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Kolumne von Pirmin Meier

19.04.2015

Günter Grass hatte intensive Beziehungen und Bezüge zur Schweiz

Pirmin Meier recherchierte in der Biografie des Literaturpreisträgers.


1981 stellte Günter Grass in der «Kornschütte» des Luzerner Rathauses sein grafisches Werk vor. Damals entstanden für das «Luzerner Tagblatt» diese Bilder.

Bilder: Emanuel Ammon / AURA

In der «Weltwoche» vom 16. April und in der «Schweiz am Sonntag» vom 19. April hat Historiker und lu-wahlen.ch-Kolumnist Pirmin Meier zwei auf seine Weise gründlich recherchierte Beiträge zum Ableben von Günter Grass geleistet, der am 16. Oktober 1927 in Danzig auf die Welt gekommen war und am 13. April in Lübeck verstorben ist. Dabei legt der Autor Wert darauf, dass aufgrund von Abgabeterminen immer auch noch sorgfältiger hätte recherchiert werden können.

So kam etwa im Verlauf der Woche noch zum Vorschein, dass die Episode mit dem kindlichen Blechtrommler tatsächlich, wie von Grass in einem autobiographischen Buch geschildert, in Lenzburg stattfand, und nicht in Wettingen, wie in der «Schweiz am Sonntag» von Meier missverständlich behauptet. Dies hat der Journalist Pirmin Kramer aufgrund von Gesprächen mit dem Zeitzeugen Matthias Scheurer klargemacht hat. Auch ist unterdessen klar geworden, dass ein äusseres Markenzeichen von Grass, der Schnauz, zu seiner frühen Lenzburger Zeit noch nicht gewachsen war, sondern erst ab dem Eintritt von Grass in die Gruppe 47 (1957). Am meisten Kritik einstecken musste Pirmin Meier für seine Hervorhebung des Unterschiedes zwischen der Waffen-SS (der Grass ab dem letzten Kriegswinter angehörte) und herkömmlicher Wehrpflicht, weil die SS angeblich wie die Fremdenlegion nur Überzeugte aufgenommen habe.

Pirmin Meier hält fest, dass dies tatsächlich nur grundsätzlich stimmt, aber nicht im Detail. Schon Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) hat in seinen Erinnerungen geschildert, wie in dieser Sache der Freiwilligkeit oft «nachgeholfen» wurde, wobei immerhin Ratzinger als Priesteramtskandidat dann in der Waffen-SS wohl doch nicht erwünscht war. Am meisten unfreiwillige, beziehungsweise «mässig freiwillige SS-Leute» gab es bei den Polen, die allerdings nach dem verlorenen Krieg ein starkes Motiv hatten, ihr Engagement als gezwungen hinzustellen. Natürlich hatten sie ihre Gründe, gegen die Eroberung Polens durch die Sowjetarmee zu kämpfen. Persönlich recherchiert, mit einem Zeitzeugen, hat Pirmin Meier das Engagement von Südtiroler Waffen-SS-Soldaten. Hermann Niedermayr aus Eppan gehörte wie Grass einer Panzerabteilung an. Als Südtiroler hatte er sich begeistert der Waffen-SS angeschlossen, um dann nach seiner Gefangennahme durch die Sowjets auf seine italienische Staatsangehörigkeit zu pochen, was ihm prompt die frühe Freilassung aus der Kriegsgefangenschaft eintrug.

Günter Grass bezeichnete aus der Perspektive eines jungen Mannes die Waffen-SS als Elitetruppe. Er scheint gewusst zu haben, wofür er sich engagierte. Dass er im letzten Kriegswinter hier mit dabei war, ist ihm grundsätzlich nicht übel zu nehmen. Beim nahen Kriegsende ging es den wenigsten um «Sterben für den Führer». Im Vordergrund standen die im Moment fürchterlichen Aussichten einer Verlierer-Nation. Grass deutet in seinen Memoiren an, dass sowohl seine Mutter wie auch seine Schwester im Osten vergewaltigt worden sind. Das war nun mal, sollte es zutreffen, unendlich schlimmer, als dass er bei der Waffen-SS einen aussichtslosen Posten innehatte und immerhin bei dieser Gelegenheit selber keine Kriegsverbrechen begangen. 

