das gesamte meinungsspektrum lu-wahlen.ch - Die Internet-Plattform für Wahlen und Abstimmungen im Kanton Luzern

Spenden für Verein lu-wahlen.ch

Diese Website gefällt mir! Um weitere Beiträge darauf zu ermöglichen, unterstütze ich lu-wahlen.ch gerne mit einem Betrag ab CHF 10.-

 

 

Gastbeitrag von Hans Widmer

Über den Autor:

Dr. phil. Hans Widmer
(9. September 1941) unterrichtete an der Kanti Alpenquai während 36 Jahren Spanisch, Religionswissenschaften und Philosophie. Er war während zweier Jahre Präsident der Philosophischen Gesellschaft der Schweiz. Von 1996 bis 2010 vertrat er die Gewerkschaften und die SP im Nationalrat. Zuvor war er auch Grossrat und Grossstadtrat.

Bild: Herbert Fischer

20.08.2023

Wissenschaft, Kunst und Religion müssen sich näher kommen, um die «Ermüdungs-Gesellschaft» zu begreifen und zu retten

In der Publikumspresse, aber auch in der Ratgeberliteratur und in soziologisch-philosophischen Abhandlungen wird in letzter Zeit auffallend häufig über Müdigkeit und Burnout-Erkrankungen geschrieben. Dabei kommen oft auch die psychologischen und psychiatrischen Folgen solcher Ermattungs-Phänomene zur Sprache.

Besonders Berichte über junge Menschen, die an solchen Symptomen leiden, machen betroffen und nachdenklich. Unter«In Verbindung stehende Artikel» finden sich solche Beispiele von Berichten, Analysen und Kommentaren zu diesem Thema, wie sie in den Medien immer wieder zu lesen und hören sind.

In spezialisierten Beratungsstellen des Staates sowie in zivilgesellschaftlich getragenen Auffangnetzen erbringen fachlich bestens qualifizierte und hochmotivierte Spezialistinnen und Spezialisten professionelle Leistungen. Sie greifen auf wissenschaftsbasiertes methodisches Wissen zurück und versuchen durch ständige Weiterbildungen auf dem neuesten Stand der Forschung zu bleiben – Respekt!

Gleichwohl vermute ich, dass der von vielen Kreisen der Gesellschaft getragene Therapie-Effort zu wenig Tiefgang hat. Kritische Fragen drängen sich auf. Zum Beispiel:

Wie weit können die angedeuteten Therapieaktivitäten jenen Bedürfnissen gerecht werden, die gar nicht Forschungsgegenstand der positivistisch ausgerichteten Wissenschaft sein können?

Eine Wissenschafts- und Forschungsmaschinerie – und von ihr sind die angewandten Therapiepraktiken in hohem Masse abhängig –, die alles ausklammert, was nicht gemessen, gewogen und gezählt werden kann, soll keineswegs in Frage gestellt werden; wohl aber deren Dominanz, welche die Denkungsart unserer Gesellschaft unbemerkt eingefärbt hat.

So kommt es, dass immer mehr Menschen glauben, es verdienten nur jene Phänomene das Qualitätslabel «Realität», die das engmaschige Sieb der wissenschaftlichen Anforderungen passiert haben.

Zwar ist ein durch die Optik der Wissenschaftlichkeit eingegrenztes Denken «cool», aber es vermag ganze, für den Menschen wichtige Fragebereiche nicht abzudecken. So haben in der Wissenschaft, wie sie heute verstanden und vom Staat getragen wird, ganze «Wertecluster» keinen Platz; denken wir beispielsweise an die Frage nach dem Sinn des Ganzen, die ihrerseits in einem Zusammenhang steht mit der motivierenden Erfahrung von «Erfüllung».

Zweifellos hat die strikte Abtrennung der Wissenschaft vom Wertebereich wie auch von metaphysischen Fragen für den materiellen Fortschritt viel gebracht. Darum wäre es verheerend, auf diese grossartige Kulturleistung und ihre Weiterentwicklung zu verzichten.

