«Kulturmagazin» - In Luzern hat ein Linksrutsch stattgefunden, nur ist er nicht richtig sichtbar
Die Stadt Luzern hat erstmals einen linken Stadtpräsidenten. Das macht sie aber noch lange nicht zur linken Stadt.
Fast könnte man denken, der Bürgerblock von CVP bis SVP freue sich, die Gemeindewahlen in der Stadt Luzern verloren zu haben. Endlich kann er, nachdem Stefan Roth von der CVP das Stadtpräsidium an Beat Züsli und die SP abgeben muss, auch hier seine Angstlust über eine «links-grüne Mehrheit» kultivieren. Nun ist die Wahl von Züsli selbstverständlich ein Symbol für die gegenwärtige Stärke der Linken in der Stadt Luzern.
So deutlich, wie er Roth geschlagen hat, ist es aber mindestens genauso sehr ein Symbol für die Schwäche dieses blassen CVP-lers, der in Luzern nie als «Stapi» wahrgenommen worden ist.
Was ist also passiert? Auf den ersten Blick: nichts. Die parteipolitische Zusammensetzung der Stadtregierung ist die gleiche wie in den letzten vier Jahren, und selbst wenn man weiter zurückblickt, zeigt sich das gleiche Bild eines zwischen links und rechts mittig austarierten Gremiums: Manuela Jost hat im Zentrum den parteilosen Urs W. Studer ersetzt, eine Grünliberale einen Sozialliberalen. Weder ist die Stadt Luzern links-grün regiert, noch hat die Linke im Stadtparlament eine Mehrheit – auch wenn sie neuerdings gemeinsam mit der GLP zumindest in ökologischen Fragen tatsächlich knappe Mehrheiten erreichen kann. Was die Gemeindewahlen gebracht haben, ist ein leichter Linksruck, aber eben keine linke Mehrheit.
Der Aufstieg der Linken in der Stadt ist viel älter. Noch 1971 erreichte die SP bei den Kantonswahlen in der Stadt Luzern gerade mal 15,2 Prozent der Stimmen; eine grüne Partei gab es noch nicht. Dann begann das Wachstum: 1975 erreichten die linken Parteien schon 19,9 Prozent, vier Jahre später 26,3 und 1983 bereits 30,5 Prozent aller Stimmen. Dann stagnierte die Linke, bis sie um die Jahrtausendwende nochmals zulegte: 2003 kam sie in der Stadt auf 38,9 Prozent, 2007 auf 40 Prozent. Seither ist ihr Stimmenanteil wieder leicht auf 38,6 Prozent (2015) gesunken. Dasselbe Bild einer fünfzehnjährigen Stagnation zeigt sich in den Gemeindewahlen. Seit 2000 legten die linken Parteien in der Stadt Luzern von 39,1 auf 41 Prozent (2016) nur leicht zu. 2004 hatte es mit 43,9 Prozent ein noch besseres Resultat gegeben.
Dass die Stadt Luzern bei weitem noch nicht so links wählt und stimmt wie andere Schweizer Städte, hat sich auch in aktuellen Abstimmungen gezeigt.
Die Durchsetzungsinitiative wurde hier im Februar mit 71 Prozent abgelehnt, ziemlich genau gleich stark wie in St. Gallen, Winterthur und Basel. Zürich und Bern aber, wo tatsächlich links-grüne Mehrheiten regieren, lehnten die SVP-Initiative mit 78 respektive fast 83 Prozent ab. Dasselbe Bild bei der Abstimmung zum bedingungslosen Grundeinkommen: In Luzern befürworteten 28,8 Prozent die Initiative, fast gleich viele wie in St. Gallen und Winterthur. In Basel, Bern und Zürich kam sie dagegen auf eine Zustimmung um die 40 Prozent. Das Fazit auch hier: Luzern ist keine linke Stadt, aber eine Kleinstadt mit einer soliden Mittepolitik, die im Einzelfall, bei guter Mobilisierung, gute Aussichten bietet auf linke Erfolge – siehe etwa Industriestrasse.
