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24.02.2012

faz.net - Was Angela Merkel an der Gedenkveranstaltung für die Neonazi-Opfer sagte

Anlässlich der gestrigen Gedenkveranstaltung (Donnerstag, 23. Februar 2012) in Berlin für die jüngsten Opfer der Neonazis hielt Bundeskanzlerin Angela Merkel die Gedenkrede. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» (FAZ) kommentiert diese als «herausragende Rede, fern jeder Entschädigungsrhetorik und voller Gespür dafür, dass angesichts der Mordserie und des jahrelangen Versagens der Strafverfolgung individuelle und institutionelle Verheerung unterschieden, aber nicht getrennt werden können». O-Ton Merkel:


Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren, ganz besonders aber: liebe Familien, die Sie einen Angehörigen verloren haben oder selbst einen Anschlag erleben mussten, ich danke Ihnen, dass Sie heute zu dieser Gedenkveranstaltung gekommen sind. Auf dem Podest links neben mir brennen Kerzen. Es sind Kerzen für Menschen - für Menschen, deren Leben ausgelöscht wurde, ausgelöscht durch kaltblütigen Mord. (...)

Zehn brennende Kerzen - zehn ausgelöschte Leben. Ihrer gedenken wir heute. Zehn Kerzen - sie stehen für eine Mordserie in Deutschland von 2000 bis 2006, deren Täter bis 2011 und damit also über mehr als zehn Jahre unentdeckt blieben - mitten unter uns; beispiellos für unser Land.

Bevor wir die alles überragenden Fragen „Wie konnte das geschehen?“, „Warum sind wir nicht früher aufmerksam geworden?“, „Warum konnten wir das nicht verhindern?“ beantworten, bitte ich darum, dass wir schweigen. (...)

Mit diesem Schweigen ehren wir die Opfer der Mordserie einer Terrorgruppe, die ihren Kern seit Ende der 90er Jahre in Thüringen hatte und die sich den Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ gab. Wir ehren die Opfer dieser Terrorgruppe; und wir erinnern gleichzeitig auch an die Opfer weiterer schrecklicher Taten. (...) Einige von ihnen sind heute unter uns. Dafür danke ich ihnen. Viele von ihnen haben äußerliche Narben davongetragen. Wie sehr die seelischen Wunden schmerzen, das können wir nur ahnen.

Manchmal rütteln uns Berichte über skrupellose rechtsextremistische Gewalttäter auf. (...) Doch oft genug nehmen wir solche Vorfälle eher nur als Randnotiz wahr. Wir vergessen zu schnell - viel zu schnell. Wir verdrängen, was mitten unter uns geschieht; vielleicht, weil wir zu beschäftigt sind mit anderem; vielleicht auch, weil wir uns ohnmächtig fühlen gegenüber dem, was um uns geschieht.

Oder auch aus Gleichgültigkeit? Gleichgültigkeit - sie hat eine schleichende, aber verheerende Wirkung. Sie treibt Risse mitten durch unsere Gesellschaft. Gleichgültigkeit hinterlässt auch die Opfer ohne Namen, ohne Gesicht, ohne Geschichte.

Deshalb setzen wir hier ein Zeichen. Mit einer elften Kerze auf dem Podest. Sie haben wir entzündet für alle bekannten wie unbekannten Opfer rechtsextremistischer Gewalt. Auch ihnen ist diese Gedenkveranstaltung gewidmet. Zu jedem dieser Menschen gehören eine Familie, Freunde und Bekannte. Ihr Leid, ihre Sorgen sind kaum zu ermessen.

Die Menschenverachtung der rechtsextremistischen Mörder ist letztlich unbegreiflich. Und doch müssen wir versuchen zu ergründen, wie und durch wen sie so geworden sind, wie sie geworden sind. Wir müssen alles tun, damit nicht auch andere junge Männer und Frauen zu solcher Menschenverachtung heranwachsen. (...)

