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Kolumne von Pirmin Meier

14.12.2014

Pirmin Meier über den verstorbenen CDU-Politiker Ernst Albrecht – einen Buddenbrook unserer Zeit

Ernst Albrecht, geboren am 29. Juni 1930 in Leuchtenburg Niedersachsen, unweit der Grenze des Landes Bremen, verstorben am 13. Dezember 2014 auf dem Landgut seiner Tochter Ursula von der Leyen in Beinhorn-Burgdorf, ebenfalls Niedersachsen, gehörte zu einer Familie, die seit dem 19. Jahrhundert die wirtschaftliche, geistige und vielfach auch politische Elite Deutschlands repräsentierte.


Von Januar 1976 bis Mitte 1990 (Nachfolger Gerhard Schröder) amtete Ernst Albrecht in Hannover für die CDU als niedersächsischer Ministerpräsident. 1979 war er nahe daran, anstelle des bayrischen «Emporkömmlings» Franz Josef Strauss Kanzlerkandidat der Deutschen Christdemokraten zu werden, was angesichts der starken Stellung der CSU (die mit dem Alleingang als damals «vierter» Partei drohte) und des machtbewussten Metzgersohnes Strauss jedoch nicht machbar war. 

Die neueste Publikation des deutschen Dichters Botho Strauss, mit dem einstigen Politiker nicht zu verwechseln, trägt den denkwürdigen Titel «Herkunft». Für den verstorbenen Ernst Albrecht und seine Tochter Ursula von der Leyen, welche als Verteidigungsministerin die Todesnachricht in Afghanistan bekannt geben musste, ist dieses Stichwort einigermassen erhellend. Was Deutschland am Hindukusch zu verteidigen hat, ist weniger gut informierten Polit-Laien zwar nie klar geworden, doch zeigt die aus aktuellem Anlass ausgesprochene Absage von Selfie-Aufnahmen mit Soldaten, dass es der Tochter des niedersächsischen Staatsmannes um die Ermunterung der dort hingeschickten deutschen Milizionäre hätte gehen sollen.

Ernst Albrechts Ururgrossvater, Ludwig Knoop (1821 bis 1894), vom russischen Zaren in den Stand eines Barons erhoben, gehörte analog zum Schaffhauser Uhrmacher und Grossindustriellen Heinrich Moser (1805 bis 1874) zu den Pionieren der Industrialisierung Russlands, kehrte jedoch wie Moser mit umso grösserem Erfolgshunger wieder in seine mitteleuropäische Heimat zurück. In Bremen war Baron Knoop einer der bedeutendsten Industriellen, vergleichbar dem um zwei Generationen jüngeren Hamburger Alfred Toepfer (1894 bis 1993), dem nachmaligen Freund und Förderer von Helmut Schmidt sowie Kulturförderer und Naturschützer während fast acht Jahrzehnten.

Die Familiengeschichten dieser Eliten sind von Thomas Mann im Roman «Buddenbrooks» auf gültige Art, allerdings mit Betonung des Degressiven, schon 1901 auf nobelpreiswürdige Art und Weise dargestellt worden. 

Ernst Albrecht hat sich jedoch in keiner Phase seiner Karriere als Spätling verstanden. Ganz im Gegenteil. Als Sohn eines Arztes, der sich politisch zur Zeit des Nationalsozialismus nicht exponiert hatte, stand ihm angesichts seiner glänzenden Herkunft und bedeutenden Begabungen in der britischen Besatzungszone eine hervorragende und erwünschte Karriere als bürgerlicher Politiker bevor. 1946 bis 1948 engagierte sich der Protestant bei der Deutschen Jungenschaft, einer bündischen Alternativbewegung zur Hitlerjugend, die männerbündisches und christlich-konservatives Gedankengut vertrat. Ein hoher Grundwert war für die Albrechts schon seit Baron Knoops Zeiten die Familie, sechs und sieben Kinder waren über Generationen Standard, so für Ernst Albrecht selber, seinen Sohn, den Grossindustriellen Hans-Holger Albrecht und seine Tochter, die ehemalige deutsche Familienministerin und derzeitige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, verheiratet mit einem Medizinprofessor. 

