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Gastbeitrag von Hans Widmer

Über den Autor:

Dr. phil. Hans Widmer
(9. September 1941) unterrichtete an der Kanti Alpenquai während 36 Jahren Spanisch, Religionswissenschaften und Philosophie. Er war während zweier Jahre Präsident der Philosophischen Gesellschaft der Schweiz. Von 1996 bis 2010 vertrat er die Gewerkschaften und die SP im Nationalrat. Zuvor war er auch Grossrat und Grossstadtrat.

Bild: Herbert Fischer

07.11.2011

Empörung und Engagement gehören zusammen

Vor dem Ethikforum Luzern hat Hans Widmer am 3. November 2011 im «Lukassaal» einen Vortrag über Stéphane Hessel und sein weltweit überaus erfolgreiches Buch «Empört Euch» gehalten. Widmer stellt sein Manuskript freundlicherweise lu-wahlen.ch zur Verfügung.

An den Beginn meiner Ausführungen möchte ich auf eine verlegerische Erfolgsgeschichte hinweisen. 

Mit über 90 Jahren schreibt vor etwa zwei Jahren ein gewisser Stéphane Hessel eine gerade mal gute 20 Seiten umfassende Schrift, die in kurzer Zeit in Frankreich beinahe drei Millionen mal aufgelegt wird. Übersetzt wird sie in rekordverdächtiger Kurzzeit in sage und schreibe 33 Sprachen.

Den Titel «Empört euch», so erklärte der Autor vor kurzem in Zürich, hat nicht er, sondern seine Verlegerin gesetzt. Und sie habe anfänglich für die französische Auflage mit etwa 8000 Exemplaren gerechnet. 

Die Befehlsform «Empört euch» heisst auf spanisch «Indignáos» und  wurde zur Bezeichnung für eine Massenbewegung, die Bewegung der sogenannten Indignados, auf deutsch die «Bewegung der Empörten».

Empörung wird heute massenhaft und weltweit zum Ausdruck gebracht

Sie hat insbesondere im krisengeschüttelten Spanien grosse Verbreitung gefunden, aber nicht nur dort. 

Inzwischen macht die massenhaft zum Ausdruck gebrachte Empörung in verschiedenen Ländern Schlagzeilen, denken wir nur an die Occupy-Bewegungen oder an die Empörungs-Bewegungen in Israel oder in Chile.  

Selbstverständlich sind die Inhalte der Empörungen nicht in allen Ländern gleich, aber sie werden überall getragen von dem, was wir als eine Art Leidenschaft der Empörung über untolerierbare Zustände bezeichnen können, welche im Zentrum der kleinen Streitschrift von Hessel steht.

Übrigens hat er der kleinen Schrift «Empört euch» vor kurzem ein grosses Interview folgen lassen, welches unter dem Titel «Engagiert euch» erschienen ist. 

In diesem Werk kommt die klare Forderung zum Ausdruck, dass «Empörung» allein nicht genügt, um in dieser Welt etwas zu bewegen, dass sie nur der erste Schritt ist und dass ihm unbedingt ein zweiter  folgen muss, nämlich jener des Engagements.  

Wer ist Stéphane Hessel und welches sind die Botschaften, die er vermittelt?

Er wurde 1917 in Berlin geboren. Seine Familie, der Vater war Jude, zog 1924 nach Paris, wo er 1939 in die Eliteschule École normale supérieure eintrat. 

Während des Krieges engagierte er sich in der Résistance-Bewegung, fiel aber in die Hände der Nazis und wurde in das Konzentrationslager Buchenwald gesteckt, aus dem er mit viel Glück durch die Annahme einer neuen Identität fliehen konnte.

Nach dem Krieg wurde er französischer Diplomat und wirkte 1948 mit bei der Formulierung der UNO-Menschenrechtsdeklaration.

1977 wurde er Botschafter für Frankreich bei der UNO in Genf.

