Was haben Sokrates und Kant mit der Pandemie zu tun?
Durch die Covid-Pandemie wurde unsere Gesellschaft gründlich durchgeschüttelt. Viel wurde darüber geschrieben: über die Folgen für die Gesundheitsversorgung, über wirtschaftliche und sozialpolitische Konsequenzen, undsoweiter.
Durch die Covid-Pandemie wurde unsere Gesellschaft gründlich durchgeschüttelt. Viel wurde darüber geschrieben: über die Folgen für die Gesundheitsversorgung, über wirtschaftliche und sozialpolitische Konsequenzen, undsoweiter.
Es gibt jedoch neben diesen Faktoren noch andere Bereiche, welche zwar nicht derart offensichtlich zutage treten, die aber ebenfalls bedacht werden sollten. Es handelt sich um die Stellung des Wissens und seine Grenzen in unserer aufgeklärten Zivilisation.
In einer aufgewühlten Krisensituation, in der viele Menschen gestorben sind, und in der wir alle uns als mögliche Opfer fühlen konnten, wurden wir konfrontiert mit den Prozessen der Wissenschaft, sei es mit denjenigen der Virologie, der Pharmakologie oder der praktischen Medizin.
Allen wurde täglich auf sämtlichen Kanälen vor Augen geführt, dass es kein festes Wissen gibt und dass sich die Forschungssituation von Woche zu Woche verändern konnte.
Doch eine solche Situation schafft Unsicherheit sowie Hunger nach Orientierung. Für eine Gesellschaft, die seit den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, mit wenigen Ausnahmen, Stabilitäts- und Fortschrittserfahrungen gemacht hat, fällt zwar nicht gerade die ganze Welt zusammen. Aber das Gehäuse, in dem man sich aufgehalten hat, bekommt arge Risse.
Die Einzelnen, aber auch verschiedene Gruppierungen, wenn nicht gar die ganze Gesellschaft sind gezwungen darüber nachzudenken, ob das Fundament, auf das sie bis anhin so sehr vertraut haben, nämlich auf ein wissensbasiertes Fortschritts-Paradigma, auch in Zukunft noch tragfähig sei. Die Pandemie hat uns dazu gezwungen, inne zu halten und uns in einer Art kollektiver Selbstreflexion zu üben. So gesehen kommen wir nicht mehr darum herum, dem Aufruf von Sokrates zu folgen: «Erkenne dich selbst!» Mit dem möglichen Resultat eines ebenfalls von Sokrates überlieferten reflektierten Wissens des Nichtwissens: «Ich weiss, dass ich nichts weiss».
«Covid» hat uns die Grenzen des Wissens eindrücklich vor Augen geführt. Das Virus mit seiner kaum beherrschbaren Dynamik provoziert uns nicht einfach bloss als Wesen, die sich – sei es individuell oder sei es als Gesellschaft – am vorliegenden Wissen festhalten möchten. Es stellt uns schonungslos vor die Gretchenfrage, woran wir uns orientieren sollen, wenn Wissen versagt.
Vom Immanuel Kant wird der Satz überliefert: «Ich habe das Wissen aufgehoben, um dem Glauben Platz zu machen.» Beim Glauben hingegen geht es nicht mehr so cool vonstatten wie beim Wissen, beim Auflisten von Statistiken und von Wahrscheinlichkeiten. Wir dürfen nicht meinen, dass in einer säkularisierten Welt Glaubensinhalte keine Rolle spielen.
Es gibt eben nicht nur den religiösen Glauben. Auch sehr weltliche Vorstellungen können Gegenstand von glaubender Zustimmung werden – denken wir nur an den Wissenschaftsglauben oder an gegenteilige Imaginationen, wie sie im Umfeld von esoterischen Schulen gerade in Krisenzeiten im Schwange sind. Die vielen Demonstrationen und die dabei hochgehenden Emotionen sind der beste Beweis dafür, dass die Menschen ihren Überzeugungen Ausdruck verleihen möchten, auch wenn diese längst nicht immer wissensbasiert sind.
Die Einsicht von den Grenzen des Wissens im Sinne von Wissenschaftlichkeit, aber auch die Erfahrung, dass sich jenseits eben dieser Grenzen Glaubensvorstellungen im Sinne von Überzeugungen aufdrängen, sind ein Stresstest für die soziale Kommunikation. Dieser Stresstest kann nur bestanden werden, wenn wir die Relativierung des Wissens akzeptieren und die persönlichen Überzeugungen als solche dorthin verweisen und anerkennen, wo sie hingehören: nämlich in den privaten Bereich. Dann wird es möglich sein, dass es nicht zur berühmten Spaltung oder Zersplitterung der Gesellschaft kommt.