(red)

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Die ursprüngliche «Weltwoche»-Version von Pirmin Meiers Grass-Würdigung

Der «ewige Hungerstudent» Günter Grass galt nicht als Wunschschwiegersohn des Lenzburger Unternehmers Boris Schwarz («Eisen-Schwarz»). Am Jugendfest tanzte er 1952 mit Junglehrerin Anna Schwarz, die er zwei Jahre später auf dem Zivilstandsamt Lenzburg ehelichte. Nicht die Erinnerung an die Heimatstadt Danzig, sondern die Tambourentradition der Lenzburger Kadetten steht am Anfang der seiner Gattin gewidmeten «Blechtrommel». 

Für den Eintritt in die Weltliteratur hatte in Lenzburg und Umgebung, einer Hochburg des Kadettenwesens seit 1793, niemand auf den gelernten Bildhauer Günter Grass gewartet. Unter «Ostfront» verstand man dort eine Verteidigungslinie der alle zwei Jahre in Szene gesetzten Freischarenmanöver, die bis heute an je allen «geraden Jahren» stattfinden, zuletzt 2014. Freischarengeneral war 1928 Stahl-Unternehmer Boris Schwarz, der spätere Schwiegervater des Nobelpreisträgers. Im Jahre 2000 war Max Schwarz Freischarengeneral, ein Grossneffe von Boris, der Vater der heutigen Geschäftsführer Christoph und Dorothee Schwarz. Die 1832 gegründete Traditionsfirma Schwarz-Stahl war kulturbeflissen, förderte mit Erfolg den Maler und Komponisten Peter Mieg. Bei den Freischarenmanövern hatte seinerzeit der junge Frank Wedekind mitgemacht, Verfasser der Meisternovelle «Der Brand von Egliswil», von Peter von Matt aufgenommen in Reclams Sammlung der besten deutschen Erzählungen. 

Bei Lenzburgs Stadtvätern ging im 19. Jahrhundert Josef Victor von Scheffel (1826 – 1896) ein und aus. Der Verfasser des «Ekkehard», eines Romans mit mindestens so grossem Erfolg wie später die «Blechtrommel». Zur Zeit, als Günter Grass sich erstmals in Lenzburg zeigte, war der Roman «Der Erwählte» von Thomas Mann soeben erschienen. Das dort beschriebene Schloss war ein Porträt der von J.R. von Salis bewohnten Brunegg bei Lenzburg, wo Familie Mann regelmässig zustieg. Von Salis wurde der erste Aargauer Literaturpreisträger. Von Dürrenmatt hielt er deutlich mehr als von Grass.

Alt Freischarengeneral «Eisen-Schwarz», Mitglied und Gönner der Freisinnigen Partei, hatte drei Töchter: Anna, Helen und Kathrin. Eine schöner und gebildeter als die andere. Der Helen machte der aargauische Jungintellektuelle Werner Geissberger den Hof, Sohn eines Bezirkslehrers und aufgrund von Erfahrungen mit Flüchtlingen des Zweiten Weltkriegs der erste Linksliberale im Aargau, später Gründer des Team 67, einer progressiven Formation. In Baden vermochte das «Team» den jugendlichen Proleten Geri Müller zu politisieren, der dann die Gruppe ins Lager der Grünen überführte. Geissberger, zeitweilig unter Otto Wanner Chefredaktor des Badener Tagblattes, begeisterte sich mit seinem Schwager Günter Grass für Willy Brandt, über den in Baden weit euphorischer geschrieben wurde als etwa in der «NZZ». An der Nägelistrasse 5 in Wettingen, Geissbergers Wohnsitz, ging Günter Grass mit seiner schnell wachsenden Familie ein und aus. Dass er dort mit einer Olivetti Teile der «Blechtrommel» geschrieben habe, gehört zu den Legenden, womit man Wettingens Weltruhm etwas zu kompensieren sucht.