Der nachmalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht, ein hochbegabter und ehrgeiziger junger Mann, leistete sich nach dem Abitur mehrere Studienabschlüsse, zunächst in Theologie und Philosophie, in Tübingen und Basel, unter anderem bei Carl Jaspers, anschliessend in Recht und Wirtschaft mit einer Dissertation über Die Haftungsverhältnisse in der Montangemeinschaft. Für die politische Karriere hatte er das Glück, via Sekretär der Montanunion und Wirtschaftsfachmann in absoluter Kaderposition bei der werdenden Europäischen Gemeinschaft, damals EWG genannt, tätig zu werden, zu einem Zeitpunkt, da Europa noch «Abendland» genannt wurde und zumal die deutsche Politik unter Adenauer und seinen Nachfolgern voll auf Westintegration und Leistungswettbewerb in der freien Marktwirtschaft setzte, damals Bedingung für den Wiederaufstieg Deutschlands und das baldige Überholen der Partnerländer. 1969 bis 1971 war Ernst Albrecht Generaldirektor der Europäischen Gemeinschaft, um in den Siebziger Jahren dann konsequent eine politische Karriere in seiner deutschen Heimat anzustreben. Als Ziel wäre auch die Kanzlerschaft nicht ausgeschlossen gewesen.

In der bundesrepublikanischen Politik erwies sich das Jahr 1976 für Ernst Albrecht als ein Glücksfall. Entgegen aller Erwartungen oder dann, wie es später immer wieder mal vorkam, vielleicht mit einiger Nachhilfe, gewann Albrecht ein konstruktives Misstrauensvotum gegen die SPD im sächsischen Landtag, insofern dort ihm mindestens zwei Mitglieder der sozialliberalen Koalition zum Amt des Ministerpräsidenten verhalfen. So blieb er, meist mit äusserst knappen Mehrheiten, aber doch mit einer sehr geschickten Politik bis 1990 im Amt. 

In der Phase des Baader-Meinhof-Terrorismus zeigte sich Albrecht, beziehungsweise sein Umfeld in der sogenannten Celle-Affäre mit skrupelloser Verwendung von V-Männern nicht zimperlich, ein Verfahren, das in Deutschland heute vor allem im «Kampf gegen Rechts» verwendet wird. Man neigte dazu, für den «Sieg des Guten» einiges zu riskieren. 

Im Vergleich zu vielen anderen Politikern der CDU und der CSU hat sich Ernst Albrecht wie sonst fast nur noch Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, der Grossvater des bekannten Plagiators und Neffe eines Widerstandskämpfers gegen den Nationalsozialismus, in geistige Unkosten gestürzt. In den Siebziger Jahren veröffentlichte er beim liberalkonservativen Stuttgarter Seewald-Verlag die staatsphilosophische Studie «Der Staat – Idee und Wirklichkeit», in welcher er naturrechtliche Überlegungen mit existenzphilosophischem Geschwurbel aus der Schule von Jaspers zu verbinden versuchte.

«Wo vollkommene Ordnung ist, da herrscht Friede», formulierte er aus dem Geist von Augustinus im mutmasslichen Wissen, dass diese Art Friede wohl niemals herrschen wird. Dass das «Wesen das Mass der Vollkommenheit» sei, klingt wie eine Mischung von Heidegger, Aristoteles und Thomas von Aquin.

Glaubwürdig wirkte Albrecht mit dem Bekenntnis: «In axiologischer Hinsicht nimmt die Gemeinschaft einen höheren Rang ein als die Gesellschaft; sie stellt, gerade wegen des starken inneren Bandes, eine wertvollere Form menschlichen Zusammenlebens dar.» 

Dabei fiel der philosophierende Politiker jedoch nicht in ständestaatliche Phantasien zurück, sondern postulierte auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips das «arbeitsteilige Zusammenwirken von Menschen und Firmen». Dazu soll der freiheitliche Rechtsstaat liberale Rahmenbedingungen geben. Die Bundesrepublik sei jedoch, mahnte er 1976, «seit dem letzten Krieg nur noch ein Wohlfahrtsstaat, und die unbefriedigte Sehnsucht der Menschen nach Gemeinschaft, nach Dienst und Einsatz für etwas, das den engen Rahmen des Einzeldaseins übersteigt, richtete sich auf die seltsamsten Surrogate». Damit wollte er offensichtlich auf die linksextremen Verirrungen der 68-er anspielen. In der Vernachlässigung der Gemeinschaftsbedürfnisse sah er den Nährboden für den «tragischen Irrtum des emanzipatorischen Freiheitsbegriffs».