In den letzten Jahren engagierte er sich – wohlverstanden als Jude – für die Sache der Palästinenser.  

Aus diesem verkürzten Lebenslauf lässt sich leicht verstehen, dass die folgenden Erfahrungen für das beeindruckende lebenslange  Engagement von Hessel von entscheidender Bedeutung sind:

. die französische Résistance gegen die Gefahr des Nationalsozialismus,

. die Erfahrung im Konzentrationslager Buchenwald 

. die Mitwirkung bei der Ausarbeitung der UNO-Menschenrechtsdeklaration 

Ihm geht es darum, den Menschen von heute von diesen Erfahrungen zu berichten und sie dazu aufzurufen, für den Erhalt der Errungenschaften seiner Generation in der Résistance und im befreiten Frankreich zu kämpfen:

. für die sozialstaatlichen Einrichtungen, 

. für die Menschenrechte,

. für die Pressefreiheit.

Die Macht des Geldes – so Hessel – werde heute über alles gestellt und es sei ein Skandal, dass der Abstand zwischen Armen und Reichen noch nie so gross gewesen sei wie heute. Die Diktatur der Finanzmärkte sei derart mächtig, dass sie den Frieden gefährde und die Werte der Demokratie unterlaufe: Grund genug zur Empörung und zum Engagement.

Welche geistige Haltung steht hinter dem Engagement von Hessel? 

Hessel blickt in seiner Schrift auch auf seine geistige Biographie zurück und weist darauf hin, dass er bei seinen Einsätzen von der Philosophie Jean Paul Sartres – der übrigens einige Jahre vor ihm an der École supérieure studiert hatte – stark beeinflusst wurde.

Von diesem atheistischen Existenzialisten übernahm er die folgende – wie er schreibt – «anarchistische» (p.11) Botschaft, nämlich die, dass es immer um die «Verantwortung des Einzelnen» geht, «ohne Rückhalt, ohne Gott. Im Gegenteil: Engagement allein aus der Verantwortung des Einzelnen.»(p11)

Er kommt auch auf seinen natürlichen Optimismus zu sprechen, der ihn von der Philosophie Hegels fasziniert sein liess.

Hegel versucht der Geschichte einen Sinn zu geben: Sie ist nämlich nach ihm jener dialektische und damit auch mühsame Prozess, der die Freiheit erarbeitet, sodass am Schluss der demokratische Staat entwickelt werden kann.

Dieses Geschichtsverständnis stellt Hessel der pessimistischen These von Walter Benjamin über den Begriff der Geschichte gegenüber; die Geschichte – so Benjamin – sei auf eine Anhäufung von Katastrophen zurückzuführen, auf das Streben nach immer mehr Fortschritt. 

Auf Anhieb mag es erstaunen, dass Hessel seine Schrift «Empört euch» mit dem Bild Angelus novus von Paul Klee beginnen lässt. 

Erstaunen deswegen, weil dieses Aquarell eng mit der pessimistischen Geschichtsauffassung von Walter Benjamin verbunden ist. Benjamin hat es nämlich im Jahre 1940, seinem Todesjahr, ganz im Sinne seiner Auffassung der Geschichte als einer einzigen Katastrophe gedeutet:

Hessels lebenslange Disposition zum Einsatz für eine bessere Welt ist demnach sowohl psychologisch als auch philosophisch verankert, 

. nämlich in seiner persönlichen optimistischen Grundgefühlslage  

. in der sartre’schen These vom Engagement als Kern des   Menschseins 

. wie auch in der Hegelschen Geschichtsphilosophie.     

Hessels dezidierte Sanftheit

Der «Tagesanzeiger» vom 28. Oktober 2011 p.19 titelt den Bericht über den Zürcher Auftritt Hessels wie folgt: «Der sanfte Prediger der Menschenrechte»

Leider war ich bei diesem Auftritt nicht dabei, aber nur schon die Texte von Hessel strahlen in der Tat so etwas aus wie Sanftheit. Eine Sanftheit, die sicher in Verbindung zu bringen ist mit der tiefen Überzeugung, dass die Geschichte dann nicht zu einer Katastrophe wird,

. wenn wir auf der einen Seite nicht gleichgültig sind und 

. wenn wir beim Einsatz für eine bessere Welt niemals die Gewalt, sondern immer den Dialog suchen.