Es könnte sogar sein, dass das Paradigma der Wissenschaftsgesellschaft insofern bereichert wird, als das Arsenal von nicht immer begründeten persönlichen Überzeugungen die wissenschaftlichen Fragestellungen bereichern kann. Damit das möglich ist, braucht es eine heitere Gelassenheit. Und keine getriebenen Überzeugungstäter.
Hans Widmer, Luzern
- In Verbindung stehende Artikel:
Wissenschaft, Kunst und Religion müssen sich näher kommen, um die «Ermüdungs-Gesellschaft» zu begreifen und zu retten - 20.08.2023 20:35
taz.de - Forscher über den Zustand der Gesellschaft: «Die Bevölkerung ist erschöpft» - 04.08.2023 07:12
stern.de - Cancel Culture: «Ich glaube, die Bevölkerung ist jede Art der Bevormundung leid» - 21.07.2023 12:39
Gegen Jugendgewalt: Stadt lanciert Kampagne «Gwaltig denäbe» - 01.06.2023 10:48
watson.ch - Volkskrankheit Psyche: Viele Menschen erleiden «anhaltende Krise» - 18.05.2023 14:59
deutschlandfunkkultur.de - Was ist kritisch an der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule? - 07.05.2023 21:45
srf.ch - Der Papst der Armen hat reichlich Probleme - 13.03.2023 18:21
watson.ch - Vor drei Jahren begann der Lockdown - 11.03.2023 12:29
«Sternstunde Philosophie» - Wie wissenschaftliche Aufklärung heute aussehen muss - 01.02.2023 11:12
philomag.de - Was ist Nihilismus? - 20.01.2023 06:42
«aha!»: Das Programm des «Festival des Wissens 2023» liegt vor - 18.01.2023 16:59
srf.ch - «Die Gesellschaft war lange stabil, doch in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten ist viel ins Wanken geraten» - 01.01.2023 20:52
journal21.ch - Philosophieren bedeutet unter anderem, durch triviale Fragen das Gleichgewicht des Gewohnten zu stören - 18.12.2022 19:17
watson.ch - Vier Grafiken zeigen, wie psychische Störungen bei Jugendlichen zugenommen haben - 12.12.2022 19:18
srf.ch - Warum die Wissenschaft und die Politik besser zusammenarbeiten müssen - 01.12.2022 22:29
watson.ch - Besitzer Elon Musk holt gerade schlimme Leute zurück auf Twitter - 29.11.2022 21:21
«Migros Magazin» - «Es ist schwierig, wütende Menschen mit Vernunft zu überzeugen» - 28.11.2022 11:22
journal21.ch - Demokratie braucht gebildete Bürgerinnen und Bürger - 27.11.2022 20:40
Ethik ist wichtig, aber ohne die Hermeneutik als die Kunst des Verstehens verfehlt sie ihr Ziel - 24.11.2022 20:47
taz.de - Neues Buch des Philosophen Pierre Charbonnier über die Zerstörungskraft männlichen Denkens - 08.11.2022 23:07
tagesanzeiger.ch - Vom Gruseln und vom Grauen: Warum wir die Angst brauchen - 31.10.2022 20:32
«NZZ Standpunkte» - Es brennt an allen Ecken, und Europa steht mittendrin - 23.10.2022 13:55
luzernerzeitung.ch - Sind soziale Medien antidemokratisch oder eine Waffe für die Freiheit? - 06.10.2022 09:56
blick.ch - Experte untersucht, was die Jungen irritiert und ängstigt und was dies gesellschaftlich bewirken kann - 15.09.2022 03:52
deutschlandfunkkultur.de - Warum der grosse Denker Jürgen Habermas vor den digitalen Plattformen warnt - 12.09.2022 15:56
taz.de - Diskurs oder Barbarei: Neues Buch des grossen Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas (92) - 10.09.2022 23:56
zentralplus.ch - «Wenn Stress chronisch auftritt, kann er eine ganze Reihe psychischer Krankheiten auslösen» - 08.09.2022 17:54