Immer bedeutsamer aber wird es, das Monopol der wissenschaftlich-analytischen Einstellung zur Welt einer Reflexion und damit auch einer Relativierung zu unterziehen.

Wenn Kunst und Religion mit ihren existenziellen und über das wissenschaftlich Messbare hinausgehenden Fragestellungen selbstbewusster in den gesellschaftlichen Diskurs eingreifen würden, statt sich entweder nur mit Eliten oder dann mit rückwärtsgewandten Traditionalisten zu beschäftigen, dann könnte ein Klima entstehen, das zwar die Wissenschaft bejaht und fördert, aber dennoch oder gerade deswegen sich nicht von ihr bevormunden lässt.

Kunst und Religion beackern andere Dimensionen: das Abgründige menschlicher Gefühle und wissenschaftlich kaum erklärbare Sehnsüchte.

Wenn wir – wie die Katze vor dem Mäuseloch – nur noch auf die erfolgreichen Outputs der Wissenschaft starren und uns für die Kulturleistungen Kunst und Religion beinahe entschuldigen, kastrieren wir uns selber.

Wir nehmen dann unsere innersten Bedürfnisse nicht ernst genug und das könnte sich rächen: Was zutiefst zu uns gehört und sich nicht ausleben kann, braucht entweder viele Energien, um unterdrückt zu werden.

Oder es braut sich eine Art Generalfrust zusammen, der den Boden bereiten kann für Depressionen und Hoffnungslosigkeit inmitten einer Wohlstandsgesellschaft, die auf der Oberfläche die meisten äusserlichen Probleme in den Griff kriegt.

So verwundert es überhaupt nicht, dass wir in letzter Zeit immer wieder auf Medienberichte stossen, die von «überlaufenen» Psychiatrie-Praxen, «überfüllten» Kliniken und einem generellen Notstand in all jenen Institutionen lesen, die ich hier eingangs erwähnt habe. Eine Grundversorgung bei akuten psychischen Problemen gehört aber zu einem leistungsfähigen Service public.

Es reicht nicht, wenn unsere Spitäler bei Herzinfarkten, jedwelchen Unfällen oder anderen Notfällen ihre fraglos kompetenten Leistungen erbringen. Sie müssen auch in der Lage sein, nach den Erstabklärungen durch Psychiater mit eigenen Praxen allenfalls auch stationäre Betreuungen zu leisten. Und die können bekanntlich Monate dauern.

Es kann und darf nicht sein, dass Menschen mit akuten Symptomen monatelang auf Termine warten müssen. Ausdruck dieses gravierenden Problems ist, was unlängst auf blick.ch zu lesen war;

nämlich, dass unter Jugendlichen ein eigentlicher Schwarzmarkt mit Antidepressiva entsteht (siehe unter «In Verbindung stehende Artikel»: Eintrag vom 27. Juli 2023); vergleichbar mit dem Handel mit Drogen. Das ist doch ein Alarmzeichen!

Was wir heute brauchen, sind darum eine schonungslose Beschreibung der Problemlage einer durch die unhinterfragte Dominanz der positivistisch eingeengten Wissenschaft verödeten Welt sowie einen vertieften Dialog zwischen den Kulturleistungen Wissenschaft, Kunst und Religion.

Nur so können wir die verschiedenen Quellen, die im gestressten Menschen von heute noch immer fliessen, zusammenführen zur Bewältigung der grössten Herausforderung unserer Zeit: zur Ermöglichung eines «erfüllten» Lebens- und Überlebens unserer Gattung im Dialog mit der Gesamtheit der Natur. Wenn das gelingt, können auch die eingangs angesprochenen Probleme der «Müdigkeits-Gesellschaft» mit ihrer Sinnentleerung ihren Schrecken verlieren, weil plötzlich neue Kraftquellen fliessen.

Hans Widmer, Luzern


Teilen & empfehlen:
Share    
Kommentare:

Keine Einträge

Kommentar verfassen:

Ins Gästebuch eintragen
CAPTCHA-Bild zum Spam-Schutz