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Kolumne der Redaktion

10.04.2015

Hans Erni hat seinen Platz in der Kunstgeschichte

Peter Fischer würdige Hans Ernis Schaffen aus der Sicht des Kunsthistorikers. Er sprach heute an der Feier im Verkehrshaus, nachdem das Carmina Quintett Zürich das Adagio aus dem Streichquintett in C Dur von Franz Schubert dargeboten hatte.


Kunsthistoriker Peter Fischer nach seiner Rede im Gespräch ...

... mit Angela Rosengart.

Bild: Herbert Fischer

Liebe Trauerfamilie, meine Damen und Herren

... es geht schon nichts über Schubert und erst recht nicht über den zweiten Satz dieses unvergleichlichen Streichquintetts, das der Komponist als eines seiner allerletzten Werke im Alter von 31 Jahren kurz vor seinem Tode geschrieben hatte. 

Hans Erni hat es geliebt, und es ist interessant, dass er diese Liebe mit vielen anderen Künstlern teilt, beispielsweise mit Paul Klee, der das Stück oft sogar selbst gespielt hatte – an der Viola –, wieso nicht auch 1935 in seinem Berner Exil, exakt zur Zeit, als Hans Erni für das Kunstmuseum Luzern die legendäre Ausstellung «These, Antithese, Synthese» organisiert hatte, an der Klee mit einem halben Dutzend Werken vertreten war.  

Klee ist nur eine zufällige, durch meine momentane Funktion motivierte Verknüpfung mit Hans Ernis Leben, eine von tausenden möglichen, die in alle Richtungen gehen. Und es ist für unser Empfinden schon ungewöhnlich, dass wir hier einfach so mit der Person, die uns vor drei Wochen verlassen hat, einen Zeitsprung in die 1930-er-Jahre machen können, und nicht etwa in Hans Ernis Wiege landen, sondern in seiner ersten Hochblüte.

Verzeihen Sie mir, wenn mich dieser Gedanke veranlasst, gleich zu Beginn von anderen Persönlichkeiten zu sprechen, die mit Hans Erni die Langlebigkeit teilten. Ich hatte das Privileg, drei künstlerisch tätige Berühmtheiten im engeren Radius des Alters von Hundertjährigen persönlich kennen lernen zu dürfen: Die amerikanische Malerin Agnes Martin, die französisch-stämmige, ab 1938 in New York lebende Louise Bourgeois und eben Hans Erni. 

Sie alle waren nicht nur mit einer beständigen Geisteskraft gesegnet, sondern auch mit Schaffenskraft fast bis zum letzten Tag ihrer Leben, auch wenn sich diese ganz unterschiedlich äusserte. 

Louise Bourgeois wurde in ihrem künstlerischen Ausdruck immer radikaler, je älter sie wurde, und wenn man bei der 90-Jährigen in der Küche sass, konnte durchaus vielleicht eine unfertige Stoffskulptur mit eindeutig sexuellen Anspielungen rumliegen, und die Künstlerin konnte sich nicht verkneifen, uns Besucher damit zu provozieren. Ihre sehr produktive Radikalität ist wahrscheinlich nur mit der Picassos zu vergleichen, eines anderen Künstlers mit einem Altershöhenflug – ihn hätte ich natürlich auch gerne kennen gelernt.  

Louise Bourgeois ist 2010 im Alter von knapp 99 Jahren gestorben. Die amerikanische Malerin Agnes Martin hat ihre letzten Jahre ganz anders verbracht. Sie hat – wie Hans Erni auch – jeden Tag kontinuierlich, man könnte auch sagen: fleissig gearbeitet. Als ich sie kurz vor dem Millenniumswechsel besuchte, wohnte sie in Taos, New Mexico im Altersheim und fuhr jeden Morgen mit dem schönen weissen Mercedes, den sie von ihrem Galeristen geschenkt bekommen hatte, 200 Meter, das heisst drei/vier Häuser weiter, wo sich ihr kleines Atelier befand, in dem sie jeweils an etwa fünf oder sechs Bildern gleichzeitig arbeitete. Sie tat, was sie ihr Leben lang getan hatte, sie malte wunderschöne horizontale lasierende Streifen auf die Leinwände, nur mit minimen Nuancen, unaufgeregt, mit grosser Konzentration. Auch Agnes Martin starb, bevor sie 100 wurde. 

