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Kolumne von Pirmin Meier

29.04.2013

Neues Buch über Heinrich Zschokke erschienen, den verhassten «Sidian», Visionär und Pionier

Heinrich Zschokke (1771–1848), Wegbereiter der modernen Schweiz, hat auch wenige Jahre in der Innerschweiz verbracht und war dabei heftig umstritten. Eine neu erschienene Biographie beleuchtet die faszinierende Person Zschokke, des Ehrenbürgers von Beromünster.


Heinrich Zschokke im Alter von etwa 30 Jahren als Regierungsstatthalter der Helvetischen Republik.

Zschokke-Denkmal im Kasinopark in Aarau.

Bild: Alex Frei

Die von den Franzosen herbeigeführten Umwälzungen von 1798 brachten der Bevölkerung der vormaligen Alten Eidgenossenschaft zwar dankenswerte Neuerungen, so auf dem Gebiet der Gemeindeorganisation, der erweiterten Bürgerfreiheiten, auch der Abschaffung der Folter und vor allem einer fortschrittlichen Bildungspolitik. Auf der anderen Seite wurde die Landbevölkerung von fremden Heereseinheiten, zunächst französischen, dann auch russischen und österreichischen, regelrecht ausgeplündert. Und wie eine Faust aufs Auge zur Schweiz passte das Modell des von einer Zentralregierung verwalteten Einheitsstaates nach französischem Vorbild. Dies wollte man sich besonders in Schwyz und in Nidwalden nicht bieten lassen. Mit dem Niederreissen der Einsiedler Gnadenkapelle durch französische Truppen (Mai 1798) und einem Massaker an der Nidwaldner Bevölkerung vom September 1798 mit über 300 Toten nahm der Ruf der Helvetischen Revolution nachhaltigen Schaden. Generationenlang war von einer «Schreckenszeit» die Rede. 

«Bürger Rüttimann» (Vinzenz Rüttimann, Luzern, unter anderem Gründer der Gebäudeversicherung), «Bürger Pestaluz» (Pestalozzi), «Bürger Stapfer» (Bildungsminister) wurden die neuen Machthaber genannt. Vergleichsweise verhasst, auch wegen seines sächsischen Akzents, war der zum «Kommissär» des «Cantons Waldstätte» ernannte und in Malans GR eingebürgerte Preusse «Bürger Zschokke». 

Die französischen Generäle, Garanten der Revolution, sagten für Bürger «Citoyen». Daraus entstand in den katholischen Landen ein populäres, heute altväterisch klingendes Schimpfwort: «Sidian». Als von aussen eingesetzter «Innenminister» des Cantons Waldstätte, auch mit seinen «Beruhigungsmassnahmen» in Nidwalden, wurde Zschokke der «Sidian» schlechthin. Darunter verstand man einen Franzosenfreund und noch dazu ein Grossmaul, das viel verspricht. Heute wird im Entlebuch zum Beispiel auch eine Kuh, die sich nicht in die Herde einordnet, «Sidian» genannt; der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ist man sich kaum mehr bewusst.

Nach Gründung der Helvetischen Republik in Aarau am 12. April 1798 wurde der Hauptort im September von Aarau nach Luzern verlegt. Die Akzeptanz des ungeliebten zentralistisch-bürokratischen Systems beim Volk verbesserte sich dadurch aber nicht. Im Wigger- und Suhrental kam es, wie an vielen anderen Orten der Schweiz, zu Volksaufständen. 

Mit dem Druck regierungsnaher Zeitungen sollte dem allgemeinen Unwillen begegnet werden. Ein Profi auf diesem Gebiet war der 1795 zunächst nach Bern und Graubünden gekommene preussische Erfolgsautor Johann Daniel Heinrich Zschokke. Mit dem 1798 gegründeten und ab 1804 regelmässig erscheinenden «Schweizerboten» wurde, so Biograph Werner Ort, in der Form eines wöchentlich erscheinenden kalenderähnlichen Blattes, das Prinzip der Boulevardzeitung erstmals praktiziert.

Zschokkes «Schweizerbote» war mit etwa 3000 Exemplaren die bestgelesene abonnierte Zeitung in der deutschen Schweiz. Hier erfuhr man sogar etwas von den Kriegsereignissen. Das «Direktorium», wie die Regierung genannt wurde, wollte jedoch für das Volk eine «Luzerner Zeitung»: ein breit zu streuendes Gratisblatt mit Volksaufklärung und Positivmeldungen. Als offizielles Organ der Regierung liess dann Redaktor Zschokke eine «Helvetische Zeitung» erscheinen. Die Regierungsgazette fand jedoch nur 262 Abonnenten, davon 86 Beamte. Sie endete nach einigen Wochen mit dem damaligen Riesendefizit von 2280 Franken.