Immerhin beharrt Grass in seinem autobiographischen Buch «Die Häutung einer Zwiebel» darauf, das Motiv eines trommelschlagenden Knirpses in Lenzburg kennengelernt zu haben, angeblich bei Gelegenheit seines ersten Besuches bei der «Tänzerin» Anna. Bei ihr handelte es sich um eine Seminaristin des Aarauer Lehrerinnenseminars, welches auch schon von der späteren Dichterin Erika Burkart besucht worden war. In der Lenzburger mündlichen Überlieferung erinnert man sich kaum an Bühnenauftritte einer «Ballerina», wie die «Stahl-Erbin» in herkömmlicher Grass-Biographie genannt wird. Umso besser aber an das gemeinsame Tanzen mit dem rassigen schwarzhaarigen Schnauzkünstler Grass: «Er hät tanzet wie n-en  Aff!» soll der Schwiegervater geraunt haben. Auf diesen vermeintlichen Nobody scheint er nicht gewartet haben. Ein Schwiegersohn in der Art von Johann Schneider-Ammann, dem späteren Inhaber der Ammann Group, hätte der Familientradition eher entsprochen. 

Wie Gottfried Keller ist Günter Grass als bildender, beziehungsweise grafischer Künstler weitgehend gescheitert, um dann zu einer umso glänzenderen Karriere als Schriftsteller zu finden. Das «Blechtrommler»-Motiv in Verbindung mit Selbstdarstellung durch Engagement geht aber letztlich weniger auf die Lenzburger Episode als auf Heinrich Heine zurück, der sich wie Grass als dichtender Tambour verstanden hat. Für die Karriere von Grass und seinen Aufstieg zu einem der bestbeachteten Autoren seines Jahrhunderts war indes die Heirat mit Anna Schwarz in mehrfacher Hinsicht ein Glücksfall. Sie war nicht nur, wie Grass schrieb, aus «besitzbürgerlichem Hause», sondern tatsächlich eine auch künstlerisch und sprachlich begabte «Lady» (so nennt man sie in Lenzburg) mit vielseitigen Talenten und hoher Fähigkeit zur Empathie. Dies kommt höchst eindrucksvoll im Briefwechsel Günter Grass/Anna Grass mit Uwe Johnson zum Ausdruck. Grass und Johnson schafften den literarischen Durchbruch (1959) mit der «Blechtrommel» und «Mutmassungen über Jakob» gleichzeitig, jedoch mit unterschiedlichem finanziellem Erfolg. 

Es gehört zu den Verdiensten von Grass, dass er sich beim Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld für das existentielle Weiterkommen von Johnson verwendete. Es ergaben sich andererseits, ähnlich wie in der Beziehung zu Max Frisch, eine Konkurrenzsituation, auch charakterliche Unvereinbarkeiten. So verwundert es am Ende nicht, dass als das Faszinierende am Briefwechsel zuletzt der Austausch zwischen Uwe Johnson und Anna Grass übrig bleibt. Die Lenzburgerin entwickelt dabei ihrerseits ein Schreibtalent, wie man es nicht gerade bei jeder «Dichtersgattin» antrifft. Dabei haben sich, gemäss Frischs «Berliner Tagebuch», Frisch und Grass noch am besten verstanden, wenn sie sich über «Ehekrisen» aussprachen. Bei beiden Alphatieren war, trotz wohlgeratener Nachkommenschaft (Grass hatte mit Anna Schwarz vier Kinder, dazu je zwei von späteren Partnerinnen sowie zwei Stiefkinder), die herkömmliche bürgerliche Ehe nur als Lebensabschnittspartnerschaft praktikabel. Anna Schwarz, die Schweizer Ehefrau von Günter Grass, heute im 83. Lebensjahr, kann ihrerseits als in Berlin und Paris ausgebildete Tanzlehrerin, auch Malerin (sie stellte vor einigen Jahren in Lenzburg aus) und nicht zuletzt als Mutter ihrer vier Kinder auf ein gelungenes Leben zurückblicken.  

Der genialische Erzähler Grass eignet sich heute weniger mehr für Schullektüre als wohl am besten für das Lesen von drei bis vier seiner Hauptwerke, wofür es sich schon fast lohnt, Ferien zu machen. Autobiographische Bemerkungen sind, wie Jahrgänger Ratzinger betont (er kommt der «Häutung der Zwiebel» vor), mit Vorsicht zu geniessen. Auch ist klar, dass die spät eingestandene Dienstzeit von Grass bei der Waffen-SS nichts mit Wehrpflicht zu tun hatte, weil die SS nur Überzeugte aufnahm. Im letzten Kriegswinter glaubte indes wohl kaum mehr jemand an den «Endsieg». Es ging um das Schlimmste, was einem Volk bei einem Krieg passieren kann: ihn nämlich zu verlieren mit all den fürchterlichen Folgen, was etwa Uwe Johnson und dessen Vater realisierte. Die Entscheidung eines jungen Mannes, gegen die Niederlage anzukämpfen, war im Prinzip nicht unmoralisch. Hinterher war man freilich klüger. Es folgten in der Bundesrepublik dann Auseinandersetzungen nach dem Motto, wie es der jüdische Widerstandsmann William S. Schlamm formulierte: «Wenn Ex-Nazis Ex-Nazis Ex-Nazis nennen.“ Günter Grass bleibt, mit seinen Widersprüchen, ein deutscher Chronist des Jahrhunderts.

