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Kolumne der Redaktion

15.09.2012

Otto Stich - ein herausragender Diener an Staat und Volk

Der Publizist Peter Graf (1945) aus Bern war nach dessen Wahl in den Bundesrat zuerst persönlicher Mitarbeiter von Otto Stich, später Informationschef des Finanzdepartements. Schon als Stich noch Nationalrat war, kannten sich die Beiden, die auch über Otto Stichs Bundesratszeit hinaus bestens befreundet waren. Eigens für lu-wahlen.ch hat Peter Graf eine Würdigung über den am Donnerstag verstorbenen Staatsmann geschrieben, wofür sich die Redaktion bei ihm herzlich bedankt.


Das Medienecho nach der Meldung vom Tod alt Bundesrat Otto Stichs war beeindruckend, obschon es in den letzten Jahren stiller um ihn geworden war. Hier soll den vielen ehrenden Portraits nicht ein weiteres hinzugefügt werden. Einige Begebenheiten und Erinnerungen aus meiner Zeit als persönlicher Mitarbeiter und Mediensprecher des Finanzdepartementes sollen lediglich ein paar Aspekte seines Wesens näher beleuchten und so diese herausragende politische Persönlichkeit noch besser verständlich machen.

Der in der Nacht auf den 13. September 2012 verstorbene Bundesrat Otto Stich hat in seinem politischen Leben oft für Überraschungen gesorgt. Er selber war nur sehr selten überrascht von dem, was mit und um ihn geschah. Er war ein Meister im Antizipieren von möglichen Entwicklungen, Wirkungen und Handlungsweisen anderer. 

Ein beliebtes Spiel bei den abendlichen Treffen zur Vorbereitung des nächsten Tages war die Frage: Wie werden die Medien auf einen Entscheid oder eine Handlung des Bundesrates oder des Departementchefs reagieren und wie würden wohl die Schlagzeilen der grossen Zeitungen lauten. Die Anforderung des französischen Verlegers Emile de Girardins «gouverner c’est prévoir» («Regieren heisst vorausschauen») an einen Politiker gehörte zu Otto Stichs starken Begabungen. Nicht selten schrieben die Zeitungen sinngemäss und manchmal fast wörtlich, was Otto Stich vorausgesagt hatte. Dass es so auch in wichtigen politischen Fragen war, zeigt das Beispiel Bundesfinanzen. Stich sagte 1984 treffend eine mindestens ausgeglichene Rechnung des Bundes voraus. 

Kurze Zeit, nachdem am 7. Dezember 1983 die Vereinigte Bundesversammlung Otto Stich gewählt und dieser - nach einem Unterbruch für eine Fraktionssitzung - Annahme der Wahl erklärt hatte, wusste die damalige Führung seiner sozialdemokratischen Partei der Schweiz nicht mehr, ob sie an der Regierungsbeteiligung festhalten wolle. Das  war umso erstaunlicher, als nur wenige Jahre zuvor eine stark besuchte Tagung in Bern in einer Konsultativabstimmung sich grossmehrheitlich für die Regierungsbeteiligung der Partei ausgesprochen hatte, selbst dann, wenn nicht der offizielle Kandidat gewählt werden sollte. 

Man hatte sich an jener Tagung bewusst gemacht, dass die Nichtwahl offizieller Kandidaten von Regierungsparteien keineswegs auf die SP beschränkt war. Es traf bürgerliche Parteien mit Georges-André Chevallaz, Roger Bonvin oder Hans Hürlimann genau so, wenn die Umstände entsprechend waren.  Die medial veröffentlichte Meinung stimmte nicht immer mit  jener der Parlamentsmehrheit überein.  Und das Parlament spürte damals den Puls der Volksmeinung immer wieder zutreffender als die Medien. 

Das war bei der Wahl von Otto Stich nicht anders. Schon ein halbes Jahr danach gehörte er zu den populärsten Bundesräten. Und in der eigenen Partei hatten sich jene durchgesetzt, die in dieser Frage mit der Volksmeinung übereinstimmten. 