Um für die Helvetische Regierung in Luzern doch noch eine Art Öffentlichkeit zu schaffen, gründete Zschokke die «Litterarische Societät des Cantons Luzern». Bei allen Unterschieden –  etwa um 1943 gegründeten Innerschweizer Schriftstellerverein – ging es, in einer Zeit der Unsicherheit, um die Stiftung von Vaterlandsliebe. Zschokke betonte in einem Vortrag, dass zur Vaterlandsliebe der «Genuss der politischen Freiheit» gehöre, und: «Wer kein Vaterland hat, kann auch kein Vaterland lieben.» Zschokke wollte unter anderem neue Feiertage einführen: Einen «Stiftungstag der Republik» (12. April) und ein «Fest der Bürgertugenden» im Juni. 1891 hat sich immerhin das von Zschokke für den 1. August vorgesehene «Fest der Nationaltreue und Nationalehre» durchgesetzt, als offizieller Bundesfeiertag gesamtschweizerisch aber erst 1994. 

Zschokkes Luzerner «Litterarische Societät», die in Schwyz, Einsiedeln, Oberentfelden AG, Zürich, Basel, St. Gallen und Herisau Schwestergesellschaften erhielt, befasste sich nur am Rande mit Dichtung. Im Vordergrund stand die «Beförderung der Aufklärung, des Gemeingeistes und der Industrie in Helvetien». Der spätere aargauische Kantonsbibliothekar Bronner, ein deutscher Exmönch, hielt einen Vortrag über Einführung von Baumwollspinnmaschinen. Auch Feuerlöschanstalten und Feuerleitern wurden kurz vor der Gründung der Luzerner Gebäudeversicherung thematisiert. Zschokkes Lieblingsthemen galten sozialpolitischen Schwerpunkten. 

In einem leidenschaftlichen Plädoyer wandte er sich gegen die Kindsvernachlässigungen und Kindsmisshandlungen in Waisenhäusern. Damit war er einmal mehr seiner Zeit um 200 Jahre voraus. Und zum Silvester des Revolutionsjahrs 1798 organisierte Zschokke in Luzern einen Vortrag über Taubstummenunterricht! Wie ernst er es meinte, hat er später im Kanton Aargau mit der Gründung entsprechender Institutionen auf der Basis «liberaler» Eigeninitiative bewiesen.

In Luzern, der aufgeklärtesten katholischen Stadt der Schweiz, verfügte Zschokke über fruchtbare Arbeitsbedingungen. Lohn wurde dem besten Beamten der Republik allerdings keiner bezahlt, er lebte von Einnahmen als Autor und als Redaktor des «Schweizer Boten». 

Hingegen war sein Engagement in den «Ländern», den Urkantonen, von totalem Gegenwind geprägt. «Bürger Zschokke», wie sich der «Regierungskommissär» in Stans betiteln liess, wurde zum Inbegriff eines verhassten «Sidians».

In Nidwalden verknurrte er die Heldin des alteidgenössischen Widerstandes, Veronika Gut, dazu, den Kirchplatz von Stans zu wischen. Im Gefängnis hatte es nämlich keinen Platz für sie. Eine pädagogisch gemeinte Massnahme. Ganz im Geist des damals bereits berühmten Erziehers Heinrich Pestalozzi (1746–1827), mit welchem Zschokke damals die Meinung teilte: «Das Volk ist ein Kind.» Politisch gesehen eine Unterschätzung der Innerschweizer Dickschädel. Diese hatten zwar grobe und vielfach inkonsequente, aber durchaus qualifizierte Vorstellungen von Freiheit, was zum Beispiel dem politischen Schriftsteller Rousseau noch bewusst gewesen war.

In Stans musste Kommissar Zschokke nicht nur das Volk disziplinieren. Für die zahlreichen Waisen des verunglückten Freiheitskampfes mit dem nachfolgenden Massaker berief er Pestalozzi nach Stans. 

