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Gastbeitrag von Hans Widmer

Über den Autor:

Dr. phil. Hans Widmer
(9. September 1941) unterrichtete an der Kanti Alpenquai während 36 Jahren Spanisch, Religionswissenschaften und Philosophie. Er war während zweier Jahre Präsident der Philosophischen Gesellschaft der Schweiz. Von 1996 bis 2010 vertrat er die Gewerkschaften und die SP im Nationalrat. Zuvor war er auch Grossrat und Grossstadtrat.

Bild: Herbert Fischer

06.09.2021

Grosses Interview mit Hans Widmer zum Achtzigsten

Am Donnerstag (9. September) feiert Hans Widmer seinen 80. Geburtstag. Er war SP-Nationalrat und Kantilehrer und präsidiert heute - fit und frisch wie eh und je - die Fernfachhochschule Schweiz und lehrt an der Seniorenuni Luzern. Aus diesem Anlass sprach mit ihm Herbert Fischer. Die Beiden sind seit mehr als 40 Jahren befreundet.

Herbert Fischer: Die Pandemie ist noch nicht überstanden. Was hat «Corona» mit unserer Gesellschaft gemacht?

Hans Widmer: Sie bewirkte tiefgreifendere Veränderungen, als man sich zu Beginn dieses wirklich globalen Ereignisses hätte ausmalen können. Wer hätte gedacht, dass dieses biologische Mini-Biest sich als derart resistent gebärden würde, dass es nicht nur in verschiedenen Wellen immer wieder auftaucht, sondern viele Handlungsmodelle – insbesondere jene der Gesundheitspolitik – ins Wanken bringt?

Wer hätte gedacht, dass es, also das Virus, in der Lage wäre, Werte der Aufklärung – wie das Vertrauen in die Wissenschaft und Toleranz gegenüber Andersdenkenden – derart schwächen würde, dass man heute ohne Uebertreibung von Scharmützeln eines Kulturkampfes sprechen muss. Das Virus hat aber auch gezeigt, wie rasch sich gewisse Subsysteme unserer Gesellschaft an die Pandemiesituation anpassen konnten, wobei ich vor allem an das Bildungs- und an das Wirtschaftssystem denke.

Was hat die Pandemie mit dem einzelnen Menschen gemacht?

Hans Widmer: Diese Frage kann ich – logo – nur persönlich beantworten: Als alternder Mensch, der lange in der Oeffentlichkeit tätig war und der sich gerne zurückzieht, konnte ich mich über den Lockdown zunächst gar nicht beklagen; zumal liebenswürdige Nachbarn den Einkauf besorgten. Allerdings dachte ich schon früh, dass es für junge Menschen und für Kinder eine schwierige Zeit in ihrem Leben sein müsse, da Bewegung und Sozialkontakte in dieser Lebensphase einen ganz anderen Stellenwert haben als im Alter.   

Zu Beginn des ersten Lockdowns (im März 2020) sah es so aus, als würden wir daraus Lehren ziehen. Hast Du damals auch so gedacht?

Hans Widmer: Nur teilweise. Im Bereich des Technischen wurden ja in der Tat Konsequenzen gezogen. Die Behörden haben jeweils verhältnismässig schnell reagiert, sie haben aber oft auch unklar kommuniziert. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie wollten – denken wir nur an die unselige Geschichte mit dem Maskentragen zurück – Fehler beschönigen oder sie hätten gar Angst, der Bevölkerung rechtzeitig klaren Wein einzuschenken.

Die Welt der Medizin und der Pharmaindustrie hat bei der Entwicklung von Tests und von Impfstoffen vor der Welt einerseits ihre einmalige Innovationskraft und Effizienz bewiesen. Aber andererseits – sobald es um die Gewinnmargen sowie um die Verteilung dieser Produkte ging – klappte es entweder zu spät oder überhaupt nicht.  

In Bezug auf jene Kreise, welche beispielsweise hofften, die Vielfliegerei würde nun endgültig Geschichte sein, dachte ich: Schön wäre es, aber à la longue wird sich wegen des Virus kaum wirklich viel ändern. Wenn schon, würde der Klimawandel einen viel nachhaltigeren Druck ausüben. Oder jene, welche – von schönen Gefühlen bewegt – öffentliche Applause organisierten und hofften, das Pflegepersonal würde sehr bald bessere Arbeitsbedingungen erhalten: Ich empfand sie in ihrem Tun zwar als berührend, aber als zu weit weg von der Realpolitik.

