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Kolumne von Olivier Dolder

29.09.2015

Warum jetzt nicht wirklich debattiert wird

Zu einem bitteren Befund kommt der Politikwissenschafter Olivier Dolder, wenn er genau beobachtet, was drei Wochen vor den Eidgenössischen Wahlen vom 18. Oktober geschieht ... – und vor allem, was nicht.


Politologe Olivier Dolder schreibt seit 2011 regelmässig für lu-wahlen.ch (siehe ganz unten auf dieser Seite: die Liste seiner Beiträge).

Bild: Herbert Fischer

Drei Wochen vor den Wahlen vom 18.Oktober: was nimmst Du wahr? 

Olivier Dolder: Ich stelle fest: Es hängen viele Plakate, viele Inserate sind zu sehen, es gibt viele Extrasendungen in Radio und Fernsehen. Ich stelle aber nicht fest, dass über wirkliche Themen diskutiert wird, mit Ausnahme vielleicht über Migration und Asyl. Das erstaunt mich aber nicht wirklich. Diese Feststellung kennen wir von früheren Eidgenössischen und Kantonalen Wahlen (siehe unter «Dateien» und «Links»).

Warum ist das so? Politikerinnen und Politiker erreichen doch nie eine so grosse öffentliche Wirkung wie vor Wahlen, die Medien greifen ihre Themen nie so ausführlich und grundsätzlich auf wie dann. Also müssten sie doch jetzt «Vollgas geben». Übrigens sieht man auch relativ selten Leute, die an den klassischen Ständen auf der Strasse mit Leuten der Parteien diskutieren. Und die wenigen Podien, die es noch gibt, sind allermeistens schwach besucht.

Vermutlich gibt es mehrere Gründe für diese Feststellungen, die ich übrigens teile. Wahlen sind bei unserem politischen System nicht allein entscheidend, wir haben auch Sachabstimmungen und zwar in aller Regel viermal im Jahr auf Bundesebene, das ist der erste Punkt. Zweitens bringen Wahlen kaum je wirklich gravierende Veränderungen bei den Machtverhältnissen. Drittens haben wir ein Milizsystem: Viele Politikerinnen und Politiker machen Wahlkampf neben ihrem eigentlichen Job. Zudem sind die Parteien mit wenigen Ausnahmen sowohl personell als auch finanziell schwach dotiert. Viertens: Wir wählen am 18. Oktober die beiden Kammern des nationalen Parlaments. Dies verlangt eigentlich Diskussionen über nationale Themen – die Kandidatinnen und Kandidaten müssen sich aber in den Kantonen zur Wahl stellen. 

Eine Theorie sagt, viele Politikerinnen und Politiker wollten sich «nicht zu klar positionieren», weil sie lieber auf die Klientel ihrer Partei setzen und dort ihre Stimmen holen wollen, als andere Zielgruppen ansprechen. Unter dem Motto: wenn ich mit dieser oder jener Botschaft ausserhalb meiner Partei Stimmen gewinne, verliere ich gerade deswegen im eigenen Lager Zuspruch.

Das kann man durchaus so sehen. Ich denke, wichtig ist zudem, dass im Kanton Luzern jetzt nur zwei von zwölf Persönlichkeiten nicht mehr kandidieren: Ständerat Georges Theiler (FDP) und Nationalrat Ruedi Lustenberger (CVP). Wenn wir davon ausgehen, dass alle zehn «Bisherigen» (neun Nationalrätinnen und Nationalräte sowie ein Ständerat) gute Wiederwahlchancen haben – mit Ausnahme von Roland Fischer von der GLP – so belebt dies die Ausgangslage des Wahlkampfs nicht unbedingt. 

Warum nicht?

Weil «Bisherige» in der Regel wiedergewählt werden. Sie können vom sogenannten «Bisherigenbonus» profitieren – das heisst, sie haben durch ihre Parlamentstätigkeit die nötige Bekanntheit und daher einen Vorteil gegenüber neuen, noch weniger bekannten Kandidatinnen und Kandidaten.