Es ist aber auch eine Sanftheit, die sehr bestimmt werden kann, ohne aber je einem ätzenden Moralismus zu verfallen. 

Die Dezidiertheit dieser Sanftheit kommt etwa dann zum Ausdruck, wenn er sich mit der Gleichgültigkeit auseinandersetzt . 

«Ohne mich», schreibt er, «ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann.» (13) 

Wer angesichts der heute anstehenden Menschheitsaufgaben – eben: etwa dem stets grösser werdenden Graben zwischen Armen und Reichen oder der noch lange nicht durchgesetzten Ansprüchen der Menschenrechte – gleichgültig bleibe, dem sei «eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhanden gekommen, die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement.» (13) 

In der komplexen und interdependenten Welt gibt es genug konkrete Situationen, «die» – wie er uns zuruft – «euch veranlassen, euch gemeinsam mit anderen zu engagieren.» (15) 

Er selber hat seine Fähigkeit zur Empörung auch im hohen Alter nicht verlernt. 

Hessels klare Stellungnahme in der Palästinenserfrage

Zwar taucht immer wieder seine «Empörungsgeschichte» auf; etwa, wenn er in die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurückblickt, aber empört engagiert er sich auch heute noch für die mehr als 3 Millionen palästinensischen Flüchtlinge, «die» – wie er provozierend schreibt – «in einem Gefängnis unter freiem Himmel» (p.16) leben. 

Entrüstet formuliert er, der selber Jude ist, den Satz: «Dass Juden Kriegsverbrechen begehen können, ist unerträglich.»

Angesichts der Palästinafrage werden seine optimistische Geschichtsauffassung und seine Forderung nach Gewaltlosigkeit beinahe brüchig, wenn er resigniert feststellt, dass die Geschichte nicht viele Beispiele von Völkern kenne, «die aus ihrer Geschichte lernen.» (17) oder wenn er die folgende rhetorische Frage stellt:

«Ist es wirklich realistisch zu erwarten, dass ein mit unendlich überlegenen militärischen Mitteln besetzt gehaltenes Volk gewaltlos reagiert?» (17)

Nur die Gewaltlosigkeit bringt die Geschichte weiter

Dann aber ringt er sich unter dem Titel «Wir müssen den Weg der Gewaltlosigkeit gehen lernen» (18) zur klaren These durch, dass nur gewaltlose Hoffnung den Gang der Geschichte im Sinne der Menschenrechte, des Friedens und der Demokratie wirksam beeinflussen kann. 

Damit distanziert er sich in der Frage der Gewalt sehr klar von Sartre, der sich während Jahren – etwa im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg – für die Terroristen stark machte, der aber immerhin gegen Ende seines Lebens von einer harten Gewaltbejahung Abstand nahm. 

Hessel setzt seine Hoffnung im Sinne von Nelson Mandela und Martin Luther King auf die Gewaltlosigkeit. Er verurteilt jegliche terroristische Gewalt, weil sie bloss Hass aufbaue und damit neue Zerstörung. Es müsse gelingen,

«dass Unterdrücker und Unterdrückte über das Ende der Unterdrückung verhandeln.» (19)

Warum entfaltet die Schrift «Empört euch» eine derart grosse Wirkung? 

Man könnte ja beim Stilistischen beginnen. Sie ist kurz und einfach geschrieben: selbst, wenn sie philosophische Themen angeht, bleibt sie schlicht und beinaht formelhaft ohne die Begriffsrabiatheit gewisser Schriften aus den Zeiten der 68-Bewegung. 