Zu den langfristig leider zutreffenden Überlegungen in seinem Buch gehört die sarkastische Bemerkung über die «Ministerkrankheit»: «Ihre Symptome: zunehmende Eitelkeit und Selbstsicherheit. Monologisieren im Gespräch, Teilnahme an Sitzungen ohne Vorbereitung, da man nach und nach die Überzeugung gewonnen hat, alles zu können ... Wachsender Ich-Bezug. Personalisierung der Politik. Das Persönliche tritt an die erste, das Sachliche an die zweite Stelle ... Der Staat geht zugrunde, wenn man selbst nicht mehr an der Regierung ist.» 

Albrecht gehörte gemäss einer Mitteilung des Landes Niedersachsen zu den treibenden Kräften für die Einführung des Privaten Rundfunks in der Bundesrepublik. 1983 erreichte er die Zulassung privater Sender im Fernsehbereich.

Bis 1990 schaffte er es, die Nettoneuverschuldung Niedersachsens erheblich zu reduzieren, ebenso die Zahl der Arbeitslosen – trotz sehr vieler Aus- und Übersiedler – und erreichte, dass Niedersachsen beim Wachstum des Sozialprodukts auf einen stabilen zweiten Platz in der Länderwertung kam. Albrecht trat konsequent für die Wiedervereinigung ein. Er rief 22 wirtschaftliche Forschungsinstitute ins Leben und ebnete so auch ausländischen Investoren den Weg nach Niedersachsen. Zudem lag ihm die Entwicklung des ländlichen Raums am Herzen. Niedersachsen sollte nicht aus Städten, sondern aus Regionen mit eigenständiger Tradition und Identität bestehen.

Nach seiner Abwahl 1990 kümmerte sich Albrecht in Sachsen-Anhalt als Aufsichtsratsvorsitzender um die gefährdeten Eisen- und Hüttenwerke in Thale. Über tausend Arbeitsplätze konnten zunächst durch ihn erhalten werden. Über zehn Jahre beriet er die frühere Sowjetrepublik Kirgistan beim Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates und bei der Überwindung einer großen wirtschaftlichen und sozialen Krise. Seine Abwahl als Ministerpräsident 1990 hängt aber wohl wesentlich mit seinem unpopulären Engagement für das Atommülllager Gorleben zusammen, bei welchem es ihm offenbar ein Anliegen war, ein vergleichsweise wirtschaftlich wenig kräftiges Randgebiet zu fördern.

Bei diesem Thema entfaltete Albrechts stärkster politischer Gegner, der nachmalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, politisches Gespür und politischen Instinkt. 

Bemerkenswert bleibt, dass Ernst Albrecht sich nach seiner Abwahl nicht aufs politische Altenteil verlegte, sondern weiterhin im In- und Ausland als Industrieförderer tätig blieb. Eine bedeutende Karriere auf diesem Gebiet brachte sein Sohn Hans-Holger Albrecht zustande, heute CEO des weltweit tätigen Mobilfunkmultis Millicom International Cellular S.A. mit 10 000 Mitarbeitern und Niederlassungen in gegen zwei Dutzend Ländern, zumal in Südamerika, Afrika und Asien. Der Hauptsitz der Firma befindet sich in Luxemburg. 

Steil bergan ging es auch mit der Karriere seiner Tochter Ursula von der Leyen, die als siebenfache Mutter es sowohl zur CDU-Familienministerin brachte wie auch zur Verteidigungsministerin, ein Amt, für das dank der Vollintegration Deutschlands in der NATO militärische Vorkenntnisse – sie gingen schon Vor-Vorgänger Guttenberg ab – nicht mehr notwendig zu sein scheinen. Das Verteidigungsministerium macht nicht den Eindruck einer letzten, womöglich aber vorletzten Karrierestation der durch ihre Familie geprägten Politikerin, der man das Amt einer ersten Frau im deutschen Bundespräsidium zutrauen würde. 

Ernst Albrecht, ohne Zweifel das bedeutendste Familienmitglied seit Urahn Baron Knoop, konnte sich in den letzten elf Jahren seines Lebens wegen Alzheimer-Erkrankung nicht mehr als Elder Statesman bewähren, jedoch immer noch auf seinem Anwesen in Beinhorn-Burgdorf Zwergziegen und Edelhühner füttern sowie Sudoku-Rätsel lösen. 

