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Kolumne von Pirmin Meier

14.09.2023

Erschütternde Erfahrungen in 55 Jahren Forschung über die Haltung der Katholischen Kirche zur Sexualität

Pirmin Meier – mit hohen Ehrungen und Preisen geadelter Schriftsteller und Historiker - befasst sich seit 55 Jahren mit dem Spannungsfeld Sexualität und Katholische Kirche. Wenn auf ihn und andere Mahner und Warner gehört worden wäre, hätten die Übergriffe in der Schweiz längstens gestoppt werden können.


Meine Beschäftigung mit Pädophilen-Skandalen seit 55 Jahren geht auf Erfahrungen im Internat des Kollegiums Sarnen zurück, war aber hauptsächlich literarisch orientiert, den berühmten Familienvater Thomas Mann und den von mir verehrten Priester und Schriftsteller Heinrich Federer betreffend.

Nie war es mein Anliegen, mit jemandem «abzurechnen» oder Verdächtige, auch Schuldige nicht, mit Dreck zu bewerfen. Dabei habe ich mich für meine Forschungen, was an meiner Qualifikation zweifeln lässt, nie bezahlen lassen.

Ferner bedaure ich, dass nach dem Erscheinen meines Buches «Der Fall Federer» (2002), im Bruderklaus-Museum Sachseln die Abteilung Heinrich Federer geschlossen und nach Bern ins Literaturarchiv ausgelagert wurde.

Bei Erkundungen über den Glarner Homosexuellen-Pionier Heinrich Hössli (1784 - 1864) kamen mir zusätzliche, bislang unerforschte Skandale aus dem 19. Jahrhundert unter die Augen. Bei der Eremitenforschung fiel mir auf, dass zum Beispiel die Einsiedelei Maria Wil bei Baden, wo meine Eltern 1935 einander das Jawort gegeben hatten, über 100 Jahre zuvor wegen eines Pädophilen-Skandals aufgehoben worden war.

In Philipp Anton von Segessers Rechtsgeschichte des Kantons Luzern wurde ich ebenso fündig wie in Zentralschweizer Staatsarchiven. Mit Bewilligung des Gerichtspräsidenten sichtete ich kiloweise Akten im Staatsarchiv Schwyz über den bedeutendsten heterosexuellen Zölibats-Brecher der Schweizer Kirchengeschichte, über Jakob Joseph Odermatt (Obwalden/Wetzikon/Schwyz), der für seine unehelichen Kinder professionell karitativ «für arme Kinder» gesammelt hatte. 1901 wurde er zu einer Zuchthausstrafe verurteilt, laisiert und ist 1945 im Alter von fast 100 Jahren als ehemaliger freisinniger Redaktor des St. Galler Tagblattes verstorben.

Zu Tatzeiten war er Mitarbeiter der «NZZ», als liberaler Geistlicher von jener Zeitung im Vergleich zum brutal vorverurteilten Priester und christlichsozialen Redaktor der Neuen Zürcher Nachrichten, Heinrich Federer, geschont. Homophile Seilschaften um den liberal-katholischen Literaturpapst und Federer-Freund Eduard Korrodi blieben und bleiben in der «NZZ» bis heute tabu. Die vorangehende Vorverurteilung Federers in jener Zeitung durfte nie zur Sprache gebracht werden.

Auffällig ist, wie die gegenwärtige Presse bei Berichten über neueste Enthüllungen Grossbilder des Klosters Einsiedeln veröffentlicht, wiewohl  inhaltlich dazu keine Veranlassung namhaft gemacht wurde.

Zu sagen bleibt noch, dass man mir wegen stets «auftragslosen» Forschungen, was mein Lebenswerk grundsätzlich kennzeichnet, bei Anfragen betreffs Archiveinsicht im Bistumsarchiv Chur jeweils mit der Nichtnotwendigkeit meiner Einsichtnahme geantwortet hat – zuletzt via Giuseppe Gracia. Und im Stadtarchiv Zürich machte man mich 2002 auf Sperrfristen bis 2042 aufmerksam. Dies betraf die Suche nach der Familie eines mutmasslichen Opfers. Selbst alt Stadtpräsident Sigmund Widmer konnte mir bei meinen Recherchen nicht helfen. In keinem Fall ging es mir um Abrechnung, sondern um vorurteilsfreie historische Kulturgeschichte.

