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Kolumne von Pirmin Meier

01.02.2015

Pirmin Meier schreibt über Richard von Weizsäcker

Der gestern in Berlin verschiedene deutsche Altbundespräsident wird in den Medien als herausragender Politiker und Staatsmann gewürdigt. Auch Historiker Dr. Pirmin Meier sieht in ihm eine bedeutende Figur der Geschichte Deutschlands und Europas. Er verweist auf schweizerische Bezüge im Leben des Verstorbenen, etwa zum Zuger katholisch-konservativen Bundesrat Philipp Etter. Siehe dazu auch unter «Dateien» und «Links» weitere Nachrufe auf Richard von Weizsäcker.


Richard von Weizsäcker gehörte nach Konrad Adenauer, Theodor Heuss, Willy Brandt sowie den Kanzlern Schmidt und Kohl zu den markanten deutschen Staatsmännern der Nachkriegszeit. Weizsäckers Lebensweg hat mit der Schweiz zu tun. Der Sohn des Botschafters Hitlerdeutschlands besuchte in Bern das Kirchenfeld-Gymnasium. Als Bundespräsident war er dreimal in der Schweiz. Bei der Verteidigung seines Vaters im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess (1947 – 1949) spielten Entlastungszeugnisse von Bundesrat Philipp Etter eine Rolle. Als Sohn eines Kriegsverbrechers wäre Weizsäckers Karriere wohl kaum möglich geworden. 

Weizsäckers berühmte Rede zum 8. Mai 1945 ist ein Meisterstück der Differenzierung. Wie herkömmlich erinnerte er an die Bombennächte, die Vertreibungen, den enormen Schaden, den Hitlers Kriegspolitik für Deutschland bedeutete.

Eine Kollektivschuld für die Verbrechen wird zurückgewiesen. Die Aussage jedoch, der 8. Mai 1945 sei für das besiegte Land ein «Tag der Befreiung» gewesen, kam als Mahnwort eines Bundespräsidenten spät. Das war kein Zufall. Viele hatten, nicht nur beim Wüten der vergewaltigenden russischen Soldateska im Osten, auch in den «Rheinwiesenlagern» der Amerikaner Erfahrungen gemacht, die mutmasslich brutaler waren als das spätere Guantanamo, wiewohl mit Auschwitz sicher nicht vergleichbar. 

Bauernfamilien im Schwarzwald, welche – so im einst schweizerischen Rottweil - die weiblichen Familienmitglieder im Heuschober versteckten, empfanden das Eindringen französischer Truppen (oft nordafrikanischer Herkunft) nicht spontan als Befreiung. 

Es brauchte 40 Jahre, bis ein deutscher Bundespräsident die Erinnerung an den 8. Mai aus einer umfassenden europäischen Perspektive würdigen konnte. Weizsäcker war glaubwürdig. Er hatte schon am 2. September 1939 in Polen seinen Bruder Heinrich verloren, soll ihn eigenhändig beerdigt haben. Gegen Kriegsende stand er Vertretern des konservativen Widerstandes vom 20. Juli 1944 nahe. «Die bewegende Kraft der Geschichte» lautet der Untertitel eines von Weizsäcker veröffentlichten Buches.

Das Leben des Freiherrn von Weizsäcker kann nicht mit der Existenz herkömmlicher bürgerlicher Politiker verglichen werden. Schon sein Grossvater war württembergischer Ministerpräsident. Als er sich 1954 der CDU anschloss, sagte ihm Adenauer: «Bilden Sie sich aus. Gründen Sie eine Familie. In der Politik können wir Sie nicht gebrauchen.» Anders sah dies später Helmut Kohl. Er überliess Weizsäcker einen sicheren Wahlkreis in der Pfalz, berief ihn zusammen mit Heiner Geissler zur Erstellung eines CDU-Grundsatzprogrammes mit Bekenntnissen zum christlichen und humanistischen Menschenbild. Dabei grenzte sich der Vorsitzende des Evangelischen Kirchentags vom rechten Flügel der Partei ab. Er warnte: «Wenn es mit der Demokratie nicht klappt, dann wartet kein Rätesystem auf uns, sondern ein System in der Art von Salazar» (katholischer portugiesischer Diktator). Unbeschadet dieser Kritik schlug Kohl den Protestanten zum Bundespräsidenten (1984 – 1994) vor.

Das Nachkriegsschicksal der Familie Weizsäcker entschied sich bei den Kriegsverbrecherprozessen ab 1947. Der junge Jurist Richard von Weizsäcker war als Hilfsverteidiger seines Vaters zugelassen. Als Mitarbeiter des Aussenministers Ribbentrop musste sich der ehemalige Botschafter in Bern und beim Vatikan, Ernst von Weizsäcker, die Frage nach der Involvierung in Judentransporte, beziehungsweise um das Wissen danach, gefallen lassen. Die Strategie, der Vater habe von nichts gewusst, ging auf. Erst viel später konnte von Historikern der Nachweis des Gegenteils erbracht werden.