Dann Hans Erni, am 21. März im Alter von 106 Jahren von dieser Welt gegangen, auch er fast bis zum letzten Atemzug am Schaffen, auch er diszipliniert und erfüllt von der Tätigkeit, die sich schnell zu seiner Berufung entwickelt hatte. 

Das Alter: Wie wichtig ist es denn? Seit 2009 – er wurde dann hundert – sprach man wieder regelmässig von Hans Erni, bevorzugt jedes Jahr am 21. Februar, an seinem Geburtstag. Die Faszination des hohen Alters in Ehren – wir wollen Hans Erni nicht nur deswegen in Erinnerung behalten, denn dies hat einerseits den sensationslustigen Beigeschmack einer Freak-Show – verzeihen Sie mir diesen für den Ästheten Erni ja wirklich deplatzierten Vergleich –, andererseits prognostizieren die Zukunftsforscher bereits meiner Generation schon das fast selbstverständliche Erreichen von hundert Lebensjahren.  

In erster Linie bedeutsam sind erwähnten Persönlichkeiten und ganz besonders Hans Erni, weil sie in gewissem Sinne öffentliche Figuren waren, sie haben mit ihrer Tätigkeit Stellung bezogen, sie haben ihre jeweilige persönliche Befindlichkeit, aber auch den jeweiligen Zeitgeist reflektiert und sublimiert, das heisst, in Form von Kunst der Gesellschaft zurück gegeben. 

Somit sagt ihre Kunst, dadurch, dass sie wirkt und je nachdem, wie sie vom Publikum aufgenommen wird, sehr viel über ihr jeweiliges Umfeld, die jeweilige Zeit aus. Kurzum: Es geht hier um den Beitrag der Künstler zur Geschichtsschreibung, und in diesem Zusammenhang ist es natürlich schon erheblich, ob sie eine kurze oder eine lange Karriere hatten, denn das künstlerische Schaffen und seine Rezeption befinden sich in steter Wechselwirkung und einem permanenten Prozess.

Ja, ich merke, nun wird es kompliziert. Hans Erni hat ja sehr für eine verständliche Kunst plädiert, und er wäre der erste, der über meinen theoretischen Exkurs wohl die Stirn runzelte – auch wenn er nichts sagen täte, dafür war er viel zu respektvoll... 

Meine Gedanken haben aber durchaus eine Begründung: Ich wurde gebeten, heute eine kunsthistorische Würdigung von Hans Erni vorzunehmen. Und eine solche, dies war mir eigentlich schon lange klar, kann der Grösse und Bedeutung von Hans Erni nur schwer gerecht werden, denn die Wissenschaft der Kunstgeschichte ist so, wie sie heute funktioniert, nicht imstande, Ernis Lebenswerk als Gesamtes wirklich zu würdigen. Wir kennen die Grabenkämpfe meiner Zunft, das Ringen um gut und schlecht und die zumeist sehr enge und dogmatische Sichtweise. Erni war eben nicht Louise Bourgeois, die sehr genau wusste, wie sie bei der Kritikergarde Begeisterungsstürme auslösen konnte – und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich prächtig amüsierte, wenn ihr dies wieder einmal gelungen war. 

Meine Kunsthistorikerkollegen und ich wären uns aber einig, den jungen Hans Erni nicht hoch genug einschätzen zu können. Fast unglaublich, wie der Luzerner Jungspund aus der Schweizer «Enge» nach Berlin und München entfloh und dann im Alter von 21/22 Jahren in Paris in den vordersten Avantgarden mitwirkte.