Bei dem im Jahr 1902 bei der Talstation der Stanserhorn-Bahn verhafteten Heinrich Federer war mir aufgefallen, dass es entweder vertuscht wurde oder als Agitation um die Schande benützt, jedoch nie um Wahrheit ging, die auch, trotz Freispruch in zweiter Instanz, nicht harmlos war. Der Knabe Emil Brunner hat sich dann als Erwachsener das Leben genommen. Bei der Untersuchung durch zwei Nidwaldner Ärzte war er brutaler verhört worden als der erwachsene Priester, der die Hosen nicht herunterlassen musste. Dabei hat Federer zehn Jahre lang nur noch unter Pseudonym schreiben können, keine Messen mehr gelesen ausser privat, und zwar ohne Ministranten (Dispens). Fünf Hauptpersonen in Federers literarischem Werk heissen übrigens «Emil». Der Roman «Pilatus» ist eine symbolische Abrechnung mit der «Schande», allerdings mit anderem als pädosexuellem Thema. Einladungen in kirchliche Bildungshäuser erhielt ich bis jetzt keine. So, wie es in Sachen Bruder Klaus über 20 Jahre gedauert hatte, bis 60 Jahre ununterbrochene Detailerkundungen ernst genommen wurden.

Auch die Geschichte der Ehe und Sexualität in der Schweiz seit dem Mittelalter hängt damit zusammen. Dass Klaus von Flüe homophile und der Erzieher-Heilige aus Turin, Don Bosco, pädophile Phantasien hatten, verstand ich in die Proportionen zu rücken, habe dabei jedoch der Heiligkeit dieser Personen keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Heinrich Federer habe ich am allerwenigsten verharmlost. Die Dokumente zeigen, dass kein bekannter pädophil veranlagter Priester ernsthafter gegen dunkle Neigungen angekämpft hat als dieser einzigartige, letztlich verkannte Autor, dessen Werk als Verarbeitung der genannten Schande zu erforschen bleibt.

Mit Bischof Joseph Maria Bonnemain, der jetzt hinstehen muss, mit den leider üblichen hilflosen Erklärungen, möchte ich nicht tauschen. Ich begegnete dem redlichen Prälaten bei der Glarner Näfelser Fahrt 2023, bei einer Predigt über Neutralität, Ukraine und Russland, für die er nicht garantieren kann, ob er sie in fünf Jahren noch so halten würde. Im Hinblick auf meine Forschungen, weswegen mir nicht wenige Pädophile sehr offen geschrieben haben, fiel mir auf, dass dieselben (vergleiche Platon), unter anderem in pädagogischen Berufen – zum Beispiel als Musiklehrer und Sporttrainer – nicht selten sind. Es ist keine Relativierung festzustellen, dass das Problem aber fast nur bei Priestern kampagnenfähig wurde, weil auch noch zu sonstigen Abrechnungen mit Kirche brauchbar; teils heute beispielsweise eine Entlastung von komplexeren Erklärungen bei Kirchenaustritten, wie ich in meinem eigenen Bekanntenkreis beobachtet habe.

Nach 50 Jahren Erkundungen komme ich nicht umhin zu sagen, dass vor 90 Jahren die in Deutschland gründlichsten Recherchen gegen pädophile Priester und Zölibats-Sünder von den Nationalsozialisten – neben anderen Heinrich Himmler und Johannes Leers – ausgingen, als Materialsammlung für die Abrechnung mit der Kirche für die Zeit nach dem «Endsieg». Tyrannen und Agitatoren stürzen sich mit Gier auf Schwachstellen, die im Einzelfall nicht mal gross mit Lügen ergänzt werden müssen.

Unter meinen ehemaligen geistlichen Lehrern gab es einen gravierenden Fall, der aber erst ausartete, als er nicht mehr unter Kontrolle seiner Oberen stand. Auf der anderen Seite sprach ich einmal mit dem hervorragenden, aus meiner Erfahrung hochintegren Philosophen und Pater Raphael Fäh (1903 - 1986) in Hermetschwil AG über die (aus seiner Sicht) «Entartung der kirchlichen Disziplin unter dem Vorwand des Zweiten Vatikanischen Konzils». Hier gingen, wie bei den «68-ern» um Daniel Cohn Bendit, zusätzliche Schleusen auf, wiewohl ich selber seit dem Studium althochdeutscher Dokumente im Kloster St. Gallen (1974) in jedem Jahrhundert bei schwarzen Schafen auch in der Schweiz fündig geworden bin.

Beim grössten christlichen Schriftsteller, Dante, stellt die Hölle durchaus realistisch ein Drittel des christlichen Kosmos dar. Dass dort Päpste und Kleriker ihren kräftigen Anteil daran haben, war um 1300 noch so selbstverständlich, dass es fast eher unter Kontrolle war als zu einer Epoche, da die Hölle entweder «leer» ist (H.U. Balthasar –  der zum Kardinal erhobene Luzerner Theologe),  oder dieselbe auf andere Weise nicht mehr «für voll genommen» wird, was beim pessimistischen Religionskritiker Arthur Schopenhauer durchaus noch der Fall war.