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Grass in Lenzburg – «Der hergereiste Habenichts» (Beitrag von Pirmin Meier in der «Schweiz am Sonntag» vom 19. April 2014, mit Korrekturen für die Version auf lu-wahlen.ch)

Lenzburg und der Aargau, auch der Kanton Solothurn, sind mit Nobelpreisträgern und Repräsentanten der Weltliteratur gesegnet. Als am 9. März 1918, einem Samstag, der Lenzburger Frank Wedekind in Zürich starb, kam das Ereignis auf die Titelseite der deutschen Sonntagszeitungen. In Oftringen hat die «Fondation André Gide» ihren Sitz, Trägerin der Weltrechte des Nobelpreisträgers von 1947. Tochter Cathérine Gide, gestorben 2013, lebte und wirkte in Olten. Das Schloss Brunegg, einst Eigentum von J. R. von Salis, wurde Schauplatz von Thomas Manns Roman «Der Erwählte». Die Stadt Baden und deren schräge Brücke gegenüber Ennetbaden wurde von Hermann Hesse, Nobelpreisträger 1946, dank der Vogel-Erzählung «Die Dohle», literarisch unsterblich gemacht. Nach Recherchen von Pirmin Kramer für das «Badener Tagblatt» fand die Begegnung von Günter Grass, Nobelpreis 1999, mit einem trommelschlagenden Knirps tatsächlich wie in seiner Autobiographie «Beim Häuten der Zwiebel» beschrieben in Lenzburg, nicht etwa in Wettingen statt. Das Leitmotiv von «Die Blechtrommel», Grass‘ bei weitem berühmtestem Roman, hat es zum Titelbild im neusten «Spiegel» gebracht. 

Matthias Scheurer (62), der einstige kindliche Blechtrommler an der Nägelistrasse 5 in Wettingen, ist als Berufsgewerkschafter dem «Trommeln» treu geblieben. Ohne Rücksicht darauf, dass die «Abschaffung des Kapitalismus» Schweizer Arbeitnehmer eher langweilt, bekennt Scheurer auf einer SP-Homepage: «Die Überwindung des Kapitalismus ist für mich kein intellektuelles Gedankenspiel, sondern Inhalt meines realpolitischen Alltags.» Günter Grass selber misstraute als Kritiker der DDR revolutionären Phrasen. Dafür legte er sich mit Willy Brandt umso mehr für eine reformistische Sozialdemokratie ins Zeug. Davon war auch sein Schwager und zeitweiliger Weggefährte Werner Geissberger (1921 – 1986)  begeistert. Der einst bekannteste Publizist des Verlagshauses Wanner stand der liberalsozialistischen Partei und als Gründer dem Badener Team 67 nahe. Der Journalist Peter W. Frey erinnerte sich dieser Tage an eine Grossveranstaltung mit Günter Grass in der Aula der damals noch jungen Kantonsschule Baden zugunsten des Team 67. Weltveränderung durch Landesplanung war angesagt. Grass betätigte sich seit 1965 in der Bundesrepublik als «Trommler» für Willy Brandt und die SPD, wohingegen er dem ehemaligen Kommunisten Herbert Wehner misstraute. 

Dieser hielt es nämlich mit der grossen Koalition von SPD und CDU, während für Grass und damals auch für Geissbergers «Badener Tagblatt» die sozialliberale Koalition Brandt-Scheel (1969 – 1974) die höchste politische Hoffnung war und fast tägliche publizistische Unterstützung wert. Noch in den Achtziger Jahren, als das Waldsterben angesagt war, träumte Grass von einem deutsch-deutschen Vertrag mit Erich Honecker zur Rettung der Umwelt. Damals publizierte Werner Geissberger, Sohn eines Lenzburger Bezirkslehrers, zusammen mit Samuel Mauch den «NAWU-Report», eine frühgrüne Programmschrift mit «Wegen aus der Wohlstandsfalle».