Doch mit Blick auf das Buch von Werner Ort bleibt von der sozialromantischen Idylle des Pestalozzi-Schulwandbildes fast nichts mehr übrig. Denn nicht als Helfer wurde Pestalozzi in Stans wahrgenommen. Eher schon als Gespött des Fleckens. Zschokke: «Man hielt ihn für einen gutmütigen Halbnarren, oder armen Teufel, Darum spazier‘ ich öfters Arm in Arm, recht absichtlich und den Spiessbürgern zum Trotz, mit ihm; verrichte Kammerdienerarbeit bei ihm, bürste Hut und Rock, oder mahne ihn an die schiefgeknöpfte Weste, ehe wir im Publikum erscheinen.»

Stärker als Philosophen und Ideologen der damaligen Zeit sah sich Zschokke indes gedrängt, anstehende praktische Probleme durch Taten zu lösen, so im «Aufruf zum Erbarmen für die leidende Menschheit in den verheerten Gegenden des Cantons Waldstätten». Dieses Flugblatt «löste in der ganzen Schweiz eine beispiellose Welle der Solidarität aus», schreibt Ort. Die Helvetik war in diesem Punkt besser als ihr Ruf. 

Die Vergewaltigung des Volkes in Nidwalden, der Zwang zum Bürgereid, die manipulierte Demokratie (Nicht-Stimmer wurden als Ja-Stimmen gezählt), der Zentralismus und die Verteidigung der französischen Fremdherrschaft zur Zeit der Helvetik bewirkten, dass in der Innerschweiz radikalliberale bis linke Ideen bis zur Zeit des Sonderbundskrieges (1847) und wohl noch später ein Minderheitenprogramm blieben. Auch Zschokkes humanitär gemeinte Idee, den heiligsten Wallfahrtsort des Alpenraums, Einsiedeln, in ein «Irrenhaus» umwandeln zu wollen, erwies sich verständlicherweise als nicht praktikabel. 

Heinrich Zschokke blieb auch weiterhin umstritten. 1816 wurde er in Beromünster, auf Vorschlag des Philosophen Ignaz Paul Vitalis Troxler, zwar eingebürgert, aber Luzern hat diesen Beschluss der Bürgergemeinde nicht bestätigt, auch aus konfessionellen Gründen, denn Zschokke war reformiert. Er gilt jedoch noch heute, wie die Hommage der Gemeinde an der neulichen Zschokke-Feier in Aarau zeigte, als Ehrenbürger von Beromünster. 

Zschokke wurde schon 1822 zum weltanschaulichen Erwecker des Luzerner Revolutionärs und späteren Erstunterzeichners der Bundesverfassung, Jakob Robert Steiger (1801–1862). Steiger protestierte in Sursee gegen eine Kapuzinerpredigt gegen Zschokkes auf den Index (Bücherverbot) gesetztes Werk «Stunden der Andacht», was dem jungen Studenten den Staatsanwalt auf den Pelz rücken liess. 

Als liberaler Schultheiss veranlasste Steiger später – im Sinne Zschokkes – mit Erfolg die Aufhebung des Klosters St. Urban, das 1873 dann zur kantonalen «Irrenanstalt» wurde. Die Millionen des Klostervermögens wurden nicht für die vom Bund dann erlassene Sonderbundskriegsschuld gebraucht, sondern für den Anschluss des Kantons Luzern ans Eisenbahnnetz. Ein Beitrag auch an die Revolution des Tourismus, für die Heinrich Zschokke als Propagandist der Rigi, des Pilatus und der von Ingenieur Karl Emanuel Müller neu erbauten Gotthardstrasse wie kein zweiter Zeitgenosse die Werbetrommel gerührt hatte. Das entsprechende Standardwerk «Die klassischen Stellen der Schweiz» (1834) enthält nebst vielem anderen die berühmten Schilderungen der «Nebelbilder» auf der Rigi.

Heinrich Zschokke verliess die Innerschweiz bald wieder, sein Lebensmittelpunkt wurde Aarau, wo er vielseitig und fruchtbar wirkte. Auch im wahrsten Sinne: 1806 heiratete er Nanny Nüsperli und hatte mit ihr zwölf Söhne und eine Tochter.

Im selben Jahr 1848, als Zschokke in Aarau starb (27. Juni), wurde die erste Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der heutigen Schweiz also, verabschiedet. Zu den wichtigsten Mitschöpfern dieser Verfassung gehörten die Zschokke-Freunde Troxler und Steiger. Doktor Steiger hatte gemäss Werner Ort den sterbenden Zschokke noch besucht und anscheinend dessen Prostata betastet.