Und wo liegt das Problem bei GLP-Nationarat Roland Fischer?

Bei seiner Partei. Nicht bei seiner Person oder seiner Arbeit im Nationalrat. Die GLP dürfte als Partei Stimmen verlieren; das GLP-Mandat ist also «in der Schwebe». Es könnte zurück an die SVP gehen, wo es die GLP 2011 «abgeholt» hat. Es kann allenfalls auch im rot-grünen-grünliberalen Lager bleiben und zur SP wechseln. Aber das ist das weniger realistische Szenario. 

Darum hofft Roland Fischers Partei, diesen Sitz dank einer Listenverbindung mit Sozialdemokraten/Gewerkschaften, JungsozialistInnen, Grünen und Jungen Grünen retten zu können? 

So ist es, das ist auch ihre einzige Chance, diesen Sitz zu retten. Allein hätte die GLP keine Chance. Schon vor vier Jahren gewann sie den Sitz nur dank der Stimmen der BDP und der EVP. Die beiden Kleinparteien haben sich aber dieses Jahr mit CVP und FDP zusammengetan. Die entscheidende Frage ist für mich, ob Sozialdemokraten, Grüne und Grünliberale zusammen genügend Stimmen für drei Sitze holen. 

Listenverbindungen sind also keine Liebesbeziehungen, sondern gehen von rein rationalen Überlegungen aus? 

Eindeutig. Denn Listenverbindungen können der eigenen Partei – rein arithmetisch argumentiert – nicht schaden. Man verliert keine Sitze wegen Listenverbindungen, kann aber allenfalls einen Sitz dazugewinnen. So, wie dies eben die GLP vor vier Jahren tat. 

Dann sollte man die Listenverbindungen aber doch besser abschaffen? 

Nein. Denn schlimmer als Listenverbindungen sind keine Listenverbindungen.

Das musst Du ausführen.

Unser Wahlsystem benachteiligt kleine Parteien. Schafft man Listenverbindungen ab, werden kleine Parteien noch stärker benachteiligt. Statt über Listenverbindungen müsste man über das Wahlsystem diskutieren: Warum führt man nicht ein faires Wahlsystem ein, das die Parteienstärken sauber in Sitze ummünzt und in verschiedenen Kantonen gut funktioniert? 

Du sprichst vom sogenannten Doppelten Pukelsheim? 

Genau. Sogar in der Innerschweiz, nämlich in Zug und Nidwalden, funktioniert dieses System; ein System, das ohne Listenverbindungen auskommt und es beispielsweise den Jungparteien ermöglichen würde, in den Nationalrat einzuziehen.

Zurück zu den «Inhalten» dieses Wahlkampfes, der nicht so recht einer zu sein scheint: Das einzige Thema, das wirklich diskutiert wird, sind die Flüchtlinge, gesetzt allerdings nicht durch den Wahlkampf, sondern durch die internationale Entwicklung. Hier ist eine sehr starke Wirkung den Bildern zugeschrieben worden, welche Medien gezeigt haben und die absolut erschütternd sind.

Gewiss sind das fürchterliche Bilder! Wegen ihnen hat auch die Stimmung in den Medien gedreht. In Deutschland  schrieb man über die «Willkommenskultur». Ich bin mir aber nicht sicher, ob die Stimmung hierzulande auch in der Bevölkerung «gekehrt hat», wie da und dort gesagt und geschrieben worden ist.

Auch die neusten Prognosen sagen der SVP Gewinne voraus, was eine Zeit lang, auf dem Höhepunkt der medialen Berichterstattung, plötzlich unsicher schien.