Soweit die statistischen Fakten. Sie widerlegen die Schimäre von der linken Mehrheit deutlich.
Dass die SP erstmals das Stadtpräsidium erringen konnte, war das Resultat einer Personenwahl, bei der sich eine grosse Mehrheit für einen Hoffnungsträger entschieden hat, nachdem sich der bisherige Amtsinhaber als zu profillos erwiesen hatte. So weit, so unrevolutionär. Was die jüngsten, wenn auch kleinen Erfolge der SP trotzdem bemerkenswert macht, ist etwas anderes: 2010 hat Luzern mit Littau fusioniert, einer zutiefst bürgerlichen Gemeinde. Heute kann man sehen, dass die rund 17 000 neuen Einwohner die Stadt nicht konservativer gemacht haben. Im Gegenteil. Mit anderen Worten: Der Linksrutsch hat stattgefunden, man kann ihn nur nicht richtig sehen.
Christoph Fellmann
---
Dieser Text von Christoph Fellmann ist in der Juli-/August-Doppelnummer des «Kulturmagazins» erschienen. Fellmann arbeitet hauptberuflich als Redaktor im Ressort Kultur des «Tagi» und gehört der Redaktion des «Kulturmagazins» an. Bekannt ist er auch als Theaterregisseur und Schauspieler.
- In Verbindung stehende Artikel:
- tagesanzeiger.ch - So versuchen rechte Kantone, ihre linken Städte zu gängeln - 05.05.2023 18:16
- woz.ch - Für Fredy Studer war Jazz eine soziale Kunst - 01.09.2022 14:42
- Fabian Reinhard tritt aus dem Grossen Stadtrat zurück - 23.06.2022 12:26
- Tänzerin, Filmerin und Theatermann erhalten Kunst- und Kulturpreise der Stadt - 03.06.2022 09:53
- So wählte Zürich - 13.02.2022 09:18
- Das sind die ReferentInnen und ihre Themen am «aha - Festival des Wissens 2022» - 16.01.2022 17:31
- «Der Club» - Stadt und Land: getrennte Welten? - 26.10.2021 17:03
- zentralplus.ch - Abtretender FDP-Präsident Fabian Reinhard fragt sich, warum die Städte immer linker werden - 20.08.2021 06:54
- bluewin.ch - «Die SVP ist zurück» - 05.08.2021 22:02
- blick.ch - SVP schiesst auf die links-grünen Städte - 02.08.2021 05:10
- Dieses bürgerliche Referendum spielt mit dem Feuer - 09.06.2021 12:00
- «Migros Magazin» - So verläuft der «Stadt-Land-Graben» - 30.03.2021 18:52
- luzernerzeitung.ch - Wie viel Sozialismus verträgt die Schweiz, Cédric Wermuth? - 25.07.2020 12:10
- «Für einen Wahlsieg waren wir wohl zu lieb und zu nett» - 05.07.2020 17:59
- Horrorszenario für die Bürgerlichen wäre die Wahl des Duos Jost und Dörflinger - 21.06.2020 13:07
- watson.ch - Städte hat das Virus am schlimmsten getroffen: Fünf Thesen, wie es jetzt weiter geht - 22.05.2020 13:14
- Sozial und ökölogisch kompetent: Darum wollen wir, dass Beat Züsli unser Stadtpräsident bleibt - 11.03.2020 12:07
- zentralplus.ch - «Ich glaube nicht, dass Martin Merki den Stapi wird besiegen können» - 02.03.2020 08:11
- Die Stadtluzerner FDP wagt ein riskantes Spiel - 03.02.2020 16:44