Viele Hinterbliebene sind heute unter uns. Ich weiß, wie schwer ihnen das gefallen ist. Sie haben mir vorhin von ihrem großen Schmerz erzählt. Sie haben mir erzählt, wie allein gelassen sie sich gefühlt haben. Umso dankbarer bin ich, dass wir heute gemeinsam hier sein können. (...)

Die meisten von ihnen blieben allein in ihrer Not. Denn die Hintergründe der Taten lagen im Dunkeln - viel zu lange. Das ist die bittere Wahrheit. Nur wenige hierzulande hielten es für möglich, dass rechtsextremistische Terroristen hinter den Morden stehen könnten, nachdem bislang für typisch gehaltene Verhaltensmuster von Terroristen, wie zum Beispiel Bekennerschreiben, nicht vorlagen. Das führte stattdessen zur Suche nach Spuren im Mafia- und Drogenmilieu oder gar im Familienkreis der Opfer. Einige Angehörige standen jahrelang selbst zu Unrecht unter Verdacht. Das ist besonders beklemmend. Dafür bitte ich sie um Verzeihung. (...) Nein, diese Jahre müssen für Sie, liebe Angehörige, ein nicht enden wollender Albtraum gewesen sein. In einem der Gespräche, die Altbundespräsident Wulff mit Hinterbliebenen geführt hat, fiel der Satz - ich zitiere: „Wir wollten einfach nur wie normale Menschen behandelt werden.“ Wie normale Menschen - diese drei Worte zeigen ihre ganze Verzweiflung. Wie schlimm muss es sein, über Jahre falschen Verdächtigungen ausgesetzt zu sein, statt trauern zu können?! Welche Qual ist es, wenn Nachbarn und Freunde sich abwenden, wenn sogar nächste Angehörige zweifeln?! Und wie wird man fertig mit der Skepsis, ob die Sicherheitsbehörden wirklich alles Menschenmögliche tun, um den Mord an dem Nächsten aufzuklären?!

Liebe Hinterbliebene, niemand kann Ihnen den Ehemann, den Vater, den Sohn oder die Tochter zurückbringen. Niemand kann die Jahre der Trauer und der Verlassenheit auslöschen. Niemand kann den Schmerz, den Zorn und die Zweifel ungeschehen machen. Aber wir alle können Ihnen heute zeigen: Sie stehen nicht länger allein mit Ihrer Trauer. Wir fühlen mit Ihnen. Wir trauern mit Ihnen.

Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. (...)

Wir tun dies, weil wir nicht hinnehmen, dass Menschen Hass, Verachtung und Gewalt ausgesetzt werden. Wir tun dies, weil wir entschieden gegen jene vorgehen, die andere wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religion verfolgen. Überall dort, wo an den Grundfesten der Menschlichkeit gerüttelt wird, ist Toleranz fehl am Platz. Toleranz richtete sich selbst zugrunde, wenn sie sich nicht vor Intoleranz schützte.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ - So beginnt unser Grundgesetz. Das war die Antwort auf zwölf Jahre Nationalsozialismus in Deutschland, auf unsägliche Menschenverachtung und Barbarei, auf den Zivilisationsbruch durch die Shoah. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ - Das ist das Fundament des Zusammenlebens in unserem Land, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland.

Wann immer Menschen in unserem Land ausgegrenzt, bedroht, verfolgt werden, verletzt das die Fundamente dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung, verletzt es die Werte unseres Grundgesetzes. Deshalb waren die Morde der Thüringer Terrorzelle auch ein Anschlag auf unser Land. Sie sind eine Schande für unser Land. (...)

Ich habe mich gefragt: Wie kommen Menschen dazu, so etwas zu denken und zu tun? (...) Wie schützen wir Menschen vor Anfeindung und Bedrohung am besten? Wir müssen uns eingestehen, dass wir dabei zum Teil scheitern. Wir müssen uns eingestehen, dass manchmal gerade dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch und die Abwanderung stark ist, oft auch die vertrauten Strukturen der Jugendarbeit verloren gehen, das Freizeitangebot schwindet - und die Feinde unserer Demokratie das zu nutzen wissen. (...)