Und was ist, nüchtern betrachtet, aus den anfänglichen Hoffnungen geworden?

Hans Widmer: Für eine nüchterne Bilanz ist es noch zu früh, aber was man heute schon sagen kann: Sie ist ambivalent und durchzogen. Sie zeigt, dass rein technisch und zum Teil auch im zwischenmenschlichen Bereich Hervorragendes geleistet wurde. Sie macht aber auch sichtbar, dass eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit dieser Jahrhunderterfahrung namens «Corona» noch aussteht. Sie zeigt uns, dass der Mensch sich nicht mit kurzfristigem rationalem Denken zufrieden gibt; dass er tiefer verstehen möchte, was ein solches Geschehen eigentlich bedeuten könnte. Er möchte wissen, wie er mit seinen Aengsten umgehen soll und wie er lernen kann, mit Unsicherheit und Endlichkeit existenziell und gesamtgesellschaftlich einigermassen fertig zu werden.

Welche Rolle hat die Philosophie gespielt? Konnte sie Antworten geben, die haften bleiben?

Hans Widmer: Wer in einer solchen Krise beim Erklären und Kommunizieren lediglich mit statistischem Material aufwartet, wie das auf der ganzen Welt geschehen ist – woran sicher auch die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, ihre Schuld trägt –, der geht von einer Anthropologie aus, welche im Menschen einen quantifizierbaren Klumpen sieht, der über die inzwischen berühmten drei G definiert wird: geimpft, genesen, getestet.

«Antropologie»: Was zum Geier ist denn das?

Hans Widmer: Die Lehre vom Menschen.

Hoppla! Eigentlich seit ihr doch bloss «Klugscheisser», die meinen, sie seien wichtig. Dabei braucht es Euch gar nicht wirklich.

Hans Widmer: Du hast in einem gewissen Sinne schon recht, denn es ist eine jahrhundertealte Einsicht, dass eigentlich jeder Mensch philosophiert. In den Grundfragen, ob es eine unsterbliche Seele, eine wirkliche und nicht nur eine gefühlte Freiheit und ob es einen Gott gibt, ist man nicht wirklich weitergekommen: Der beste Beweis für diese Tatsache ist, dass es hochintelligente und moralisch integre Menschen gibt, die zu diesen Problemfeldern je verschiedene Antworten geben; seien sie nun ungelernte Arbeiter, gelernte Handwerker, hochspezialisierte Techniker oder sonstwelche akademisch ausgebildete Spezialisten.

Das Gleiche gilt auch für den engeren Kreis der «professionellen» Philosophinnen und Philosophen. Der diesbezügliche mögliche Mehrwert der letzteren besteht bloss darin, dass sie im Verlaufe der Zeit präzisere Begriffsinstrumente entwickelt haben als wir alle, wenn wir mit gesundem Menschenverstand über «Gott und die Welt» philosophieren.

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Ethik und Moral?

Hans Widmer: Darüber herrscht nicht in allen philosophischen Schulen eindeutige Klarheit. Ich persönlich halte mich an die Denktradition, welche sich letztlich von Sokrates bis zu Kant durchgehalten hat: Moral kommt vom lateinischen «mores» und meint: Das, was zu einer bestimmten Zeit in einer Gesellschaft Sitte und Brauch ist. Von da her kommt übrigens der Spruch: «Ich will Dich ‘Mores’ lehren». Demgegenüber geht es in der Ethik um die Frage, ob das, was gerade «Sitte» ist, auch wirklich «der Vernunft» entspricht; wobei die Vernunft das ist, was alle nachvollziehen können, wenn sie sich auf rationales Argumentieren einlassen.

Du bist einem kleinbürgerlich-ländlich-reaktionären Milieu im Seetal – «z Hofdere» und dort in «Ligschwil»  – entsprossen und wolltest eigentlich Pfarrer werden, hast mehrere Semester Theologie studiert. Warum wurde daraus nichts?