Wären eigentlich nicht Themen zuhauf vorhanden, die sich geradezu aufdrängen, jetzt debattiert zu werden: die Umsetzung der «Masseneinwanderungs-Initiative» mit allen Konsequenzen, die Zukunft und vor allem die Finanzierung der Sozialwerke, die zweite Gotthardröhre, der Tiefbahnhof, das Gesetz über den Nachrichtendienst. Warum kommen diese Themen nicht auf den Tisch?

Über solche Themen wird natürlich auch unter dem Jahr, vor parlamentarischen Debatten oder vor Abstimmungen diskutiert. Sind die Diskussionen zur Rentenreform beispielsweise dem Wahlkampf oder der kürzlich stattgefundenen Debatte im Ständerat zuzuordnen? Und warum sollte man mit der Gotthardröhre Wahlkampf machen, wenn der Abstimmungskampf dazu schon begonnen hat? Wahlkampf wird in der Schweiz darum weniger mit einzelnen Sachvorlagen gemacht, als vielmehr mit der Vermarktung von unterschiedlichen Grundsatzpositionen und Wertvorstellungen.

Was können Kampagnen bewirken, was nicht?

Sie können in erster Linie mobilisieren. Wählerinnen und Wähler der Konkurrenz abzuwerben, ist allein mit einer Kampagne äusserst schwierig.  

Apropos Mobilisierung: Die Stimmabstinenz ist seit Jahren ein leidiges Thema, weil sie ständig stärker und damit die Abstimmungs- und Wahlbeteiligung schwächer wird.

Da muss ich korrigieren, bei Eidgenössischen Wahlen ist sie nicht mehr rückgängig. Sie steigt seit 1995 gesamtschweizerisch sogar wieder leicht an. 

Tatsächlich? Worauf wird das zurückgeführt?

Das dürfte mit der Nationalisierung der Wahlkämpfe zusammenhängen, besonders auch mit dem Aufstieg der SVP, der es immer wieder gelungen ist und offensichtlich noch immer gelingt, Themen gesamtschweizerisch zu setzen und zu befeuern. Es ist davon auszugehen, dass sie es fertig gebracht hat, Nicht- oder Nicht-Mehr-Wählerinnen und Wähler zur Beteiligung zu bewegen und die SVP zu wählen. Vor vier Jahren dürfte das auch der sogenannten «Neuen Mitte» gelungen sein. 

Im Kanton Luzern sank die Wahlbeteiligung 2011 aber leicht im Vergleich zu den Wahlen 2007.

Das stimmt. In Luzern, so könnte man sagen, hat sich die Wahlbeteiligung seit 1995 bei leicht über 50 Prozent eingependelt und schwankt nun leicht von Jahr zu Jahr. Die Wahlbeteiligung ist im Kanton Luzern übrigens immer leicht über dem Schweizer Durchschnitt. Dies seit 1919, also seit der ersten Proporzwahl des Nationalrates. 

Und trotzdem geht rund jede Zweite, beziehungsweise jeder Zweite nicht an die Urne. Sind die Leute einfach tatsächlich «politikverdrossen», wie das auch genannt wird?

Nein. Eine neue Untersuchung der Universität Bern zeigt, dass nur ein kleiner Teil der nichtwählenden Bevölkerung «verdrossen» ist. Es gibt beispielsweise mehr sogenannte «zufriedene Desinteressierte» als eben «Verdrossene». Und dann gibt es auch noch Personen, die zwar nicht wählen, aber an Sachabstimmungen teilnehmen.

Falls über den Wahlherbst 2015 im Kanton Luzern überhaupt diskutiert wird, sind es eigentlich nur drei Punkte, die zu reden geben und zwar: Was passiert mit dem Sitz von Roland Fischer (erstens), zweitens die offensichtliche Überforderung von SVP-Nationalrätin Yvette Estermann als Ständeratskandidatin und drittens: wie schneidet FDP-Kandidat Damian Müller im ersten Wahlkampf für den Ständerat ab? Wie siehst Du die Ausgangslage zur Ständeratswahl, Stand heute Montag, 28. September.