Für den Aufstieg von Günter Grass wurde Lenzburg zum Schicksal. Im Zusammenhang mit seinem Lenzburger Schwiegervater Boris Schwarz («Schwarz-Stahl») nannte sich der spätere Autor von Weltruf in seinem autobiographischen Buch «Vom Häuten der Zwiebel» (2006) im freisinnigen Aargauer Zusammenhang ein «hergereister Habenichts». Die Behauptung, er habe sich bis zu seinem Durchbruch als Schriftsteller (1959), samt Familie mit 300 Mark monatlich durchbringen müssen, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein sozialistisches Märchen. Der wenig erfolgreiche gelernte Bildhauer und Grafiker Grass war in den Fünfziger Jahren so etwas wie ein ewiger Student. Seinen Lebensstil, zu dem das Auto ebenso gehörte wie sommerliche Aufenthalte in einem Tessiner Ferienhaus, verdankte er zunächst einer guten Partie aus dem Aargau. Der Roman «Die Blechtrommel» wurde zwar teilweise in Wettingen ins Reine getippt, meistenteils aber ab 1956 in Paris geschrieben. Hier wohnte Grass mit seiner Lenzburgerin Anna und den Kindern an der Rue d’Italie. In nicht geringem Ausmass wurde die Familie vom kapitalistischen «Eisen-Schwarz» unterhalten, der ihr dort die Eigentumswohnung finanziert hatte. In Paris liess sich die ehemalige Aarauer Lehrerseminaristin Anna Schwarz in klassischem Tanz ausbilden. Zuvor war sie, gleich nach dem Seminar, als Tanzstudentin, bei der Ausdruckstänzerin Mary Wigmann in Berlin in der «Lehre» gewesen. 

Laut offizieller Biographie verzog sich der Kunststudent Grass 1952/53 vor allem deswegen von Düsseldorf nach Berlin, weil ihm die Wirtschaftswundermentalität in Westdeutschland zuwider war. Als Motiv für den Aufenthalt in Berlin nicht zu unterschätzen war aber wohl das Zusammensein mit der Tanzstudentin Anna Schwarz. Mit dieser hatte er am Lenzburger Jugendfest 1952, wie heute noch erzählt wird, «tanzet wie n-en Aff», so wie Tanzen gemäss dem Bekenntnis von Grass nebst der Familie die wichtigste Gemeinsamkeit mit der Stahlhändlerstochter gewesen sein soll. Diese war aber auch eine fleissige Leserin und kritische Mitleserin, weswegen Günter Grass bei weitem bedeutendstes Werk, «Die Blechtrommel», mit der Widmung «Für Anna Grass» versehen ist. Profil erhält die vierfache Mutter auch im Briefwechsel der beiden Grass mit dem Schriftsteller Uwe Johnson, zu dem die Lenzburgerin massgeblich beitrug. Ab 1978 (Scheidung) ging das Ehepaar Grass getrennte Wege. 

Anna Schwarz, die mittlere der drei legendär hübschen Schwarz-Töchter neben Helen Geissberger und Katharina, der Jüngsten, steht im Leben von Günter Grass für so etwas wie den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft. Die Eheschliessung am 20. April 1954 auf dem Zivilstandsamt Lenzburg war für Grass alles andere als ein Datum für den Eintritt in den Himmel, da mit dem Geburtstag des «Führers» identisch. Die Hochzeit erfolgte, bei Einverständnis der Brautleute, klar auf Anordnung des Schwiegervaters. Dieser hatte nämlich in Erfahrung gebracht, dass Grass in Berlin regelmässig bei seiner Tochter übernachte. So etwas widersprach auch den Vorstellungen von Mutter und Grossmutter, über deren «protestantischen Puritanismus» sich der «katholische Heide» Grass in seinem Werk mehrfach auslässt. So wurde also, damit alles seine Ordnung hatte, aargauisch bürgerlich geheiratet. Die vier Kinder sind «schweizerdeutsch» aufgewachsen. Mit dem Vater aber unterhielten sie sich berlinerisch.