Hans Widmer: Den Ausdruck «reaktionär» würde ich nicht gelten lassen. Man könnte ihn ersetzen durch «katholisch-konservativ». Es war das Milieu der sogenannten Stammlande: Eine Welt, die geprägt war von Traditionen, die durchaus einen barocken Anstrich hatten. Alles hatte seine Ordnung, man wusste und kannte nichts anderes. Das zivile Jahr war getaktet durch das Kirchenjahr mit seiner Vielfarbigkeit. Das Schwarz vom Karfreitag konnte ich kaum ertragen, wogegen mich die Prozessionen von Auffahrt und Fronleichnam mit ihrem ganzen «Drumherum» emotional begeisterten. Es kam für mich zu einer Art Einklang zwischen Religion und Natur. Selbstverständlich faszinierte mich auch die Figur des Pfarrers in seinen schönen Messgewändern.

Deine Frage, warum aus meinem früheren Wunsch, Priester zu werden – ganz genau: Missionar – nichts geworden ist, würde ich lieber so ultimativ nicht gestellt wissen. Dieser Wunsch hat mich geradezu aus diesem schönen, aber doch käfighaften Milieu herauskatapultiert. Mich hatte das sogenannte «Kleine Bethlehem» erreicht, ein Werbeheft der Immenseer Missionare. Ich begann, von Afrika und abenteuerlichen Missionstätigkeiten zu träumen und nahm mit den Patres Kontakt auf. Eines Tages kam dann tatsächlich ein «Immenseer» in die Schule und fragte nach meinen Noten und wohl auch nach meinem Verhalten. Offenbar war die Antwort des Lehrers zufriedenstellend.

So ging der «Werbepater» zuerst auf die Baustelle, auf welcher mein Vater als Zimmermann gerade arbeitete und fragte ihn, ob er damit einverstanden wäre, wenn ich ins Progymnasium eintreten würde. Dann ging er zu meiner Mutter und die war in dem Sinne einverstanden, dass sie sagte, wenn es denn so sein müsse, sei das «schon in Ordnung». Als mein bäuerlicher Nachbar mich einige Monate später mit Sack und Pack «einrücken» sah – natürlich nicht ins Militär, sondern nach Rebstein ins Progymnasium – meinte er lachend: «Wenn du dann einmal merkst, dass es zweierlei Leute gibt, kommst Du dann schon wieder zurück.»

Damit habe ich Deine Frage, warum nichts aus dem Wunsch, Missionar zu werden, geworden sei, zu einem Teil beantwortet. Denn das Zölibat wäre für mich wirklich nicht In Frage gekommen. Der zweite Teil der Antwort ist auf der intellektuellen Seite: Das spätere Philosophiestudium hat mir deutlich gemacht, dass ich mit der von der katholischen Kirche gepflegten Dogmatik als Priester grosse Mühe gehabt hätte, weil für mich schwer vorstellbar gewesen wäre, dass menschliches Definieren dem Göttlichen gerecht werden kann.  

Du hast an der Kanti Alpenquai während 36 Jahren, Spanisch, Religionswissenschaften und Philosophie unterrichtet und warst bei den GymnasiastInnen sehr beliebt. Rückblickend: Was fehlt Dir am meisten?

Hans Widmer: Es war eine gute Zeit! Am meisten schätzte ich den «jugendlichen Geist», die «leichte Schulter», eine gewisse Unbekümmertheit, mit der die KantischülerInnen mit dem Alltag umgegangen sind. Von ihnen habe ich viel gelernt, daher fehlt es mir nicht, denn ich versuchte immer wieder, etwas von dieser Haltung zu verinnerlichen. Was ich aber überhaupt nicht vermisse, ist der Todernst gewisser Kolleginnen und Kollegen, welche von der gymnasialen Bildung eine völlig andere Auffassung hatten als ich. Im Sinn der alten Athener ist das Gymnasium ein Trainingsplatz, auf dem Zehnkampf geübt wird mit dem Ziel, herauszufinden, wo man welche Stärken und Schwächen hat, während ich die Gegenkonzeption als spartanisch bezeichnen würde in Anlehnung an die Ausbildung, welche die Rivalen der Athener, nämlich die Spartaner, ihrer Jugend anboten: direkte Ausbildung für den Kampf mit entsprechender Selektion.