tagesschau.de - Pseudo-Experten schaffen «Glaubwürdigkeit» - 05.09.2022 19:25
spiegel.de - Nach dem «Corona-Schock» der «Putin-Schock»: Auswirkungen auf Gesellschaft und Realwirtschaft sind massiv - 14.08.2022 22:47
srf.ch - Lehren aus der Pandemie: Was hilft gegen tiefe «Corona-Gräben» in der Gesellschaft? - 07.08.2022 21:41
Neutralität ist ein Werkzeug der Aussenpolitik zur pragmatischen Anwendung in schwierigen Situationen - 06.07.2022 09:14
Uni mit neuem Masterlehrgang für Ethik - 04.07.2022 11:57
Gletschergarten stellt riesiges Forschungsprojekt vor - 20.06.2022 19:33
luzernerzeitung.ch - ETH Zürich verliert einen Platz, bleibt aber beste Uni in Kontinentaleuropa - 09.06.2022 17:47
So will sich die Uni weiter entwickeln - 31.05.2022 19:04
luzernerzeitung.ch - Neuer Chef für Sicherheitsverbund - 05.05.2022 01:35
t-online.de - Der ständige Krisenmodus geht über in Hilflosigkeit und das Gefühl der Überforderung - 03.05.2022 23:33
zeit.de - Robert Habeck nennt Pazifismus einen «fernen Traum» - 16.04.2022 19:11
blick.ch - Wir Wutbürger - 16.04.2022 06:46
srf.ch - Die Pandemie war ein Stresstest für die Demokratie - 30.03.2022 19:08
Gib der Angst Raum, aber nicht mehr, um der Hoffnung Platz zu machen - 28.03.2022 19:21
deutschlandfunkkultur.de - Die Philosophie als Lebensmitte - 24.02.2022 22:10
blick.ch - Wüster Machtkampf bei den «Freiheitstrychlern» - 19.02.2022 23:27
«Arena» - Wie hat die Schweiz diese Krise bis jetzt gemeistert? - 18.02.2022 12:38
sueddeutsche.de - Umstrittene Plattform Telegram sperrt Kanäle - 11.02.2022 17:41
spektrum.de - Kinder und Jugendliche leiden unter Langzeitfolgen in der Psyche wegen «Corona» - 09.02.2022 20:32
geschichtedergegenwart.ch - Das Recht auf Impf-Verweigerung endet, wo sie andere gefährdet - 06.02.2022 21:02
srf.ch - Endzeitangst: Woher sie kommt und was sie befeuert - 06.02.2022 12:32
Warum eigentlich redet niemand in diesem Abstimmungskampf von den «Staatsbauern»? - 02.02.2022 12:38
journal21.ch - «Lügen gehört zur Staatskunst» - 31.01.2022 21:48
Was haben Sokrates und Kant mit der Pandemie zu tun? - 30.01.2022 13:31
watson.ch - Neurobiologin erklärt, warum es die absolute Wahrheit nicht gibt - 28.01.2022 09:21
«Wissenschaften leben von Irrtümern» - 27.01.2022 18:11
«Coopzeitung» - Depressionen sind keine Schwäche - 25.01.2022 11:14
Das sind die ReferentInnen und ihre Themen am «aha - Festival des Wissens 2022» - 16.01.2022 17:31
Grosses Interview mit Demokratie-Experte Michael Hermann, der am 28. Januar im «Südpol» auftritt - 12.01.2022 05:25
Treffpunkt (372): Das ist das detaillierte Programm von «aha - Festival des Wissens 2022» - 11.01.2022 12:55
Eine wetterfeste Demokratie braucht harte Fakten - 01.01.2022 21:02
derstandart.at - Warum nicht alle Menschen auf Verschwörungen gleich anfällig sind - 30.12.2021 17:27
derstandart.at - Psychiaterin: «Man muss nicht jede Meinung wertschätzen» - 28.12.2021 14:53
taz.de - Winfried Kretschmann über Pandemie, Klima und Kant - 27.12.2021 18:36
zeit.de - Promi-Stimmen gegen den Hass und für die Wissenschaft - 19.12.2021 16:30
«Gredig direkt» mit Arzt und Comedian Fabian Unteregger - 16.12.2021 01:17
blick.ch - Lager der Schwurbler schwächelt und schwindet - 15.12.2021 16:33
republik.ch - ETH-Professor mit bitterem Befund über «Institute für nicht angewandte Wissenschaften» - 13.12.2021 05:16