- SP-Präsident Claudio Soldati erklärt, wie er mehr Frauen ins Stadtparlament bringen will - 02.09.2019 16:15
- Christoph Fellmann holt Gottfried Kellers «Schwarze Spinne» in die Gegenwart - 26.05.2019 13:29
- Vorsicht, Satire (109): Christoph Fellmann nimmt Ueli Maurer in Schutz - 20.05.2019 17:13
- Kunst will nicht verstanden werden, sondern sie bietet an, auf sie einzugehen - 05.04.2019 10:19
- Vorsicht, Satire (108): Welcher Rassismus passt? - 24.09.2018 21:00
- Was das Nein zu «No-Billag» mit der bürgerlichen Finanzpolitik zu tun hat - 01.04.2018 13:55
- Wie FDP-Kantonsräte rechnen und mit Fakten umgehen, wenn es um die Verteidigung der Tiefsteuerstrategie geht - 04.11.2017 17:47
- «Der Bund» - Nach der Ohrfeige bei der Stapi-Wahl leckt die Berner SP ihre Wunden - 17.01.2017 11:46
- derbund.ch - So links ist das Berner Stadtparlament - 11.01.2017 13:49
- tagesanzeiger.ch - 19 von 44 Schweizer Städten sind in linken Händen - 24.12.2016 19:05
- Vorsicht, Satire (92): Warum Herrenanzüge abgeschafft gehören - 01.10.2016 21:10
- «Tagesanzeiger» - Amokläufer sind selbst ernannte Rächer - 25.07.2016 22:29
- «Kulturmagazin» - In Luzern hat ein Linksrutsch stattgefunden, nur ist er nicht richtig sichtbar - 01.07.2016 18:46
- Das ist ein deutliches Resultat – eine andere Frage ist, ob es auch ein gutes ist - 05.06.2016 19:48
- Luzerner Stadtrats- und Stapi-Wahlen: Das sind die genauen Resultate - 05.06.2016 13:26
- Luzern ist keine linke Stadt und braucht deshalb auch keinen linken Präsidenten - 28.05.2016 15:26
- DOSSIER: Bedingungsloses Grundeinkommen (eidgenössische Abstimmung vom 5. Juni 2016) - 29.03.2016 07:46
- DOSSIER: Wahl des Luzerner Stadtparlaments (1. Mai 2016) - 18.01.2016 18:47
- Wahl des Luzerner Stadtparlaments am 1. Mai 2016: Warum SP und SVP die besten Karten haben - 03.01.2016 17:44
- DOSSIER: «Durchsetzungs-Initiative» der SVP - 23.12.2015 05:13
- DOSSIER: Stadtratswahlen 2016 in Luzern (ERSTER UND ZWEITER WAHLGANG) - 04.11.2015 04:27
- «Tagesanzeiger» - Christoph Fellmann zur Satire-Debatte - 27.01.2014 11:48
- Bürgerliche Parlamentsmehrheit fällt bürgerlicher Stadtratsmehrheit in den Rücken - 28.11.2013 21:09
- Stimmfaule Luzernerinnen und Luzerner: Ein Rückblick auf die kommunalen Wahlen und Abstimmungen 2012 (2) - 08.01.2013 07:59
- Stimmt die Stadt «linker und grüner», als sie wählt? Ein Rückblick auf die kommunalen Wahlen und Abstimmungen 2012 (1) - 07.01.2013 06:59
- DOSSIER: Demokratie (Volksrechte, Rechtsstaatlichkeit, Parteienfinanzierung, Transparenz, Lobbying, Korruption, politische Kultur) - 20.12.2012 18:48
- Das schnelle Ja zu Stefan Roth: Warum die Stadtluzerner Freisinnigen das Stadtpräsidium der CVP überliessen - 28.06.2012 15:08
- DOSSIER: Stadtrats- und Gemeinderatswahlen 2012 - ZWEITE WAHLGÄNGE (Beiträge ab Wahlsonntag 6. Mai) - 21.05.2012 18:56