Du warst zwölf Jahre Nationalrat für die Gewerkschaften und die SP. Du warst Präsident der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK). Wo steht heute der Forschungs- und Bildungsplatz Schweiz?

Hans Widmer: Die Schweiz steht – wie etwa die Rankings bezüglich der ETH immer wieder zeigen – im Verhältnis zur Einwohnerzahl sehr gut da. Aber lassen wir uns nicht täuschen, die Schweiz macht sich etwas vor, wenn sie meint, sie schaffe diese guten Rankingplätze aus eigener Kraft. Wie übrigens auch im Bereich der Fachkräfte. Sie kauft sich – um es etwas brutal zu sagen – viel Brain weltweit ein. Kommt noch dazu, dass unser geradezu neurotisches Verhältnis zur EU für die Forschung geradezu toxisch ist.

Die Langzeitfolgen eines allfälligen definitiven Ausschlusses aus «Horizon», dem EU-Forschungsprogramm, sind noch nicht absehbar. Aber in jedem Fall droht ein Braindrain: Spitzenforscher werden unserem Land den Rücken kehren. Daher ist es wichtig, dass wir trotz dieser misslichen Lage eine bildungspolitische Vorwärtsstrategie fahren. Also nicht nur PISA- und «Bologna-fixiert» fleissig sein, sondern Innovationspotenziale bei der eigenen Bevölkerung aufspüren und fördern.
 
Und wie stehts um den Denkplatz Luzern?

Hans Widmer: Sicher hat sich Luzern mit den Höheren Fachschulen, mit den Fachhochschulen und mit der Universität erstaunlich schnell und robust entwickelt. Wo wir aber aufpassen müssen ist, dass wir zu unseren Spitzenkräften Sorge tragen. Luzern sollte mehr sein als ein Sprungbrett für Talente. Letztere müssen wir an der langen Leine halten mit hoher Wertschätzung und guter Infrastruktur. Es gilt etwas Aehnliches wie für die Gymnasien: Verschulung im Sinne von durchgetaktetem Lernen von Basics soweit unbedingt nötig und Schaffung von attraktiven Räumen für Kreativität soweit als möglich.

Du warst auch Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission (SIK). Wie denkst Du über die Debatte über den US-Tarnkappenbomber F-35, den Bundesrätin Viola Amherd beschaffen will?

Hans Widmer: Dazu eine Vorbemerkung. Die Beschaffung von Kampfjets für die Luftwaffe ist nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Ländern eine Knacknuss (vergleiche dazu die Eurofighter-Geschichte in Oesterreich). Warum ist das so? Weil kaum jemand den Ueberblick hat bezüglich des Lobbyings, respektive der Interessenlage möglicher Lieferanten und ihrer allfälligen Absprachen. Wenn diese Grenzen schon für Fachgremien gelten, dann erst recht natürlich für die sogenannten Laien, welche in der Demokratie bekanntlich an der Urne den letzten Entscheid haben.

Daher ist es verständlich, dass man den Typenentscheid delegiert hat: nicht mehr das Volk soll über die Typen entscheiden, sondern der Bundesrat.

Verständlich heisst aber nicht in jedem Fall auch akzeptabel. Gerade in Rüstungsfragen besteht in unserem Land eine lange direktdemokratische Tradition. Gewitzigt durch die negative Erfahrung mit dem Entscheid über das schwedische Kampfflugzeug Gripen im Jahr 2014 glaubte die Berner Politik, diesen Traditionsstrang für einmal unterbrechen zu dürfen und sie hat dies demokratisch völlig legitim vollzogen, wenn das Volk der Delegation nach oben auch bloss mit äusserst knapper Mehrheit zugestimmt hat.

Mit der neu lancierten Initiative (für die eben erst die Unterschriftensammlung angelaufen ist), welche ebenfalls völlig legitim ist, könnte nun der Schuss nach hinten losgehen, weil dann ähnliche Diskussionen geführt werden wie beim «Gripen»; Diskussionen über Grundsätzliches wie auch über Technisches. Dies alles zu einer Zeit, da die durch «Corona» verursachten Finanzlücken spürbar werden, aber auch zu einer Zeit, da man weiss, dass Hightech – siehe Afghanistan – nur eine beschränkte Wirkung zeigt. Daher würde ich den «F-35-Tag» nicht vor dem Abend loben, an dem über diese GSoA-Initiative abgestimmt sein wird.  

