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16.01.2022

«Süddeutsche Zeitung» - «Radikalen-Erlass» und «Berufsverbot»: Die Opfer müssen rehabilitiert werden

Ein böses, ein giftiges Wort hat Jubiläum: das Wort «Berufsverbot»; es wird fünfzig Jahre alt. Es ist ein Wort, bei dem ein aufrechter Demokrat Pickel, Ausschlag und Krätze kriegt. Mit Berufsverboten ist vor Jahrzehnten eine ganze Generation junger Menschen traktiert worden.


Sie durften nicht Lehrer, Lokführer oder Postbote werden, weil sie irgendwann bei irgendeiner angeblich anrüchigen Demonstration, etwa gegen den Vietnam-Krieg, dabei gewesen waren. Grundlage für das Berufsverbot war der «Radikalenerlass» vom 28. Januar 1972.

1972, schwarzer Freitag

Es war dies ein radikaler Erlass und der Tag war ein schwarzer Freitag für die bundesdeutsche Demokratie: Bundeskanzler Willy Brandt, der noch in seiner Regierungserklärung von 1969 «mehr Demokratie» versprochen hatte, setzte seine Unterschrift unter anderem neben die Unterschriften des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Karl Filbinger. Filbinger musste dann ein paar Jahre später zurücktreten, als bekannt geworden war, dass er als NSDAP-Marinerichter und «furchtbarer Jurist» Todesurteile gefällt hatte. Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß gehörte zu den heftigsten Befürwortern des Radikalenerlasses.

Brandts Unterschrift unter den Radikalenerlass war sein Versuch, sich Flankenschutz gegen die heftigen Angriffe gegen ihn von rechts zu verschaffen. Später erkannte Brandt das als einen Kardinalfehler, der ihn die Glaubwürdigkeit bei der jungen Generation gekostet hatte. Aber da waren die Regelanfragen beim Verfassungsschutz schon nicht mehr aufzuhalten: Zu jeder Person, die sich für den öffentlichen Dienst bewarb, gab es eine automatische Anfrage beim Verfassungsschutz.

Viele bewarben sich erst gar nicht. Ein vergiftetes gesellschaftliches Klima entstand. Von einer «Hexenjagd auf junge Menschen» sprach nach ein paar Jahren besonders unguter Praxis in Bayern Karl-Heinz Hiersemann, der damalige Chef der SPD-Landtagsfraktion.

Großmäuligkeit und revolutionäres Gehabe

Die ARD zeigt am morgigen Montag (17. Januar), nachts um 23.20 Uhr, zum Hexenjagd-Jubiläum einen Film des Regisseurs Hermann Abmayr. Opfer des Radikalenerlasses kommen darin sinnierend und nachdenklich zu Wort. Einige hat der Radikalenerlass aus Bahn geworfen; andere haben sich irgendwie arrangieren können.

Winfried Kretschmann, der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, war damals, zu Berufsverbotszeiten, Maoist. Er hatte unverschämtes Glück - beinah hätte es ihn auch erwischt. In einem bemerkenswerten Interview mit Abmayr beschreibt er dieses Glück; er redet über die Macht von Ideologien, über Großmäuligkeit, revolutionäres Gehabe und darüber, wie der Staat darauf reagieren soll. Ich selber bin für diesen Film auch interviewt worden - und werbe dafür, die Opfer der Berufsverbote zu rehabilitieren.

Für eine staatliche Entschuldigung zu sorgen - das wäre eigentlich, so meine ich, eine Aufgabe für die Grünen in der Bundesregierung. Der Kampf gegen die Berufsverbote gehört ja zur grünen Gründungsgeschichte.

Heribert Prantl, Kolumnist Süddeutsche Zeitung, München