Aber das kann nur ein Element der Strahlkraft von «Empört euch» sein. Ein anderes, wahrscheinlich das gewichtigere, ist das beinahe Formelhafte in seinem Vortrag. Ich zitiere die «Botschaft der Hoffnung, dass die Gesellschaften unserer Zeit Konflikte durch gegenseitiges Verständnis in wachsamer Geduld werden lösen können, auf der Grundlage unabdingbarer Rechte, deren Verletzung, von welcher Seite auch immer, unsere Empörung auslösen muss.» (19)

Eine solche Botschaft – mitgeteilt von einem Menschen, dessen Leben    geradezu die glaubwürdig personifizierte Illustration dieser Botschaft ist – muss bei Menschen ankommen, 

. welche nicht mehr bereit sind, den Mainstream-Informationen der  Massenmedien blinden Glauben zu schenken und ihren ständigen Konsumaufrufen zu folgen, 

. bei Menschen, die nicht mehr bereit sind, wegzuschauen, sondern die sich in irgendeiner Weise engagieren, aber nicht einfach in den Gefässen einzelner Parteien. 

Die Politik braucht die Empörungsbewegungen – aber die Empörungsbewegungen brauchen auch die Politik

Das Empörungspotenzial dieser unzähligen Menschen war und ist nicht nur im Umfeld des sogenannten Arabischen Frühlings sehr gross, sondern auch in den USA und in vielen Ländern Europas, selbstverständlich auch bei uns.

In der Tat kommt kein engagiertes gesellschaftsveränderndes Handeln aus ohne gefühlsmässige Betroffenheit. 

Natürlich gibt es verschiedene Varianten von solchen gefühlsmässigen Betroffenheiten und die Empörung ist sicher bloss eine von ihnen. 

Das Gefühl «Genug ist genug» kann viele – vor allem junge Menschen – auf Strassen und Plätze treiben und das ist im Sinne von Druckerzeugung für politische Veränderungen von grosser Bedeutung. 

Die basisdemokratisch und dezentral netzartig organisierten Indignados-Bewegungen, welche sich zum Teil ausdrücklich von den Parteien distanzieren, laufen aber Gefahr, nach einer gewissen Zeit an Schwung zu verlieren, weil ihre Forderungen sehr abstrakt sind. 

In der Umsetzung kommt es jedoch auf die Details an, die ihrerseits nur über die Kleinarbeit der Alltagspolitik realisiert werden können. 

Für mich sind die einzelnen Bewegungen der Empörung aber trotz der Defizite an Programmatischem von historischer Bedeutung und die Schriften von Hessel haben ihnen eine prominente Stimme gegeben. 

Diese bis jetzt meist gewaltlos verlaufenen Bewegungen sind so etwas wie der Aufschrei des kollektiven Gewissens von Gesellschaften, 

. die entweder im Bereich des Menschenrechtlich-Demokratischen, 

. der Reichtums- und Ressourcenverteilung oder 

. des Ökologischen in untolerierbare Defizite hineingeraten sind. 

Wenn uns Hessel zuruft «Seht euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt» (15 ), dann hält er sich an den alten Grundsatz der Ökologiebewegung: «Global denken, lokal handeln». 

In diesem Sinne sind Hessels Schriften eine Herausforderung für alle, welche noch – in welcher Intensität auch immer – an eine gute Zukunft glauben.

Meine Damen und Herren, ich schliesse mein Input-Referat mit dem Wunsch, uns mit unserem eigenen Empörungspotenzial – und damit auch mit unserem Potenzial für Ihr eigenes Engagement; nicht mit einem Engagement en général, sondern einem Engagement im konkreten Hier und Jetzt.

Nur, wenn wir Empörung und Engagement zusammensetzen, kann sich der Schlusssatz von Hessels Streitschrift «Empört euch» bewahrheiten:

«Neues schaffen, heisst Widerstand leisten, Widerstand leisten, heisst Neues schaffen.» (p.21)  


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