Bist Du für oder gegen den «F 35»?

Hans Widmer: Ich bin für eine Kampfjetbeschaffung, aber dagegen, dass man man das Volk nicht über einen bestimmten Flugzeugtypen abstimmen lässt. Aus geopolitischen Gründen möchte ich unbedingt ein Produkt aus der EU.  

Bist Du eigentlich mehr SP- oder mehr Gewerkschaftsmitglied, das ist ja nicht immer kongruent?

Hans Widmer: Oft sind SP und Gewerkschaft deckungsgleich. Meistens verstärken sich die beiden. Das ist auch für meine politische Identität der Fall. Wenn es jedoch zu einem Konflikt kommt, dann stehe ich auf der Seite der Gewerkschaften, weil sie immer jene Menschen vertreten, die es vor Ausbeutung unbedingt zu schützen gilt. Es sind die Lohnabhängigen, welche ihre Lebenskraft an der Arbeitsfront gegen Lohn eintauschen müssen. Wenn die Gewerkschaften versagen, dann kann der Kapitalismus ohne Widerstand seinem inneren Gesetz obliegen und dieses Gesetz ist in Stein gemeisselt: Vermehrung des Kapitals.

In der Verhandlungs- und eventuell auch in der Kampfzone der Gewerkschaftsarbeit wird das wahre Gesicht des Kapitalismus materiell sichtbar, während in symbolpolitischen und in gesellschaftspolitischen Fragen die längerfristigen Ausbeutungspotenziale sich weniger deutlich zeigen. Und mit solchen Fragen muss sich die SP als Partei mehr herumschlagen als die Gewerkschaften. Daher positioniere ich mich im Fall eines Konfliktes zwischen SP und Gewerkschaften meistens auf der Seite der Gewerkschaften.

Wie ist die SP aufgestellt und unterwegs?

Hans Widmer: Ich freue mich sehr darüber, dass die SP mit einem Co-Präsidium, welches hervorragend besetzt ist, über eine hohe Medienpräsenz verfügt und immer wieder gute Ideen entwickelt. Nachdem sie meines Erachtens europapolitisch zu lange geschlafen hat, wagt sich die SP nun endlich wieder vor. Mit der ewigen Angst vor möglichen Wählerverlusten spielen lediglich die Machtpolitiker, nicht aber jene, welche wirklich nach Lösungen suchen. Lavieren zur Unzeit hilft nicht weiter.  

Wie sind die Gewerkschaften aktuell aufgestellt und unterwegs?

Hans Widmer: Die verschiedenen Gewerkschafts-Fusionen der letzten Jahre haben sicher enorm viele Kräfte gebunden, sie waren aber die richtige Antwort auf die Konzentrationen seitens der Arbeitgeber. Leider kämpfen auch die grossen Verbände der Gewerkschaften auf unwirtlichem Terrain, wenn ich an die subtilen betriebswirtschaftlichen und arbeitspsychologischen Mechanismen in der heutigen Arbeitswelt denke. Trotzdem würde ich sagen, ihre Chancen sind sehr wohl intakt, falls sie über ebenso gut geschultes Personal verfügen wie die Gegenseite.

Mit ideologisch versierten Bürokraten ist heute weder auf der Seite der Gewerkschaften noch auf derjenigen der Arbeitgeber eine humane Gestaltung der Arbeitswelt möglich. Wenn schon die Abschaffung des Kapitalismus ein kaum erreichbares Ideal ist, dann ist seine Humanisierung ein Ziel, das die Alltagsarbeit der Gewerkschaften prägt. Gewerkschaften sind schlicht und einfach unverzichtbar.

Du warst auch Mitglied der aussenpolitischen Kommission des Nationalrates. Wie soll es aus Deiner Sicht im heiklen Verhältnis der Schweiz zur EU weitergehen?

Hans Widmer: Es braucht eine Vorwärtsstrategie. Die Schweiz muss die neue geopolitische Lage erkennen und aus der Ecke der Rosinenpicker rauskommen. Dem Volk ist endlich klarer Wein einzuschenken. Und all jenen, die mit China kuscheln, ist endlich klar zu machen, dass wir hier in Europa und nicht in Peking zuhause sind.