Der Staat ist hier mit seiner ganzen Kraft gefordert. Doch mit staatlichen Mitteln allein lassen sich Hass und Gewalt kaum besiegen. Die Sicherheitsbehörden benötigen Partner: Bürgerinnen und Bürger, die nicht wegsehen, sondern hinsehen - eine starke Zivilgesellschaft. Diese lässt sich nicht verordnen. Sie beruht darauf, dass sich jeder mitverantwortlich für das Ganze fühlt, dass jeder seinen persönlichen Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben leistet. Zivilgesellschaft wächst in den Familien. Bereits in frühen Jahren erlernen Kinder die Grundlagen eines verantwortungsbewussten Miteinanders. Sie wächst in Freundes- und Bekanntenkreisen. Sie wächst in Schulen, Vereinen und im beruflichen Umfeld.

Ich sehe auch viele ermutigende Zeichen, viele Menschen, die sich für ein friedliches Miteinander engagieren - zum Beispiel in Dresden, wo vor wenigen Tagen Tausende Bürgerinnen und Bürger des Jahrestages der Bombardierung der Stadt gedachten und sich dabei die Hände reichten. Mit dieser Geste boten sie den Neonazis Einhalt, die dieses Gedenken missbrauchen wollten. (...)

Doch Intoleranz und Rassismus äußern sich keineswegs erst in Gewalt. Gefährlich sind nicht nur Extremisten. Gefährlich sind auch diejenigen, die Vorurteile schüren, die ein Klima der Verachtung erzeugen. (...) Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit stehen oft am Anfang eines Prozesses der schleichenden Verrohung des Geistes. Aus Worten können Taten werden.

Der irische Denker Edmund Burke hat einmal gesagt - ich zitiere: „Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.“ Ja, Demokratie lebt vom Hinsehen, vom Mitmachen. Sie lebt davon, dass wir alle für sie einstehen, Tag für Tag und jeder an seinem Platz. Demokratie zu leben mutet uns zu, Verantwortung zu übernehmen für ein Zusammenleben in Freiheit - und damit für ein Leben in Vielfalt. Gelingt dies, kann Vielfalt ihren Reichtum zum Besten aller entfalten.

Deutschland hat diese Erfahrung in seiner Geschichte immer wieder gemacht. Denn es ist auch eine Geschichte der Auswanderung und der Zuwanderung. So wurden Brücken in alle Welt geschlagen. Seinen Wohlstand verdankt Deutschland zu einem guten Teil seiner Weltoffenheit und seiner Neugier auf andere. Wir leben hierzulande von Verschiedenheit, von den unterschiedlichsten Lebenswegen. Deutschland - das sind wir alle; wir alle, die in diesem Land leben; woher auch immer wir kommen, wie wir aussehen, woran wir glauben, ob wir stark oder schwach sind, gesund oder krank, mit oder ohne Behinderung, alt oder jung.

Wir sind ein Land, eine Gesellschaft. Auch die, die zu uns aus vielen Ländern dieser Welt kommen, sind nicht einfach die Zuwanderer. Auch sie sind vielfältig und unterschiedlich. Wir alle gemeinsam prägen das Gesicht Deutschlands, unsere Identität in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts - getragen von unserem Grundgesetz und seinen Werten, unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, formuliert in unserer Sprache. Gemeinsam verteidigen wir alle, die wir uns zu diesen Werten bekennen, die in unserer Verfassung zu Beginn festgeschriebene unantastbare Würde des Menschen.

Das ist die Botschaft der zwölften Kerze auf dem Podest. Sie ist das Symbol unserer gemeinsamen Hoffnung und Zuversicht für eine gute Zukunft. Lassen Sie uns alle gemeinsam, jeder an seinem Platz und nach seinen Möglichkeiten, für diese Hoffnung und diese Zuversicht leben - zum Wohle unseres Landes und seiner Menschen.