Manche der Autoren von Artikeln anlässlich seines Todes mussten sich bei ihrer Arbeit rein altersmässig wohl auf Archive stützen. Es entsteht da und dort bei der Lektüre einiger Nachrufe der Eindruck, als ob die Bürgerlichen einfach sozusagen einen Gesinnungsgenossen aus dem Lager des politischen Gegners gewählt hätten. Der sich dann – einmal im Amt – zum sozialdemokratischen Fundi gemausert habe. Dem ist natürlich nicht so. Viele Kolleginnen und Kollegen in beiden Räten wussten, dass Stich der spiritus rector der sogenannten Reichtumssteuer-Initiative war. Mit dem Namen dieser Initiative allerdings war er nie einverstanden. Er glaubte nicht an die Zugkraft einer Etikette, die das verteufelte, was so viele Bürgerinnen und Bürger sich heimlich erträumten. Denn er kannte die Menschen besser als viele in seiner Partei.

Stich war auch einer der hellsichtigsten Kritiker der helvetischen Agrarpolitik und ihrer undurchsichtigen Subventionsarithmetik. Im bürgerlich dominierten Parlament sah man das genauso. Es liegt auf der Hand, dass er deswegen nicht gerade der Liebling der Landwirtschaftslobby war. 

Eine Lobby, die mit ihrer zahlenmässigen Stärke den Anschein erweckte, als ob mehr als das halbe Parlament ausserhalb der Sessionen auf Feldern und Äckern und morgens wie abends im Stall tätig sei.  Diese Parlamentarier hiessen Stichs politische Visionen in diesem Bereich gewiss nicht gut. Kein Wunder übrigens, hat er sich nach seinem Rücktritt um ökologische Landwirtschaft gekümmert, als er das Präsidium von Biovision übernahm und während vieler Jahre innehatte

Und wer wollte sich schon mit der Politik der Nationalbank und ihren Rückwirkungen auf die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Aussenpolitik der Schweiz abmühen. So scheinen auch viele in der eigenen Fraktion nicht immer zu den eifrigen und aufmerksamen Zuhörern seiner kundigen und auch für Laien verständlichen, aber immer leise vorgetragenen Ausführungen zu Fragen der Währungspolitik gehört zu haben. Ganz anders als viele bürgerliche Politiker, die wissen wollten, worin sich die Vorstellungen des Volkswirtschafters Stich von den ihren unterschieden. Als Bundeshausredaktor der Schweizerischen Depeschenagentur, der während mehrerer Jahre die Ratsberichte schrieb und zusammenfasste, musste ich Stichs Ausführungen auf allen Feldern der Politik zuhören und war mir seiner breiten Kenntnisse früh bewusst.

Die bürgerlich dominierte Bundesversammlung kannte  die Kompetenzen und Qualität des Politikers Otto Stich sehr wohl, als sie ihn 1983 wählte. Schliesslich hatte er nach vier Legislaturen seinen Rücktritt erklärt - und konnte deshalb auch gar nicht abgewählt werden, wie die Service-public-Tagesschau den ganzen Todestag hindurch fälschlicherweise vermeldete. 

Die bürgerliche Mehrheit mag mit bedacht haben, dass sie notfalls mit ihrer Stärke immer die Bremse betätigen konnte, wenn der Sozialdemokrat das Programm seiner Partei zu buchstabengetreu umsetzen sollte. Ganz bestimmt hat in diesem Lager damals kaum jemand geglaubt, Stich werde im Bundesrat bürgerliche Interessen wahrnehmen. Dafür waren seine Voten zu klar und zu eindeutig. Der verstorbene selbst ernannte Aussenminister, einstige kalte Krieger und spät bekehrte Gorbatschev-Freund Mühlemann, der Stich angeblich zur Nibelungentreue ermahnt haben soll, wäre eine Ausnahme gewesen. 