Du hast zwei Enkelinnen: Welche Welt hinterlassen wir der jungen Generation – die ja ihrerseits wieder Kinder in die Welt stellen wird –, falls es mit dem Klima so weiter geht?

Hans Widmer: Wir stehen zwar nicht vor dem Weltuntergang, aber wir befinden uns in einer sehr prekären Lage. Es besteht wirklich noch Raum zum Hoffen und das möchte ich der kommenden Generation vermitteln. Weltuntergangsstimmung zu verbreiten wäre eine Katastrophe und würde zu Resignation führen. Was es braucht sind Motivation und das Aufzeigen von Lebensmodellen, welche das Negativum des Konsumismus nicht weiterhin mit sich schleppen. Dies allerdings, ohne in einem grauen und lebensfeindlichen Asketentum zu landen. Das Leben braucht ein gewisses Mass an Konsum, aber nicht in ihm findet es seinen Sinn, sondern in sich selbst, in der Lebensfreude, wie man sie bei spielenden Kindern beobachten kann.

Du bist ein guter Kenner von Ernst Bloch, über dessen «Prinzip Hoffnung» Du doktoriert hast, den Du oft zitierst. Was fasziniert Dich an ihm? Was folgt daraus im Hier und Jetzt?

Hans Widmer: Er sieht nicht nur, was «de facto» ist, sondern auch, was «möglich» ist. Die Möglichkeiten, wie sie sich im Mitmenschen, aber auch in der Natur zeigen, wenn man sie denn sieht, sind die Grundlage dafür, dass man auch in schwierigen Zeiten Auswege findet, welche uns bis jetzt als unmöglich vorgekommen sind. Möglichkeiten bieten dem Einzelnen und ganzen Gesellschaften Perspektiven. Wenn man borniert nur auf Fakten schaut und zurückblickt, dann verliert man das Sensorium für das Mögliche, für die Innovation.

Du verwendest oft die Losung «Sapere aude». Woher kommt sie, was sagt sie aus und warum ist sie in Gesprächen mit Dir so etwas wie ein Running Gag ?

Hans Widmer: Immanuel Kant braucht diesen Spruch und er will damit sagen: Mach die Augen auf und wage es, deinen Verstand zu gebrauchen und Wissen zu generieren; hinzuschauen auf das, was ist, auf das, was es an Möglichkeiten geben kann, an Potenzialen im Guten wie Schlechten: das braucht Mut.

Du kennst die Werke vieler grossen DenkerInnen: Wer hat Dich am meisten beeindruckt, eventuell auch geprägt?

Hans Widmer: In der Jugend wurde ich vor allem an Aristoteles geschult, aber auch an Thomas von Aquin. Später begeisterte ich mich für Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer und auch für Denker wie Ernst Bloch und Ortega y Gasset.

Wer sind heute grosse DenkerInnen, die Dich beeindrucken?

Hans Widmer: Da ich im Verlaufe der Zeit so viele gut gemeinte philosophische Landschaften entweder bloss gesehen oder aber gar durchwandert habe, bin ich zur Ueberzeugung gelangt, dass niemand über die ganze Wahrheit verfügt. Also setzte ich mich nur noch mit Denkansätzen auseinander, die mir als die für mich Stimmigsten erscheinen. Im Zusammenhang mit meinem Lieblingsphilosophen Ortega y Gasset bin ich auf eine Denkbewegung gestossen, die während meiner Ausbildung eher negativ – wenn überhaupt – erwähnt wurde. Es ist der amerikanischen Pragmatismus eines William James und vor allem eines Richard Rorty, welchen es ein Anliegen war, das Ideal der absoluten Wahrheit zu relativieren und sich der Lösung praktischer Probleme zuzuwenden. Auch Jürgen Habermas begleitet mich seit Jahren, aber sein Nachteil ist, dass er zwar unerreichbar präzise formuliert, aber einem breiteren Publikum nur schwer zugänglich ist.

Du wirst am Donnerstag (9. September) 80-jährig. Was kommt nach dem Tod?