«aha - Festival für Wissen 2022» findet Ende Januar statt - 29.11.2021 15:52
Richard David Precht trat an der Uni Luzern auf: das Video - 26.11.2021 18:47
deutschlandfunkkultur.de - Wenn Wissenschaft und Politik nicht an einem Strang ziehen - 18.11.2021 12:01
rnd.de - «Es ist falsch, Verblendeten das Wort zu erteilen» - 11.11.2021 19:38
rnd.de - «Corona-Krise zeigt wie wichtig Expertenwissen ist» - 08.11.2021 20:02
blick.ch - Grosses Interview mit Erfolgsautor und Philosoph Richard David Precht - 07.11.2021 16:10
deutschlandfunkkultur.de - Sitzt Gott im Gehirn? - 24.10.2021 22:03
blick.ch - Fesseln für Facebook - 10.10.2021 09:53
Hans Ruh war ein herausragender Sozialethiker und ein feiner Mensch - 03.10.2021 17:38
republik.ch - Aristoteles und die Impfgegner - 28.09.2021 05:33
deutschlandfunkkultur.de - So beeinflusst Desinformation den Wahlkampf in Deutschland - 12.09.2021 22:50
Grosses Interview mit Hans Widmer zum Achtzigsten - 06.09.2021 19:26
philomag.de - «Ich darf hoffen, wenn ich tue, was ich soll» - 08.07.2021 20:11
tagesanzeiger.ch - Warum Menschen an Verschwörungs-Mythen glauben - 07.04.2021 17:32
DOSSIER: Donald Trump - 14.01.2021 21:33
zdf.de - «Precht»: Wie bedroht sind unsere Demokratien? - 25.10.2020 15:53
zdf.de - «Precht»: Wer hat die Meinungsmacht? - 21.09.2020 22:24
watson.ch - So macht Trump die Wissenschaft mundtot - 20.09.2020 10:54
phoenix.de - Richard David Precht über «Corona» und die Folgen - 04.09.2020 13:58
Kein Hurra-Patriotismus, kein Personenkult: Diese Feier auf dem Rütli ist rundum gut geraten - 02.08.2020 09:55
journal21.ch - Im Schlamm des Irrsinns - 17.05.2020 19:24
«Sternstunde Philosophie» - Carolin Emcke und Harald Welzer über die Zeit nach «Corona» - 26.04.2020 06:55
Chancen und Risiken im Umgang mit der Informationsschwemme im Netz - 26.04.2020 02:41
zeit.de - Das Virus als Sargnagel der Demokratie - 21.04.2020 08:01
«Sternstunde Philosophie» - Angst, Stress, Einsamkeit: «Corona» und die Psyche - 12.04.2020 09:34
journal21.ch - Zweifler an der helvetischen Demokratie - 09.04.2020 21:17
spiegel.de - Angst frisst Demokratie - 08.04.2020 22:13
Die Spannung zwischen Zweifeln und Gehorsam - 05.04.2020 15:51
DOSSIER: «Corona» - 16.03.2020 13:15
zeit.de - Von den Worten zu den Waffen - 05.08.2019 12:50
«Willisauer Bote» - Gewalt beginnt mit Worten - 30.10.2018 14:39
journal21.ch - Dummschwätzer haben kein Anrecht auf Zuhörerschaft - 22.07.2018 18:53
Erinnerungen an den grossen Intellektuellen und verehrten Kollegen Hans Saner - 31.12.2017 12:28
DOSSIER: Ethik und Religionen - 08.07.2016 13:07
«Sternstunde Philosophie» - Angst, das Grundgefühl unserer Zeit? - 01.03.2015 22:56
Ist der Luzerner Regierungsrat eigentlich von allen guten Geistern verlassen? - 26.10.2014 13:41
DOSSIER: Service public - 17.12.2013 18:02
DOSSIER: Demokratie (Volksrechte, Rechtsstaatlichkeit, Parteienfinanzierung, Transparenz, Lobbying, Korruption, politische Kultur) - 20.12.2012 18:48
DOSSIER: Der öffentliche Raum - 12.10.2012 23:51
DOSSIER: Denkplatz und Bildungspolitik - 01.05.2012 16:10
DOSSIER: Medien (Märkte, Mächte, MacherInnen) - 21.04.2012 19:48
Empörung und Engagement gehören zusammen - 07.11.2011 10:49
Demokratie braucht Dialoge und Debatten - 08.02.2011 00:00