Otto Stich glaubte nicht daran, dass die Schweiz in der Europäischen Union eine Rolle spielen könnte, die ihren Interessen dienen würde. Er glaubte auch nicht daran, dass Europa wegen der schweizerischen Mitgliedschaft demokratischer würde. Seine beträchtlichen historischen Kenntnisse und Erfahrungen lehrten ihn, dass der Kleine nur so viel wert ist, als er dem Grossen in dessen Augen dient. Das war mit ein Grund, als es um die Anbindung des Finanzplatzes Schweiz an den Währungsfonds und die Weltbank ging, dass er sich nicht nur um den Beitritt bemühte, sondern mit grosser Energie dafür sorgte, eine Staatengruppe zusammenzubringen, die der Schweiz auch eine starke Mitentscheidungsmöglichkeit in deren Leitungsgremien bescherte.

Keine internationale Krise war gross genug, um ihn daran zu hindern, seinem Ziel, die Schweiz in diese Gremien zu bringen, in denen das Geld global «regiert» wird. So reiste er mitten im ersten Bush-Krieg nach Riad in Saudiarabien, um für sein Beitrittsziel Verbündete zu suchen. Wie unabhängig er dabei blieb, mag ein Gespräch mit Karl Otto Pöhl, dem damaligen Chef der Bundesbank illustrieren. Während eines Fernsehinterviews sagte er dem aus Frankfurt zugeschalteten Deutschen lachend, er, Stich, habe nichts dagegen, dass Deutschland den Euro einführe. Aber die Schweiz werde ihren Franken auch dann behalten. 

Für einen Staat wie die Schweiz mit ihrer mächtigen Finanzwirtschaft und einer überdurchschnittlichen Abhängigkeit von einer gut gehenden Exportwirtschaft war diese internationale Anbindung an die sogenannten Bretton-Woods-Institutionen von zentraler Bedeutung. Otto Stich erreichte dieses schwierige Ziel im übrigen auch gegen wichtige Kreise im Machtgefüge der USA. Man wird die Bedeutung dieses Bundesrates als Aussenpolitiker noch tiefer als bisher ausloten müssen, um zu erkennen, welch grosse Verdienste um das Wohl des Landes er auch in dieser Hinsicht hat.

Otto Stich ist nicht mehr. Wir sind mit unzähligen Menschen in diesem Land traurig, denn hier ist eine Stimme verstummt, die das Land brauchte. 

Otto Stich hat vielen jungen Menschen als Handelslehrer in diesem Land unser nicht ganz einfaches Staatswesen mit seinen staatskundlichen Gesprächen nahe gebracht und sie für politische Fragen interessiert. Als Redner im eidgenössischen Parlament wie an unzähligen Anlässen in allen Landesteilen hat er auch vielen Erwachsenen Politik als etwas Wichtiges und Lebenswertes vermittelt. Und er hat sie immer wieder aufgefordert, als Bürgerinnen und Bürger sich einzumischen in die politische Meinungsbildung und ihre Auffassungen kund zu tun. Er wird vielen unter uns und er wird dem Land fehlen.

Peter Graf, Freund und Weggefährte von Otto Stich, Bern  


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Über Herbert Fischer:

Herbert Fischer (1951) arbeitet seit 1969 als Journalist und Pressefotograf. Er war unter anderem Redaktor der «LNN», der «Berner Zeitung» und Chefredaktor der «Zuger Presse». Seine Kernthemen sind Medien (Medienwirkung, Medienethik, Medienpolitik), direkte Demokratie, Sicherheitspolitik, soziale Fragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Heute berät und unterstützt er Firmen, Organisationen und Persönlichkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit. Fischer war von 1971 bis 1981 Mitglied der SP der Stadt Luzern, seither ist er parteilos. Er ist in Sursee geboren und Bürger von Triengen und Luzern, wo er seit 1953 lebt. Herbert Fischer ist Gründer und Redaktor von lu-wahlen.ch.


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1. Dezember 2021: Hanns Fuchs schreibt über Herbert Fischer:
http://www.luzern60plus.ch/aktuell/artikel/ein-strurbock-im-medienzirkus

Interview von Radio 3fach am 27. August 2012 mit Herbert Fischer:
www.3fach.ch/main-story/lu-wahlen/