Hans Widmer: Zuerst muss er «kommen», der Tod, und davor habe ich respektvolle Angst. Und dann … – ich weiss es nicht, niemand weiss es und das lässt Platz zum Hoffen. Zum Hoffen, dass Alles im Ganzen seinen Platz hat, dass das Sein ursprünglicher ist als alles Negative.

Gibt es Gott?

Hans Widmer: Die Frage ist sehr persönlicher Natur und sie ist auch stark von der Umschreibung des Gottesbegriffes abhängig. In diesem Sinne ist der Gottesbegriff die grösste metaphysische Projektionsfläche, die es gibt. Wenn man Gott als das Tragende und Schaffende von allem, was es gibt, umschreibt: wer könnte da sagen, für ihn gebe es dieses Tragende nicht? Wenn es aber darum geht, Gott als dreifaltiges personales Wesen zu verstehen und daran zu glauben, wird es schon schwieriger. Wieweit sind das alles Metaphern, wertvolle Bilder, die uns einzelne Seiten des Urgrundes zeigen, wieweit kann man das dann wörtlich nehmen, zumal auch die Sprache derer, welche solche Bilder von Generation zu Generation weitertragen und verfeinern, einem geschichtlichen Wandel unterworfen sind.

Der philosophische Gottesbegriff im Sinne des tragenden Grundes ist für mich eine Selbstverständlichkeit, der theologisch-christliche eine konkrete Facette dessen, was der tragende Grund den Menschen zu zeigen vermag, wenn sie sich selber als Personen verstehen. Sicher ist, der philosophische Gottesbegriff spricht mich unmittelbar an und ist daher auch kein Thema des Glaubens, während der viel differenziertere der christlichen Dogmatik für die Vernunft schwer zu fassen ist und daher wirklich in den Bereich des Glaubens gehört: für mich immer wieder Anlass zum Zweifeln, wobei der Zweifel durchaus eine defizitäre Form des Glaubens sein kann.

Interview: Herbert Fischer, Redaktor lu-wahlen.ch, mit Hans Widmer seit über 40 Jahren befreundet, Luzern

Siehe weiter unten auf dieser Seite: Kommentar von Historiker und Autor Pirmin Meier (Aesch) zu diesem Interview.

Und siehe ganz unten auf dieser Seite: Beiträge von Hans Widmer für lu-wahlen.ch.


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Pirmin Meier aus Aesch LU

Dienstag, 07.09.2021, 06:37 · Mail  Website

Für mich war und ist Hans Widmer ein in jeder Hinsicht nicht nur differenzierter und differenzierender, sondern Massstäbe setzender Denker und Pädagoge; über Jahrzehnte nicht nur ein einzigartiger Kollege von weitem Horizont sowie Grösse und Grosszügigkeit in der Perspektive, sondern zumal eine der wenigen in der Zentralschweiz lebenden Persönlichkeiten, die aufgrund ihres intellektuellen Formates jenseits von Klischee-Denken als Orientierungsgrössen gelten konnten und können.

Jenseits von Aufdringlichkeit und Wichtigtuerei betreibt Hans Widmer das Geschäft des Denkens, hoffentlich noch lange.

Zum Interview: Bei der Frage ganz am Schluss sei darauf verwiesen, dass über die intellektuelle Mystik von Meister Eckhart über Ignaz Paul Vital Troxler bis in die Gegenwart hinein eigentliche geistige «Bohrtürme» vorhanden wären, bei denen, und dank denen, in der Frage nach Gott über einen billigen Agnostizismus hinaus (den ich Hans Widmer nicht unterstelle) noch erweiterte Perspektiven aufgetan werden könnten.

Für Hans Widmer: Ad multos annos - das wäre für uns alle oder fast alle ein Gefallen, den Du uns tun könntest. Herzliche Gratulation.

Nebst dem Umweltschützer und See-Geografen Pius Stadelmann bleibt für mich Hans Widmer unter den Lebenden, bzw. noch Lebenden fürwahr ein Heimatfaktor, was ich ganz unsentimental und doch nicht nur intellektuell, sondern emotional ohne wenn und aber hier eingestanden haben möchte!

Pirmin Meier, alt Gymnasiallehrer und wenn es geht, Mitdenker von und mit und dank Hans Widmer, Aesch LU

 
 
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