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Kolumne von Pirmin Meier

27.09.2015

Was zur «Zuger Sexaffäre» noch nicht gesagt wurde – aus der Sicht der Innerschweizer Kriminalhistorie und Sittengeschichte

Aus den Augen, aus dem Sinn. Es gibt nichts Verständlicheres als die Reaktion Ungezählter, welche über die sogenannte «Zuger Sexaffäre» von Weihnachten 2014 nicht mehr weiter «informiert» werden wollen. Der Boulevard bedient seit neun Monaten ein gegenteiliges «Bedürfnis». Desgleichen will der gnadenlose Recherchier-Journalismus, so durch den Luzerner Philipp Gut in der «Weltwoche», nicht klein beigeben.


Bei genauem Hinsehen bleibt neben der beispiellos entblössten grünen Politikerin der involvierte SVP-Politiker samt Gesinnungsfreund - Aussage der Frau laut «Weltwoche: «... er grinste und er stand rechts von ihm...» - nicht unbescholten. Die Rede ist nicht von festgestellten kriminellen Handlungen. Das Thema ist eine bis in die Knöchel gehende Blamage. Zwar sind viele einst gravierend verfolgte sexuelle Handlungen wie Ehebruch und aussereheliche Kontakte, ob heterosexuell oder homosexuell, längst entkriminalisiert. Den Bereich von Scham und Sitte gibt es aber immer noch. Dies beweist allein schon der Befund, dass man diese Geschichte so lange am Kochen halten konnte.

Wer sich im falschen Moment beim Falschen erwischen lässt, bleibt  heute dank medialem Lauffeuer mehr denn je gesellschaftlich stigmatisiert und politisch erledigt. Eine gerichtliche Verurteilung ist nicht nötig. Dies ist beispielsweise bei Badens Stadtammann Geri Müller (Grüne) der Fall. Spätestens nach seiner Absetzung als Vorsitzender der Gemeindeammänner-Vereinigung seines Amtsbezirks und seit seiner Eliminierung bei wichtigen öffentlichen Repräsentationen hätte er es selber merken können. 

In Sachen «Zug» ist im zehnten Monat eines Spiels ohne Ende ein neuer Befund hinzugekommen. Ich wundere mich darüber umso mehr, weil ich mehrmals über Affären früherer Zeiten publiziert habe. So über die Pädophilenaffäre von Autor und Priester Heinrich Federer (1903 in Stans in zweiter Instanz freigesprochen) und eine noch frühere Homosexuellenaffäre in Langenthal (1817). Bei der Affäre Federer dauerte es hundert Jahre, bis Gerichtsprotokolle öffentlich wurden. In Zürich hat man mich für gewisse Recherchen sogar auf das Jahr 2042 vertröstet. Im Staatsarchiv Bern war das Protokoll über die homosexuelle Misshandlung eines späteren Regierungsrates (1817) aus den Akten herausgerissen und vernichtet. Nicht nur Täter, auch Opfer wollen meist nicht, dass Details über die sexuelle Intimsphäre an die Öffentlichkeit gelangen. 

Bezogen auf 2014: Wer sah den erigierten Penis des Politikers und was weiss man über Spuren in der Unterwäsche der Politikerin? Mit welchen Worten haben sich die Zeugen geäussert? Im Falle der Affäre Federer von 1902 sind nicht nur die Liebesbriefe Federers an einen zwölfjährigen Buben peinlich. Fast nicht weniger die Aussagen von Zeugen, aus denen man Neid, Hass und Ressentiments herausspürt. Jeder blamiert sich, so gut er kann. Federer wurde in zweiter Instanz freigesprochen, auch weil in Nidwaldens Obergericht eine konservative Mehrheit herrschte und mit dem Historiker Robert Durrer ein mehrfacher Gesinnungsfreund des Angeklagten das Wort «homosexuell» als fast einziger richtig schreiben konnte. Trotzdem war der pädophil veranlagte Priester Heinrich Federer nach seinem Freispruch 1903 so erledigt, dass er nie mehr öffentlich eine Messe las und privat nur noch ohne Ministrant. Was Schande bedeutet, stellte er in seinem Text «Wo schlafen?» literarisch einzigartig dar. Als grosser Sprachkünstler und Mensch von Charakter hat er nach Jahren und Jahrzehnten seine Ehre wieder hergestellt. 

Der Befund in Zug ist um Welten banaler. Glücklicherweise sind keine unmündigen Personen (wie beim Pädophilen Federer) involviert. Aktenkundig aber scheint erhärtet: Es muss gelogen und betrogen worden sein. Ist der Ruf des Politikers für eine weitere Karriere bloss hinreichend beschädigt, scheint derjenige der Frau weithin ruiniert.

Die Geschichte hilft zumal denjenigen Frauen nicht, denen wirklich kriminell mitgespielt wurde. Doch bleibt es ein riesiger Unterschied, ob intime Details einer Affäre erst nach 100 Jahren oder noch im Brennpunkt der Aktualität öffentlich werden. 

Obwohl der Bericht von Philipp Gut in der «Weltwoche» widerwärtig zu lesen ist, handelt es sich, die grobe Wahrheit der Berichterstattung vorausgesetzt, um keinen schlechthin überflüssigen Report. Die Schilderung, wie hier ein Mann, das Gegenteil von einem Unschuldslamm, von dem Moment an, da die Affäre nicht mehr geheim gehalten werden konnte, systematisch kriminalisiert wurde, ist ein Stück Männergeschichte der Gegenwart. Umgekehrt wird auch klar, was für die Frau und Mutter privat, politisch und menschlich, auf dem Spiel stand. Dass sich eine Frau die Zerstörung ihres Rufes, auch in sexueller Hinsicht, noch weniger leisten kann als ein Mann, bleibt gesellschaftliche Realität. Nur haben sich die Machtverhältnisse etwas gewandelt. Es gibt kaum mehr eine patriarchalisch diktierte öffentliche Meinung. Eine obszöne Indiskretion in Form frühzeitig publizierter Auszüge aus Gerichtsakten bleibt aber nicht ohne Folgen.

