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Kolumne der Redaktion

03.05.2018

Dokumentation lässt 23 Stimmen über «68» zu Wort kommen

Soeben ist eine eigens aus Luzerner Sicht entstandene Dokumentation über die politischen Ereignisse im Jahr 1968 und seine Folgen erschienen. Max Schmid hat dazu das Vorwort geschrieben, das hier zu lesen ist.


«Freiheit führt das Volk»: Dieses Bild von Eugène Delacroix (1798–1863), französischer Maler und Wegbereiter des Impressionismus, diente als Basis für eine Collage, die auf Seite 3 der Dokumentation zu sehen ist.

In diesem Journal berichten dreiundzwanzig Frauen und Männer aus unserer Region über ihre Erfahrungen 1968 und in der bewegten Zeit danach. Die jüngsten waren damals fünfzehn, die ältesten über dreissig Jahre alt. Die meisten sind im Luzernischen aufgewachsen, einige sind später hierhergezogen.

Manche haben in Paris, Zürich, Fribourg, Basel oder München studiert und dort «68-er-Luft» geschnuppert.

Es habe – nicht zuletzt durch die Mobilität von Studentinnen und Studenten – eine enge Vernetzung zwischen den Aktivitätspolen des «68-er-Aufbruchs» gegeben, erklärte der Historiker Jakob Tanner an der Tagung «Winds of change? – 1968 und die Zentralschweiz» Ende Januar in Luzern. Er studierte in Zürich, wie einige von uns, 1968 indes war er noch am Lehrerseminar Hitzkirch. In seinem brillianten Referat schilderte er die dortige Stimmung so: «Es stellte sich, diffus aber unübersehbar, das Gefühl ein, dass etwas Grundlegendes nicht stimmt mit der Zeit, in der wir leben». Auch Beiträge in dieser Zeitung berichten über das Seminar Hitzkirch, das damals eine kantonale Einrichtung unter aufgeklärt-klerikaler Leitung war.

Beim Redigieren der Texte, deren Auswahl keinen Anspruch auf Repräsentanz beansprucht, ist mir aufgefallen, wie die konservative, katholische Tradition mit ihrem patriarchalischen Gesellschaftmodell viele geprägt aber gleichzeitig auch zum Widerspruch herausgefordert hat. Das Institut Baldegg, das zwei unserer Autorinnen in jenen Jahren besuchten, war ein von Klosterfrauen geführtes privates Lehrerinnenseminar. Manche von uns hatten Väter und Mütter, die fest in katholischen Traditionen verwurzelt waren. In der Luzerner «Kantonsgeschichte des 20. Jahrhunderts» (Bd. 2) folgt das Kapitel über die «68-er-Bewegung» unmittelbar auf das Kapitel über die gesellschaftliche Dominanz und den allmählichen Wandel des politischen Katholizismus.

Und dann – für die einen kam es plötzlich, für andere auf leisen Sohlen – wurden viele von uns vom Aufbruch erfasst und bewegt, der im Mai 1968 in Paris seinen Anfang genommen hatte. Andere, darunter auch viele, die in der traditionellen Arbeiterbewegung politisiert worden waren, blickten zunächst skeptisch auf die jungen «Wolkenschieber».

Einer der Autoren war 1968 mit einem Rammbock in der Cité Internationale in Paris unterwegs. Doch sonst scheint zu gelten: Wir haben keine Steine geworfen. In der Krawallnacht im Januar 1969 vor der Luzerner Polizeiwache, die als die Geburtsstunde der Neuen Linken Luzerns gilt, ist in den Beiträgen nur am Rande die Rede. 

Doch mit der Zeit verbreitete sich die Aufbruchsstimmung auch in den Voralpen: Alternative Kultur, Ökologie, Solidarität waren die Stichworte.

Die Beiträge belegen, was Elisabeth Joris in der Kantonsgeschichte festhält, nämlich, dass die «68-er-Bewegung» auch im Kanton Luzern «einen Aufbruch von nachhaltiger Wirkung markiert. Sie führte auf politischer Ebene zu frappanten Verschiebungen und auf der kulturellen und gesellschaftlichen Ebene zu Öffnungen hin zu neuen Konzepten und Institutionen der Begegnung und des Schaffens.»

Irgendwann haben viele den langen Marsch durch die Institutionen angetreten, der da und dort von der etablierten Politik brutal gestoppt wurde, aber dann und wann auch eine oder einen von ihnen in die Nähe der Macht brachte.

Bei den bewegten Frauen – so schien es mir beim Lesen ihrer Beiträge –  war alles ein wenig anders: intensiver, lustvoller und weniger verbissen. Das heisst aber nicht, dass sie weniger geleistet und erreicht hätten – im Gegenteil. Sie hatten ja zudem auch noch gegen die «68-er-Männer» anzukämpfen, bei denen, wie eine Autorin schreibt, Kopf und Bauch oft nicht übereinstimmten.

Das führt uns zu den Stichworten Lebensgefühl und Lebensstil. Beide gehörten zu «1968», über beide können Sie hier Geschichten lesen. «Soyez réalistes, demandez l’impossible!» – «Commence par rêver!» solche Graffiti wirken heute komisch. Damals fand ich sie herrlich. «Kurze Röcke und lange Haare», wie es über einem Beitrag steht, fanden schnell den Weg in die Zentralschweiz. Bleibende Spuren hinterlassen hat in Luzern vor allem der kulturelle Aufbruch – auch, aber nicht nur in der Erinnerung.

Hingegen über das, was damals in der Selbststilisierung der Beteiligten «sexuelle Revolution» genannt wurde, hat hier niemand geschrieben. Fand sie in der Zentralschweiz nicht statt oder ist uns die Lockerheit und Unverschämtheit abhandengekommen, mit der damals über dieses Thema debattiert wurde?

Das Team von SP 60+ dankt allen, die einen Beitrag für dieses Projekt geschrieben haben. Sie haben es ermöglicht, dieses vielfältige Mosaik lokaler Erfahrungsgeschichten zu präsentieren. Vielleicht verleiten uns die Geschichten auch dazu, miteinander ins Gespräch zu kommen: über die Träume, Hoffnungen und Aktivitäten vor 50 Jahren und die Chancen für ein bisschen Bewegung und Aufbruch heutzutage.

Max Schmid, Luzern

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Die Dokumentation ist für fünf Franken erhältlich im Sekretariat der SP Kanton Luzern, Theaterstrasse 7 (info(a)sp-luzern(p)ch / 041 311 05 85). Sie wird auch am Event verkauft, der morgen Freitag im «Sentitreff» stattfindet (siehe unter «In Verbindung stehende Artikel»: Treffpunkt 307).


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/