So war er, unterstützt von seinem Mentor Otto Freundlich, als Jüngster und «Energischster» – so beschrieb ihn Anatole Jakovski – 1933 Mitbegründer der Künstlergruppe «Abstraction-Création». Als 26-Jähriger organisierte er 1935 – beflügelt vom Kontakt mit dem Philosophen Konrad Farner – für das Kunstmuseum Luzern die legendäre Ausstellung «These, Antithese, Synthese» und brachte aus Paris die avanciertesten Künstler nach Luzern. Im Hauptsaal stellte er dann gleich seine eigenen Werke denen von Kandinsky entgegen und in dessen Mitte platzierte er eine brandneue abstrakte Skulptur, die er Alberto Giacometti, kaum hatte er sie vollendet, abgeluchst hatte. 

Erni strotzte – zu Recht muss man sagen – vor Selbstbewusstsein (oder vielleicht lag es auch einfach an der erwähnten jugendlichen «Energie») und seine Begeisterung belebte ihn auch noch 74 Jahre später, als er 2009 im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist unbescheiden zu Protokoll gab: «Ich habe ja das Ganze aufgebaut in einer Art Synthese, wobei ich indirekt an meine Arbeit dachte. Das war ein wunderbarer Saal.»

Erni pflegte eine Abstraktion, die im Unterschied etwa zur Strenge von Max Bill, mit dem er ein persönlich freundschaftliches, künstlerisch aber rivalisierendes Verhältnis pflegte, das organische Moment integrierte. (Nicht mal so viel anders als Paul Klee, um nochmals meinen Hauskünstler zu bemühen, und zum Kandinsky der 1930er Jahre passte dies natürlich sowieso.) 

Das Organische, das Humane, das Prozesshafte – man denke nur an seine herausragenden Panta Rhei-Kompositionen von 1935. Die ihn notabene auch in die Nähe der derzeitigen britischen Avantgarde um Henry Moore, Barbara Hepworth oder Ben Nicholson rückten, mit denen er dann kurz darauf in London auch persönlich verkehrte. Der Platz in der Kunstgeschichte – nicht nur der nationalen – ist Erni aufgrund seines Werks der 1930-er Jahre auf sicher.

Den nächsten Platz in der Kunstgeschichte errang er sich im nahtlosen Anschluss, aber für eine ganz andere Leistung. In London ereilte ihn der Auftrag für ein fast 100 Meter langes und 5 Meter hohes Wandbild für die Landesausstellung 1939 in Zürich. Diese wahre Herkulesaufgabe sollte einen folgenschweren Wendepunkt in seiner Künstlerkarriere auslösen. Er nahm den Auftrag so ernst, dass er für die Landibesucher malte, und nicht mehr für die hermetischen Kreise der Avantgarde. In einer eigentlich sehr komplexen Komposition vermittelte er in einfachem Stil und mit klaren Motiven ein anspruchsvolles, überraschendes Bild der aktuellen Schweiz, notabene ohne am Vorabend des Zweiten Weltkrieges der Versuchung zu erliegen, einen mythen- und klischeebehafteten Nationalgeist heraufzubeschwören. 

Ernis Bild der Schweiz vermittelte Errungenschaften «weicher» Sektoren, der Pädagogik Pestalozzis bis hin zu modernen Designikonen wie stromlinienförmigen Rennwagenkarosserien oder Wasserkraftturbinen, dem Roten Pfeil, aber auch archäologischen und geologischen Stätten. Moderne Architektur, Handwerk, Wissenschaften aller Disziplinen und der Sport, dies alles vermochte die Massen an der Landi zu begeistern. Und Erni erlag der Verführungskraft seiner eigenen Kunst: Er sagte sich fortan zugunsten der Verständlichkeit von der radikalen Abstraktion seines Frühwerks los. Ungeachtet dieses im Denken der Moderne vermeintlichen Rückschrittes: Das Landibild ist in der Schweizer Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ohne Parallele. 

