man spricht in diesem Zusammenhang von disruptiven Ereignissen). Diese können die Menschen so sehr belasten, dass – wie in der Geschichte verschiedentlich geschehen – Weltuntergangsstimmungen aufkommen können, die dann von irgendwelchen selbst ernannten Apokalyptikern fleissig bewirtschaftet werden.

Mit der Kumulation der erwähnten Problemfelder – eben: dem Klimawandel, der Pandemie und dem unerwarteten Angriffskrieg von Putin auf die Ukraine – ist auch unsere Zeit stark gefordert. Nur wenn wir den Ausgleich zwischen einer realen Signal Angst auf der einen Seite und einer mit der alltäglichen Lebensrealität verbundenen Hoffnung andererseits finden, werden wir genügend Widerstandskraft entfalten können, um nicht in generelle Angst, Depression und Endzeitstimmung zu verfallen.

Der Widerstand der Ukraine zeigt uns, dass ungeahnte Kräfte in schwierigsten Situationen mobilisiert werden können.

Hans Widmer, Luzern


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