Beim Schweizer Bundesrat aber verfügte Ernst Weizsäcker über einen ausgezeichneten Ruf als nicht ideologisch geleiteter Diplomat alter Schule. Philipp Etter zitierte zur Entlastung einen Brief von Ernst Weizsäcker zum Tod von Giuseppe Motta (1940), worin der Tessiner Bundesrat als grosser richtungsweisender Diplomat gerühmt wurde. Die Familie will sich stets dem Staat, nicht einem System gegenüber loyal gezeigt haben. Dies galt auch für den hervorragend gebildeten Richard von Weizsäcker. Seine prägenden Gymnasialjahre hatte er in Bern verbracht, an der Seite des späteren FIS-Direktors Marc Hodler. Bei seinen Besuchen in der Schweiz 1986 (Genf), 1987 und 1990 (Staatsbesuche) erwies sich Weizsäcker nicht bloss als billiger «Freund» der Schweiz. Er war deren Kenner, einschliesslich weniger guter Seiten. Seine Schwägerin war Gundulena Weizsäcker, geborene Wille, die Tochter des hochumstrittenen Korpskommandanten Ulrich Wille junior. Sein Bruder, der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, bestätigte 1997 dem Schreiber dieses Nachrufs, eine deutsche Nuklearwaffe wäre nicht unmöglich gewesen, hätten Hitler und die Wehrmacht dies zur Priorität erhoben. Wie wenige Deutsche standen die Weizsäcker zu kritischen Zeiten «Im Auge des Orkans». 

Der verstorbene Bundespräsident hat Massstäbe gesetzt.

Pirmin Meier, Rickenbach


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Über Pirmin Meier:

Dr. phil. Pirmin Meier (1947), aufgewachsen in Würenlingen AG und wohnhaft in Aesch, langjähriger Gymnasiallehrer in Beromünster, war zunächst als Journalist und Herausgeber von Büchern (unter anderem bei Suhrkamp-Insel) tätig, später mehrere Jahrzehnte als Gymnasiallehrer (Beromünster) und Lehrerfortbildner. 

Seine Biographien über Paracelsus (6. Auflage im Jahr 2013), Bruder Klaus (3. Auflage in Vorbereitung) sowie Heinrich Federer und Micheli du Crest gelten als epochal und wurden unter anderem mit dem Innerschweizer und dem Aargauer Literaturpreis ausgezeichnet. Zu den Themen, die mit der Innerschweiz zu tun haben, gehören bei Pirmin Meier das Buch «Landschaft der Pilger», unter anderem mit der Beschreibung der Schattigen Fasnacht in Erstfeld und einer ersten Studie über den heiligen Gotthard. Ausserdem setzte er sich mit der Biographie von Pater Alberich Zwyssig – von ihm stammt der Text des «Schweizerpsalms», der Schweizer Nationalhymne – auseinander, eingegangen in das Buch über Wettingen «Eduard Spörri, ein alter Meister aus dem Aargau».  

Stark beachtet, mit rund drei Dutzend öffentlicher Lesungen seit dem Erscheinen, etwa in Altdorf und im Bahnhofbuffet Göschenen, wurde die mit grossem Aufwand betriebene Neufassung des berühmten Jugendbuches «Der Schmied von Göschenen», welche Neubearbeitung erstmals die Bedeutung der Walser für die ältere Schweizer Geschichte unterstreicht.  

Pirmin Meier gehörte auch zu den geistigen Promotoren des Films «Arme Seelen» von Edwin Beeler, zu welchem Thema er sich im Sommer 2012 in einer ganzstündigen Sendung «Sternstunde Religion» auf SRF ausgelassen hat. Er lebt in Rickenbach bei Beromünster, arbeitet derzeit an einem Grossprojekt über Schweizer Mystik und schrieb auch den Text für das Oratorium Vesper von Heiligkreuz mit Musik von Carl Rütti.

Am 7. September 2013 hielt Dr. Pirmin Meier auf der Rigi die Jubiläumsansprache zum Jubiläum 70 Jahre Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein ISSV. Für sein Buch «St. Gotthard und der Schmied von Göschenen» machte er bedeutende, für die Geschichte der alten Wege einmalige Recherchen über die alten Wege vor 1231, auch zusammen mit dem Historiker Dr. Hans Stadler-Planzer.

In beratender Funktion ist Pirmin Meier tätig für das Filmprojekt «Paracelsus - Ein Landschaftsessay» des in Root (LU) wirkenden Filmunternehmers und Regisseurs Erich Langjahr, wie Pirmin Meier Innerschweizer Kulturpreisträger.

Mehr über Pirmin Meier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pirmin_Meier

Pirmin Meier erhält Innerschweizer Kulturpreis 2008:
https://kultur.lu.ch/-/media/Kultur/Dokumente/preise_auszeichnungen/meier2008.pdf