Wer soll - rein rechnerisch - Sitze erhalten und wenn ja wieviele?
Fakten, Fragen und Vermutungen zum zweiten Wahlgang der Luzerner Stadtratswahlen am 28. Juni 2020 (Folge 3).
Zwei der fünf Sitze sind noch zu besetzen. Im ersten Wahlgang sind am 28. März gewählt worden: der Sozialdemokrat Beat Züsli (Stadtrat und Bildungs- und Kulturdirektor seit 2016), der Grüne Adrian Borgula (Stadtrat seit 2012, aktuell Verkehrs- und Umweltdirektor) sowie der Freisinnige Martin Merki (Stadtrat seit 2012, aktuell Sozial- und Sicherheitsdirektor). Züsli amtet zudem (seit 2016) als Stadtpräsident. Die Wiederwahlen dieser drei Herren und die Sitzansprüche ihrer Parteien waren vor dem ersten Wahlgang unbestritten.
Jetzt aber ist das anders. Warum?
Die beiden noch zu besetzenden Sitze belegen bis jetzt die Grünliberale Manuela Jost (Stadträtin und Baudirektorin seit 2012) sowie die Christdemokratin Franziska Bitzi (Stadträtin und Finanzdirektorin seit 2016). Weil die SP mit Judith Dörflinger einen zweiten Sitz im Stadtrat erringen will, geht er entweder auf Kosten der CVP und damit von Franziska Bitzi oder aber zulasten der GLP und damit von Manuela Jost. Die SP hat jedoch nie konkret gesagt, zu wessen Lasten sie sich im Stadtrat verstärken will. Und sie hat auch weder gegen Bitzi noch gegen Jost irgendwelche konkreten Angriffe gestartet. Aber es ist sehr zu vermuten, dass am ehesten Manuela Jost verlöre, falls die SP und Judith Dörflinger tatsächlich gewännen.
Die Frage liegt deshalb nahe: Wer hat «Anspruch» auf die beiden noch zu vergebenden Sitze?
Ganz genau genommen hat niemand «Anspruch», denn allein das Volk entscheidet darüber, welche Partei wieviele der fünf Sitze im Stadtrat erhält. Nach den Regeln der Vernunft anerkannten in den letzten 20 Jahren FDP, CVP, SP und Grüne die jeweiligen Ansprüche der anderen Parteien auf je einen Sitz. Sie praktizierten - mehr oder weniger - eine Art von freiwilligem Proporz. Das funktionierte, bis 2012 der Parteilose Urs W. Studer (Stadtrat und Stadtpräsident seit 1996) nicht mehr kandidierte und die damals noch junge GLP Manuela Jost nominierte, die im zweiten Wahlgang gewählt wurde. Dies allerdings erst, nachdem sie eine beachtliche Wendigkeit bewiesen hatte, die sie auch 2016 wieder an den Tag legte, ebenso wie heuer. Doch darüber mehr später.
Eigentlich wäre zu erwarten, dass angesichts dreier ernsthafter Kandidaturen für die zwei nun noch zu besetzenden Sitze – nämlich Bitzi (CVP / bisher), Jost (GLP / bisher) und Dörflinger (SP / neu) – eine ernsthafte Debatte darüber aufflammen würde, wer am ehesten einen Sitz «zugute» hat, also mit der naheliegendsten Begründung. Merkwürdigerweise findet diese Diskussion aber nicht statt – warum auch immer.
Dennoch ist es opportun, diese Frage genauer zu untersuchen und zu versuchen, eine belastbare Antwort zu finden.
Argumente liefern zwei häufig verwendete «Modelle». Zunächst das «Modell bisher». Es besagt, dass Exekutivmitglieder in aller Regel wiedergewählt werden, wenn sie sich nichts Gravierendes haben zu schulden kommen lassen; so sei es bewährte Tradition.
Diesbezüglich ist aus den letzten 50 Jahren in der Stadt bloss ein abweichender Fall bekannt, jener von Irene Hartmann. Sie war von 1996 bis 2000 die einzige Vertretung der FDP im Stadtrat, wo sie der Bildungs- und der Sozialdirektion vorstand. Ihre erste «Leistung» bestand darin, sehr bald die städtische Lehrerschaft gegen sich zu haben, sie erwies sich als inkompetent und beratungsresistent und erlaubte sich Tolpatschigkeiten zuhauf, im Stadthaus ebenso wie ausserhalb, was jeweils genüsslich weiter erzählt wurde, weshalb ihre Abwahl im Jahr 2000 kaum jemanden erstaunte.
Das «Modell bisher» steht und fällt also mit der Akzeptanz der Amtsinhaber, berücksichtigt aber nicht die realen Kräfteverhältnisse im Parlament.
Dies im Gegensatz zum «Modell Kräfteverhältnisse». Es geht von der Idee aus, dass die Kräfteverhältnisse in der Exekutive so gut wie möglich die Kräfteverhältnisse im Grossen Stadtrat abbilden sollen; nicht zuletzt, damit die beiden Gremien so gut wie irgendwie möglich zusammen- statt gegeneinander-arbeiten.