Die künstlerische Einordnung des nachfolgenden Werks würde nun schwieriger werden. Wir Kunsthistoriker suchen darin vergeblich nach Innovation, der grossen Losung der Moderne, und würden den Ball nun gerne an die Kollegen von den angewandten Künsten, vom Design, von der Geschichte der Gestaltung abgeben, um Ernis viele Auftragswerke zu würdigen, seine weiteren Wandbilder, seine Banknotenentwürfe, die in den Kriegsjahren und der folgenden Ära des Kalten Krieges in einem aus heutiger Sicht politischen Skandal und Ernis jahrelangem Ausschluss von sämtlichen offiziellen Aufträgen endeten, was ihn zwang, ins Ausland auszuweichen, wo er grosse Erfolge erzielte, etwa mit seinen Illustrationen für die 10-bändige britisch-amerikanische Macdonald Enzyklopädie. Dann denken wir natürlich an seine grossartigen Plakatentwürfe etwa für politische Anliegen wie die AHV, die Einführung des Frauenstimmrechtes oder ökologische Themen.

Und wer wäre für die Beurteilung seiner überbordenden Produktion von Zeichnungen und Druckgrafik zuständig? Sie war mit ein Grund, dass Hans Erni nach seiner offiziellen Rehabiliterung Ende der 1960-er-Jahre zum bekanntesten und beliebtesten Schweizer Künstler avancierte. Für viele Leute, die sich mit Kunst sonst nicht beschäftigten, war Erni geradezu der Inbegriff des Künstlers. Seine Virtuosität, seine lebensbejahenden, vitalen Themen, man denke nur an die ebenso formvollendeten Leiber von Frauen wie von Pferden... Was den Beifall der Massen fand, war für die Kunstschweiz aber endgültig too much; ein No-Go.

Doch – Hand aufs Herz: Ist dies ein Grund, jemanden zu verachten? Ich übertreibe nicht – soweit ging und geht die Ablehnung von Künstlerkollegen wie Kritikern. Mir scheint diese Tatsache eher ein Grund, das Wertesystem der Kunst zu hinterfragen. Kann man das, was ein erfolgreicher, von den Massen geliebter und bewunderter Künstler tut, überhaupt als «keine Kunst» oder als «schlechte Kunst» bezeichnen? Sollte es nicht vielmehr unsere besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen? 

Und schon befinden wir uns mitten im Diskurs über die Geschlossenheit von Wertesystemen und die Aufgaben der Historiographie. Glücklicherweise ist das Wertesystem der Kunst – es stammt in seinen Grundfesten eigentlich noch aus dem 19. Jahrhundert – tatsächlich im Wandel begriffen. Aber vielleicht muss eine Würdigung von Hans Erni auch einfach über eine rein kunsthistorische Betrachtungsweise hinausgehen. Hans-Jörg Heusser hatte diesen klugen Einfall. Zurecht hat er kürzlich in der «Neuen Zürcher Zeitung» darüber sinniert, dass man vielleicht einmal statt über die Kunst über die Geschmäcker diskutieren sollte. «Das Ende der Kunstgeschichte», so Heusser im O-Ton, «wäre eine solche geschmackssoziologische Relativierung nicht, aber vielleicht der Beginn einer neuen Betrachtungsweise, die dem ‚Phänomen Erni’ besser gerecht zu werden vermöchte. In einer – noch zu schreibenden – Geschmacksgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert wäre Hans Erni wohl eine Leitfigur.» 

Das gefällt mir schon besser, denn Hans Erni wollte stets bewegen, anregen, die Welt verbessern, und wenn das, was er mit seiner Kunst angerichtet hat, zum Thema wird, ja gar zum exemplarischen Untersuchungsgegenstand dafür, wie streitbar sich die Kunst zu allen Zeiten in das Leben einmischte und einmischt und die Geschichte mitprägt, so können wir wahrlich nichts anderes feststellen, als dass er Grosses geleistet hat. Dafür bin ich – sind wir Hans Erni zutiefst dankbar.

Peter Fischer, Direktor Zentrum Paul Klee in Bern, von 2001bis 2011 Direktor des Kunstmuseums Luzern, Kurator der Retrospektive zum 100. Geburtstag von Hans Erni im Kunstmuseum Luzern 2009 

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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/