Als Poet hat Günter Grass wiederholt das Tanzmotiv aufgegriffen, zuletzt in dem von ihm deftig illustrierten Gedichtband «Letzte Tänze» (2003). So fein formuliert wie Gottfried Kellers «Tanzlegendchen» sind Grass‘ Texte über das Tanzen nicht. Seine Aargauer Bezüge gipfeln 1969 in einer Hommage an die Schweizer Demokratie: «Ich will nicht verschweigen, dass ich einige gehörige Lektionen in Sachen demokratisch-politischer Kleinkram der Schweiz also ziemlich direkt meiner Frau zu verdanken habe. Der langsame Bürgersinn der Schweizer, der einerseits aussergewöhnliche Leistungen und darum auch aussergewöhnlich gefährliche Politiker zu verhindern versteht und sich andererseits Zeit nimmt, selbst die dringlichste Initiative einem demokratischen Prozess, also oft genug der Ablehnung, zu unterwerfen, diese so widersinnige wie notwendige Prozedur, Reformen auf unblutige Weise zu betreiben, hat mich überzeugt.»


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Über Pirmin Meier:

Dr. phil. Pirmin Meier (1947), aufgewachsen in Würenlingen AG und wohnhaft in Aesch, langjähriger Gymnasiallehrer in Beromünster, war zunächst als Journalist und Herausgeber von Büchern (unter anderem bei Suhrkamp-Insel) tätig, später mehrere Jahrzehnte als Gymnasiallehrer (Beromünster) und Lehrerfortbildner. 

Seine Biographien über Paracelsus (6. Auflage im Jahr 2013), Bruder Klaus (3. Auflage in Vorbereitung) sowie Heinrich Federer und Micheli du Crest gelten als epochal und wurden unter anderem mit dem Innerschweizer und dem Aargauer Literaturpreis ausgezeichnet. Zu den Themen, die mit der Innerschweiz zu tun haben, gehören bei Pirmin Meier das Buch «Landschaft der Pilger», unter anderem mit der Beschreibung der Schattigen Fasnacht in Erstfeld und einer ersten Studie über den heiligen Gotthard. Ausserdem setzte er sich mit der Biographie von Pater Alberich Zwyssig – von ihm stammt der Text des «Schweizerpsalms», der Schweizer Nationalhymne – auseinander, eingegangen in das Buch über Wettingen «Eduard Spörri, ein alter Meister aus dem Aargau».  

Stark beachtet, mit rund drei Dutzend öffentlicher Lesungen seit dem Erscheinen, etwa in Altdorf und im Bahnhofbuffet Göschenen, wurde die mit grossem Aufwand betriebene Neufassung des berühmten Jugendbuches «Der Schmied von Göschenen», welche Neubearbeitung erstmals die Bedeutung der Walser für die ältere Schweizer Geschichte unterstreicht.  

Pirmin Meier gehörte auch zu den geistigen Promotoren des Films «Arme Seelen» von Edwin Beeler, zu welchem Thema er sich im Sommer 2012 in einer ganzstündigen Sendung «Sternstunde Religion» auf SRF ausgelassen hat. Er lebt in Rickenbach bei Beromünster, arbeitet derzeit an einem Grossprojekt über Schweizer Mystik und schrieb auch den Text für das Oratorium Vesper von Heiligkreuz mit Musik von Carl Rütti.

Am 7. September 2013 hielt Dr. Pirmin Meier auf der Rigi die Jubiläumsansprache zum Jubiläum 70 Jahre Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein ISSV. Für sein Buch «St. Gotthard und der Schmied von Göschenen» machte er bedeutende, für die Geschichte der alten Wege einmalige Recherchen über die alten Wege vor 1231, auch zusammen mit dem Historiker Dr. Hans Stadler-Planzer.

In beratender Funktion ist Pirmin Meier tätig für das Filmprojekt «Paracelsus - Ein Landschaftsessay» des in Root (LU) wirkenden Filmunternehmers und Regisseurs Erich Langjahr, wie Pirmin Meier Innerschweizer Kulturpreisträger.

Mehr über Pirmin Meier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pirmin_Meier

Pirmin Meier erhält Innerschweizer Kulturpreis 2008:
https://kultur.lu.ch/-/media/Kultur/Dokumente/preise_auszeichnungen/meier2008.pdf