Grundlage dieses Modells ist eine ziemlich einfache Rechnung. Der Grosse Stadtrat hat 48 Sitze, der Stadtrat fünf. Dividiert man die Zahl 48 durch 5, so ergibt sich der Faktor 9,6. Das heisst: pro 9,6 Sitze im Parlament steht der jeweiligen Partei – logischerweise wiederum rein rechnerisch – ein Sitz im Stadtrat zu. Zurzeit sieht das so aus:
Nehmen wir die effektiven Sitzzahlen als Berechnungsgrundlage, wie sie sich aufgrund der Wahl des Stadtparlaments vom 28. März 2020 präsentieren.
Die SP hat 13 Sitze im Parlament und einen im Sitz im Stadtrat (Beat Züsli); angesichts des Verteilungsfaktors 9,6 hat sie also 3,4 Sitze im Grossen Stadtrat zu viel für einen Sitz im Stadtrat, wo sie dort somit untervertreten ist. Im Parlament der letzten Legislatur (2016 bis 2020) hatte sie (zusammen mit den JungsozialistInnen) 14 Sitze, also 4,4 Sitze zu viel für ihren einzigen Sitz in der Exekutive; sie war also noch klarer untervertreten.
Die Grünen und Jungen Grünen haben im neuen Parlament zusammen 11 Sitze; angesichts des Faktors 9,6 also 1,4 Sitze zu viel für ihren einzigen Sitz im Stadtrat, wo sie somit untervertreten sind. Im Parlament der letzten Legislatur waren es 7 Sitze, also 2,6 zuwenig für einen Sitz im Stadtrat; sie waren also übervertreten.
Die FDP.die Liberalen haben 9 Sitze, sie bräuchten gemäss Verteilungsfaktor aber 9,6 Sitze. Sie haben also 0,6 Prozent Sitze zu viel und sind (sehr!) leicht übervertreten; das gleiche gilt für die Zeit von 2016 bis 2020.
Die CVP hat 6 Sitze im Parlament und einen im Stadtrat, angesichts des Faktors 9,6 also 3,6 Sitze zu wenig; sie ist also klar übervertreten; in der letzten Legislatur hatte sie 7 Sitze im Grossen Stadtrat, also 2,6 zu wenig für einen Stadtratssitz; sie war also etwas weniger stark untervertreten, als wenn sie jetzt den Sitz mit Franziska Bitzi wieder erreichen würde.
Die GLP hat 4 Sitze im Parlament und einen im Stadtrat, also 5,6 Sitze im Parlament zu wenig und ist in der Exekutive somit klar übervertreten; und zwar gleich stark wie in der Legislatur zuvor.
Die SVP hat am 28. März 5 Sitze erreicht. Allerdings hat sie eines der gewählten Mitglieder (Silvio Bonzanigo) seither ausgeschlossen, womit sie noch 4 Sitze umfasst. Sie hat aber keinen Sitz im Stadtrat zu verteidigen und tritt im zweiten Wahlgang gar nicht mehr an.
Man sieht also: die FDP ist im fünfköpfigen Stadtrat ganz, ganz leicht übervertreten (9, statt 9,6 Sitze im Grossen Stadtrat); die SP ist stark untervertreten (sie hat 3,4 Parlamentssitze zu viel für einen Stadtratssitz); die Grünen sind leicht (1,4 Sitze) untervertreten.
Würden Bitzi und Jost (wieder) gewählt, wären ihre Parteien (CVP und GLP) allerdings beide deutlich übervertreten (wie übrigens bereits in den Legislaturen 2012 bis 2016 und 2016 bis 2020).
Mit anderen Worten: Gemäss diesem Modell steht der SP ein weiterer Sitz zu. Genau dies beansprucht sie mit der Kandidatur Dörflinger. Und zwar zulasten der GLP. Dies, weil die CVP im Grossen Stadtrat stärker ist und als politische Kraft in der Stadt eine weitaus längere und vor allem einflussreichere Tradition hat als die Grünliberalen, die erst seit 2012 im Stadtrat vertreten sind.
Ein zweiter Sitz der SP ist auch darum gerechtfertigt, weil sie seit 2012 im Stadtrat klar untervertreten, die GLP hingegen klar übervertreten ist. Dies könnte – und sollte! – Ende Juni korrigiert werden.
Dies wird hier - es sei wiederholt - allein unter dem Aspekt der - sagen wir es so - «mathematischen Logik», allenfalls sogar bloss einer «Zahlenspielerei» deponiert.
Fortsetzung folgt.
Herbert Fischer, Redaktor lu-wahlen.ch, Luzern, Mitunterzeichner der Wahlaufrufe für Franziska Bitzi und Judith Dörflinger
- Links:
- franziska-bitzi.ch
-
- manuelajost.ch
-
- judith-doerflinger.ch
-
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