CVP-Ständerat Konrad Graber gilt als gesetzt, die Frage ist eigentlich bloss, ob er im ersten Wahlgang «durchmarschiert» oder nochmals antreten muss. Damian Müller hätte als Vertreter der FDP – eigentlich – gute Chancen, weil diese Partei seit 1955 ununterbrochen den zweiten Luzerner Ständeratssitz belegt. Er ist allerdings kein politisches Schwergewicht. So war seine Nomination im Oktober eine Überraschung. Es gibt sogar Stimmen, die eher von einer Nicht-Nomination des eigentlich «gesetzten» Peter Schilliger als von einer «Nomination Müller» sprechen. Schneidet Damian Müller im ersten Durchgang schlecht ab oder «sackt er» sogar «ganz ab», so wird die Partei womöglich «das Ross wechseln» und mit einem anderen Kandidaten antreten. Das hat sie übrigens bereits einmal erfolgreich gemacht, als 1989 ein Nachfolger für den zum Bundesrat aufgerückten Ständerat Kaspar Villiger gewählt werden musste und es schliesslich im zweiten Wahlgang Regierungsrat Robert Bühler schaffte. «Das Ross wechseln» ist allerdings heikel.

Erstens gelingt es selten, mit einem neuen Kandidaten oder einer neuen Kandidatin im zweiten Wahlgang zu gewinnen. Der SVP ist dies beispielsweise 2007 bei den Regierungsratswahlen und das letzte Wochenende in Kriens nicht gelungen. Und zweitens gibt eine Partei damit zu, dass ihre erste Nomination nicht optimal war. 

Dann wird Damian Müller also nicht Ständerat?

Das weiss ich nicht. Das wird allein der erste und allenfalls der zweite Wahlgang zeigen. Müllers Chancen sind – allen Vorbehalten zum Trotz – meines Erachtens durchaus intakt. Nicht zuletzt auch, weil er ein begnadeter Wahlkämpfer ist. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass die gegenwärtige Verteilung (ein CVP-Sitz, ein FDP-Sitz) im Kanton Luzern mehrheitsfähig ist, also letztlich so bleiben wird, wer auch immer am Schluss FDP-Ständerat wird. 

Dann haben die anderen Kandidierenden, insbesondere Prisca Birrer-Heimo von der SP, nichts mitzureden bei den Ständeratswahlen?

Wenn jemand der «Anderen» eine Chance hat, dann Prisca Birrer-Heimo. Sie ist am rechten, also «gemässigten» Rand ihrer Partei zu verorten und darum wohl auch in Teilen des bürgerlichen Lagers wählbar. Aber sie hat als Präsidentin der Stiftung für Konsumenschutz nicht die Bekanntheit, die sie haben könnte. Ihre Vorgängerin dort, die jetzige Bundesrätin Simonetta Sommaruga, war deutlich bekannter. Und nicht zu vergessen ist: Der Kanton Luzern ist klar bürgerlich. Nationalrätin Birrer dürfte daher wohl nur dann Chancen haben, wenn es im zweiten Wahlgang viele Kandidatinnen und Kandidaten und kein geschlossenes bürgerliches Lager gibt. 

Interview: Herbert Fischer, Redaktor lu-wahlen.ch, Luzern

Das Interview fand am Montag, 28. September statt. Interviewer und Interviewter duzen sich, weil sie sich seit Jahren kennen.


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Über Olivier Dolder:

Olivier Dolder (1985) aus Luzern ist promovierter Politikwissenschafter.

Bis zu den eidgenössischen Wahlen 2019 analysierte er für verschiedene Medien das regionale und nationale Politikgeschehen. Er war mehrere Jahre als Projektleiter bei Interface Politikstudien in Luzern tätig.

Seit September 2019 arbeitet Dr. Olivier Dolder als Projektleiter Neue Regionalpolitik (NRP) beim Amt für Wirtschaft des Kantons Schwyz.

www.olivierdolder.ch