Was mir zu denken gibt: Ich wundere mich, dass ich gewisse Details einer Affäre von 1902 erst 2042 fertig recherchieren darf, im Alter von 95 Jahren. Andererseits wurde die Intimsphäre zweier Zuger Politiker in einer noch nie dagewesenen Weise blossgestellt. Im Sinne von Dürrenmatt mag da gelten: Unschuld gibt es vielleicht juristisch, aber auf keinen Fall metaphysisch.

Ein jeder, eine jede hat «Dreck am Stecken». Die Aussage von Altnationalrat Jo Lang vom vergangenen Januar, er würde für seine Parteikollegin «die Hand ins Feuer» legen, kann bei strenger Prüfung oftmals nicht mal für einen selber gelten. Bei allen Diskussionen über Heuchelei und Doppelmoral bestätigt sich: Die Scham gehört zu den Grundtatsachen unseres gesellschaftlichen Lebens. Sie im falschen Moment zu vergessen, kann katastrophale Folgen haben. Ein Appell an ehrliche Menschlichkeit scheint nicht überflüssig. Im Gegensatz zu China und Japan müsste bei uns ein Gesichtsverlust in der Art zweier menschlicher und politischer Versager kein Anlass zur Selbstbestrafung sein. In Deutschland hat es die stocktrunken fahrende Bischöfin Margot Kässmann vorgemacht: Sie moralisiert unverdrossen weiter und freut sich darüber, eine Sünderin zu sein. 

Wilhelm Busch bilanzierte: «Ist der Ruf erst ruiniert,/Lebt es sich ganz ungeniert.»

Pirmin Meier, Rickenbach

Dieser Beitrag von Pirmin Meier ist heute (27. September 2015) leicht gekürzt in der «Zentralschweiz am Sonntag» veröffentlicht worden.


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Über Pirmin Meier:

Dr. phil. Pirmin Meier (1947), aufgewachsen in Würenlingen AG und wohnhaft in Aesch, langjähriger Gymnasiallehrer in Beromünster, war zunächst als Journalist und Herausgeber von Büchern (unter anderem bei Suhrkamp-Insel) tätig, später mehrere Jahrzehnte als Gymnasiallehrer (Beromünster) und Lehrerfortbildner. 

Seine Biographien über Paracelsus (6. Auflage im Jahr 2013), Bruder Klaus (3. Auflage in Vorbereitung) sowie Heinrich Federer und Micheli du Crest gelten als epochal und wurden unter anderem mit dem Innerschweizer und dem Aargauer Literaturpreis ausgezeichnet. Zu den Themen, die mit der Innerschweiz zu tun haben, gehören bei Pirmin Meier das Buch «Landschaft der Pilger», unter anderem mit der Beschreibung der Schattigen Fasnacht in Erstfeld und einer ersten Studie über den heiligen Gotthard. Ausserdem setzte er sich mit der Biographie von Pater Alberich Zwyssig – von ihm stammt der Text des «Schweizerpsalms», der Schweizer Nationalhymne – auseinander, eingegangen in das Buch über Wettingen «Eduard Spörri, ein alter Meister aus dem Aargau».  

Stark beachtet, mit rund drei Dutzend öffentlicher Lesungen seit dem Erscheinen, etwa in Altdorf und im Bahnhofbuffet Göschenen, wurde die mit grossem Aufwand betriebene Neufassung des berühmten Jugendbuches «Der Schmied von Göschenen», welche Neubearbeitung erstmals die Bedeutung der Walser für die ältere Schweizer Geschichte unterstreicht.  

Pirmin Meier gehörte auch zu den geistigen Promotoren des Films «Arme Seelen» von Edwin Beeler, zu welchem Thema er sich im Sommer 2012 in einer ganzstündigen Sendung «Sternstunde Religion» auf SRF ausgelassen hat. Er lebt in Rickenbach bei Beromünster, arbeitet derzeit an einem Grossprojekt über Schweizer Mystik und schrieb auch den Text für das Oratorium Vesper von Heiligkreuz mit Musik von Carl Rütti.

Am 7. September 2013 hielt Dr. Pirmin Meier auf der Rigi die Jubiläumsansprache zum Jubiläum 70 Jahre Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein ISSV. Für sein Buch «St. Gotthard und der Schmied von Göschenen» machte er bedeutende, für die Geschichte der alten Wege einmalige Recherchen über die alten Wege vor 1231, auch zusammen mit dem Historiker Dr. Hans Stadler-Planzer.

In beratender Funktion ist Pirmin Meier tätig für das Filmprojekt «Paracelsus - Ein Landschaftsessay» des in Root (LU) wirkenden Filmunternehmers und Regisseurs Erich Langjahr, wie Pirmin Meier Innerschweizer Kulturpreisträger.

Mehr über Pirmin Meier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pirmin_Meier

Pirmin Meier erhält Innerschweizer Kulturpreis 2008:
https://kultur.lu.ch/-/media/Kultur/Dokumente/preise_auszeichnungen/meier2008.pdf