Pirmin Meier, Historiker, Rickenbach

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Von Autor Pirmin Meier ist soeben in 6. Auflage erschienen: «Paracelsus, Arzt und Prophet» (Unions-Verlag Zürich). Zuletzt verfasste Meier den Text zur «Heiligkreuzvesper» von Carl Rütti, die in Entlebuchs Wallfahrtskirche Heiligkreuz am 4./5. Mai mit Sprecher Walter Sigi Arnold uraufgeführt wird. 

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Die Zschokke-Biographie

«Heinrich Zchokke 1771–1848 – Eine Biographie» heisst das epische Werk über Zschokke, mit 20 vorzüglichen, chronologisch geordneten Kapiteln und einem unaufdringlich-informativen Bildteil. Verfasser Werner Ort (1951), Historiker und Germanist, hat diesem Projekt rund zehn Jahre seines Lebens gewidmet und seine wissenschaftliche Existenz in dieses Projekt investiert. Die bei wissenschaftlichen Historikern zum Teil nicht ganz zu Unrecht verpönte Gattung der historischen Biographie ist durch Ort auf ein Niveau angehoben worden, an dem bisherige und künftige Werke gemessen werden können.

Werner Ort: «Heinrich Zschokke – 1771–1848», ISBN 978-3-03919-273-1, Verlag hier+jetzt, 710 Seiten, 69 Franken


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Über Pirmin Meier:

Dr. phil. Pirmin Meier (1947), aufgewachsen in Würenlingen AG und wohnhaft in Aesch, langjähriger Gymnasiallehrer in Beromünster, war zunächst als Journalist und Herausgeber von Büchern (unter anderem bei Suhrkamp-Insel) tätig, später mehrere Jahrzehnte als Gymnasiallehrer (Beromünster) und Lehrerfortbildner. 

Seine Biographien über Paracelsus (6. Auflage im Jahr 2013), Bruder Klaus (3. Auflage in Vorbereitung) sowie Heinrich Federer und Micheli du Crest gelten als epochal und wurden unter anderem mit dem Innerschweizer und dem Aargauer Literaturpreis ausgezeichnet. Zu den Themen, die mit der Innerschweiz zu tun haben, gehören bei Pirmin Meier das Buch «Landschaft der Pilger», unter anderem mit der Beschreibung der Schattigen Fasnacht in Erstfeld und einer ersten Studie über den heiligen Gotthard. Ausserdem setzte er sich mit der Biographie von Pater Alberich Zwyssig – von ihm stammt der Text des «Schweizerpsalms», der Schweizer Nationalhymne – auseinander, eingegangen in das Buch über Wettingen «Eduard Spörri, ein alter Meister aus dem Aargau».  

Stark beachtet, mit rund drei Dutzend öffentlicher Lesungen seit dem Erscheinen, etwa in Altdorf und im Bahnhofbuffet Göschenen, wurde die mit grossem Aufwand betriebene Neufassung des berühmten Jugendbuches «Der Schmied von Göschenen», welche Neubearbeitung erstmals die Bedeutung der Walser für die ältere Schweizer Geschichte unterstreicht.  

Pirmin Meier gehörte auch zu den geistigen Promotoren des Films «Arme Seelen» von Edwin Beeler, zu welchem Thema er sich im Sommer 2012 in einer ganzstündigen Sendung «Sternstunde Religion» auf SRF ausgelassen hat. Er lebt in Rickenbach bei Beromünster, arbeitet derzeit an einem Grossprojekt über Schweizer Mystik und schrieb auch den Text für das Oratorium Vesper von Heiligkreuz mit Musik von Carl Rütti.

Am 7. September 2013 hielt Dr. Pirmin Meier auf der Rigi die Jubiläumsansprache zum Jubiläum 70 Jahre Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein ISSV. Für sein Buch «St. Gotthard und der Schmied von Göschenen» machte er bedeutende, für die Geschichte der alten Wege einmalige Recherchen über die alten Wege vor 1231, auch zusammen mit dem Historiker Dr. Hans Stadler-Planzer.

In beratender Funktion ist Pirmin Meier tätig für das Filmprojekt «Paracelsus - Ein Landschaftsessay» des in Root (LU) wirkenden Filmunternehmers und Regisseurs Erich Langjahr, wie Pirmin Meier Innerschweizer Kulturpreisträger.

Mehr über Pirmin Meier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pirmin_Meier

Pirmin Meier erhält Innerschweizer Kulturpreis 2008:
https://kultur.lu.ch/-/media/Kultur/Dokumente/preise_auszeichnungen/meier2008.pdf