Beeindruckend bleibt ein über 200 Jahre durchgehaltener Gemeinschaftsbezug einer Familie, welche über Generationen einen beeindruckenden Leistungsausweis erbracht hat. Weder würde die Wahl von Ursula von der Leyen zur ersten deutschen Bundespräsidentin verwundern noch weitere Generationen überschreitende Karrieresprünge der insgesamt 14 Kinder Holger Albrecht und Ursula von der Leyen, vielleicht sogar in Epochen, da der Name «Christdemokraten» möglicherweise der Vergangenheit angehören wird. Als staatsphilosophischer Buchautor hat Ernst Albrecht Grundsätze angesprochen, welche in der Blütezeit der Christdemokratischen Union CDU als geistige Leitwährung galten. In diesem Sinn war er, was es heute in dieser Partei nicht mehr gibt, eine Art Vordenker. 

Pirmin Meier, Rickenbach


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Über Pirmin Meier:

Dr. phil. Pirmin Meier (1947), aufgewachsen in Würenlingen AG und wohnhaft in Aesch, langjähriger Gymnasiallehrer in Beromünster, war zunächst als Journalist und Herausgeber von Büchern (unter anderem bei Suhrkamp-Insel) tätig, später mehrere Jahrzehnte als Gymnasiallehrer (Beromünster) und Lehrerfortbildner. 

Seine Biographien über Paracelsus (6. Auflage im Jahr 2013), Bruder Klaus (3. Auflage in Vorbereitung) sowie Heinrich Federer und Micheli du Crest gelten als epochal und wurden unter anderem mit dem Innerschweizer und dem Aargauer Literaturpreis ausgezeichnet. Zu den Themen, die mit der Innerschweiz zu tun haben, gehören bei Pirmin Meier das Buch «Landschaft der Pilger», unter anderem mit der Beschreibung der Schattigen Fasnacht in Erstfeld und einer ersten Studie über den heiligen Gotthard. Ausserdem setzte er sich mit der Biographie von Pater Alberich Zwyssig – von ihm stammt der Text des «Schweizerpsalms», der Schweizer Nationalhymne – auseinander, eingegangen in das Buch über Wettingen «Eduard Spörri, ein alter Meister aus dem Aargau».  

Stark beachtet, mit rund drei Dutzend öffentlicher Lesungen seit dem Erscheinen, etwa in Altdorf und im Bahnhofbuffet Göschenen, wurde die mit grossem Aufwand betriebene Neufassung des berühmten Jugendbuches «Der Schmied von Göschenen», welche Neubearbeitung erstmals die Bedeutung der Walser für die ältere Schweizer Geschichte unterstreicht.  

Pirmin Meier gehörte auch zu den geistigen Promotoren des Films «Arme Seelen» von Edwin Beeler, zu welchem Thema er sich im Sommer 2012 in einer ganzstündigen Sendung «Sternstunde Religion» auf SRF ausgelassen hat. Er lebt in Rickenbach bei Beromünster, arbeitet derzeit an einem Grossprojekt über Schweizer Mystik und schrieb auch den Text für das Oratorium Vesper von Heiligkreuz mit Musik von Carl Rütti.

Am 7. September 2013 hielt Dr. Pirmin Meier auf der Rigi die Jubiläumsansprache zum Jubiläum 70 Jahre Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein ISSV. Für sein Buch «St. Gotthard und der Schmied von Göschenen» machte er bedeutende, für die Geschichte der alten Wege einmalige Recherchen über die alten Wege vor 1231, auch zusammen mit dem Historiker Dr. Hans Stadler-Planzer.

In beratender Funktion ist Pirmin Meier tätig für das Filmprojekt «Paracelsus - Ein Landschaftsessay» des in Root (LU) wirkenden Filmunternehmers und Regisseurs Erich Langjahr, wie Pirmin Meier Innerschweizer Kulturpreisträger.

Mehr über Pirmin Meier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pirmin_Meier

Pirmin Meier erhält Innerschweizer Kulturpreis 2008:
https://kultur.lu.ch/-/media/Kultur/Dokumente/preise_auszeichnungen/meier2008.pdf