Selber habe ich im Aargauer Verfassungsrat 1976 der sogenannten Volkskirche gegenüber einer Bekenntniskirche mit dem Abschied vom jetzigen System eine neue Basis als Volk Gottes vorzuschlagen versucht, jedoch dann dieses komplexe Anliegen aus Sorge um die Heiligtümer im Lande nicht weiterverfolgt. Das christliche Brauchtum einschliesslich der Feiertage ist eine Frage der Kultur, setzt keine staatlich privilegierten Institutionen voraus, so wenig wie die Weiterexistenz des Fernsehens. Mir ist auch aufgefallen, dass man als atheistischer Religionskritiker oder auch Papstkritiker in katholische Bildungshäuser eher eingeladen wird, als wenn man das aus dem Feudalismus stammende System der staatlichen Eintreibung von Kirchensteuer in Frage stellt.

In spätestens 50 Jahren wird es diese Privilegien bei uns nicht mehr geben. Es bedarf keiner Anpassung des Islams an ein unhaltbares System. Ein von mir noch vertretener Schritt wäre – als Bekenntnis zur Heiligkeit der biblischen Ehe – die Entflechtung des Ehesakramentes von der staatlichen Zivilehe. Diese Thematik entfachte in meiner Heimatkanton Aargau 1835 den Kulturkampf, wie ich in dem (zusammen mit Josef Lang) teilweise kontrovers dargelegten Buch «Kulturkampf – Die Schweiz des 19. Jahrhunderts im Spiegel von heute» (Baden 2016) dargetan habe.

Pirmin Meier, Aesch


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Über Pirmin Meier:

Dr. phil. Pirmin Meier (1947), aufgewachsen in Würenlingen AG und wohnhaft in Aesch, langjähriger Gymnasiallehrer in Beromünster, war zunächst als Journalist und Herausgeber von Büchern (unter anderem bei Suhrkamp-Insel) tätig, später mehrere Jahrzehnte als Gymnasiallehrer (Beromünster) und Lehrerfortbildner. 

Seine Biographien über Paracelsus (6. Auflage im Jahr 2013), Bruder Klaus (3. Auflage in Vorbereitung) sowie Heinrich Federer und Micheli du Crest gelten als epochal und wurden unter anderem mit dem Innerschweizer und dem Aargauer Literaturpreis ausgezeichnet. Zu den Themen, die mit der Innerschweiz zu tun haben, gehören bei Pirmin Meier das Buch «Landschaft der Pilger», unter anderem mit der Beschreibung der Schattigen Fasnacht in Erstfeld und einer ersten Studie über den heiligen Gotthard. Ausserdem setzte er sich mit der Biographie von Pater Alberich Zwyssig – von ihm stammt der Text des «Schweizerpsalms», der Schweizer Nationalhymne – auseinander, eingegangen in das Buch über Wettingen «Eduard Spörri, ein alter Meister aus dem Aargau».  

Stark beachtet, mit rund drei Dutzend öffentlicher Lesungen seit dem Erscheinen, etwa in Altdorf und im Bahnhofbuffet Göschenen, wurde die mit grossem Aufwand betriebene Neufassung des berühmten Jugendbuches «Der Schmied von Göschenen», welche Neubearbeitung erstmals die Bedeutung der Walser für die ältere Schweizer Geschichte unterstreicht.  

Pirmin Meier gehörte auch zu den geistigen Promotoren des Films «Arme Seelen» von Edwin Beeler, zu welchem Thema er sich im Sommer 2012 in einer ganzstündigen Sendung «Sternstunde Religion» auf SRF ausgelassen hat. Er lebt in Rickenbach bei Beromünster, arbeitet derzeit an einem Grossprojekt über Schweizer Mystik und schrieb auch den Text für das Oratorium Vesper von Heiligkreuz mit Musik von Carl Rütti.

Am 7. September 2013 hielt Dr. Pirmin Meier auf der Rigi die Jubiläumsansprache zum Jubiläum 70 Jahre Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein ISSV. Für sein Buch «St. Gotthard und der Schmied von Göschenen» machte er bedeutende, für die Geschichte der alten Wege einmalige Recherchen über die alten Wege vor 1231, auch zusammen mit dem Historiker Dr. Hans Stadler-Planzer.

In beratender Funktion ist Pirmin Meier tätig für das Filmprojekt «Paracelsus - Ein Landschaftsessay» des in Root (LU) wirkenden Filmunternehmers und Regisseurs Erich Langjahr, wie Pirmin Meier Innerschweizer Kulturpreisträger.

Mehr über Pirmin Meier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pirmin_Meier

Pirmin Meier erhält Innerschweizer Kulturpreis 2008:
https://kultur.lu.ch/-/media/Kultur/Dokumente/preise_auszeichnungen/meier2008.pdf