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16.03.2012

Interview der «kipa» mit Giusep Nay über das Verhältnis von Kirche und Staat

Am 19. März wird an der Uni Luzern das neue Zentrum für Religionsverfassungsrecht eröffnet. Dabei wird alt Bundesgerichtspräsident Giusep Nay über das Verhältnis von KIrche und Staat sprechen. Die Presseagentur kipa führte dazu mit ihm ein Interview, das sie lu-wahlen.ch freundlicherweise zur Verfügung stellt.


 

«Der Rechtsstaat muss alle Religionen gleich behandeln»


Von Benno Bühlmann / Kipa

Luzern, 15.3.12 (Kipa) Es sei die Pflicht des demokratischen Rechtsstaates, alle Religionen gleich zu behandeln, betont der ehemalige Bundesrichter Giusep Nay (69): «Es wäre deshalb richtig, auch die Muslime in der Schweiz öffentlich-rechtlich anzuerkennen." Der Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Universität Luzern spricht am 19. März anlässlich der offiziellen Eröffnung des neuen Zentrums für Religionsverfassungsrecht an der Universität Luzern zum Verhältnis von Religion und Staat.

Giusep Nay, Sie sprechen am kommenden Montag an der Universität Luzern über das Verhältnis von «Staat und Religion - was sie verbindet, was sie trennt». Wie sehen Sie dieses Spannungsfeld, das ja auch heute noch regelmässig für Diskussionen sorgt?

Giusep Nay: In unserer Gesellschaft musste und muss immer wieder ausgehandelt werden, welchen Platz die Religion in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat einnehmen soll. Da spielt einerseits das Grund- und Menschenrecht der Religionsfreiheit und das aus ihr fliessende Neutralitätsgebot des Staates eine zentrale Rolle. Anderseits ist grundsätzlich auch eine institutionelle Trennung von Staat und Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften unverzichtbar.

Das bedeutet aber noch nicht, dass Staat und Religion in der Schweiz gänzlich voneinander getrennt wären, wie das beispielsweise im laizistischen Frankreich der Fall ist...

Nay: Ja, das ist so. Das Neutralitätsgebot des Staates hat nach unserem Verständnis in der Schweiz nicht den Sinn, das Religiöse völlig aus seinem Bereich auszuschliessen. Es verlangt deshalb auch keine strikte Trennung von Staat und Religion im Sinne des Laizismus, sondern erlaubt eine positive Haltung religiösen Kräften gegenüber, indem Kirchen und andere Religionsgemeinschaften in ihrem Wirken auch gefördert und unterstützt werden können.

Inwiefern hat der Staat ein Interesse an der Förderung und Unterstützung von Religionsgemeinschaften?

Nay: Der Staat ist heute gerade auf jene gesellschaftlichen Kräfte besonders angewiesen, welche für Werte einstehen, ohne die keine Demokratie funktioniert. Diese Erkenntnis hat auch der bekannte deutsche Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde mit einer viel zitierten Aussage auf den Punkt gebracht: Der freiheitliche säkulare Staat lebe «von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen». Als freiheitlicher Staat könne er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und vom Zusammenhalt der Gesellschaft her reguliert.

Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Nay: In der Folge sollen vom Staat alle gesellschaftlichen Kräfte gefördert werden, welche jene Werte pflegen und weitergeben, die als Grundlage einer freiheitlichen Rechtsordnung unverzichtbar sind. Wenn der religiös und weltanschaulich pluralistische Staat alle diese relevanten Kräfte in rechtsgleicher Weise unterstützt, verletzt er sein Neutralitätsgebot gegenüber dem Religiösen nicht. Ein wesentlicher Faktor ist dabei das System der öffentlich-rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften, die in der Folge vom Besteuerungsrecht profitieren können.

Werden aber durch solche «Privilegien» nicht Rechtsungleichheiten geschaffen, die den Prinzipien des Rechtsstaates widersprechen?

Nay: Von Rechtsungleicheit kann man insofern nicht sprechen, als das Angebot, eine Körperschaft zu bilden und so die öffentlich-rechtliche Anerkennung zu erlangen, allen Religionsgemeinschaften gegenüber besteht. Tatsächlich sind wir in diesem Zusammenhang heute mit neuen Herausforderungen konfrontiert.
Denn konsequenterweise müssten heute in der Schweiz auch die muslimischen Religionsgemeinschaften die öffentlich-rechtliche Anerkennung erhalten, da sie mit ihren über 300 000 Mitgliedern inzwischen eine beachtliche öffentliche Bedeutung erlangt haben. So sind derzeit denn auch von Seiten der Muslime Bestrebungen im Gange, entsprechende Körperschaften zu bilden, die eine öffentlich-rechtliche Anerkennung erlauben würden.

Ist die öffentlich-rechtliche Anerkennung von muslimischen Religionsgemeinschaften politisch überhaupt umsetzbar angesichts der islamkritischen Stimmung, die gegenwärtig in der Schweiz wahrzunehmen ist?

Nay: Gerade die negative Stimmung wäre ein Grund dafür, die Möglichkeiten einer öffentlich-rechtlichen Anerkennung ernsthaft zu diskutieren. Denn es ist die absolute Pflicht des demokratischen Rechtsstaates, alle Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln und damit der verfassungsmässig verankerten Religionsfreiheit Rechnung zu tragen.

In eine andere Richtung weist allerdings die Volksabstimmung vom 29. November 2009: Damals hatten 57,5 Prozent der Minarett-Verbotsinitiative zugestimmt. Was hat das aus Ihrer Sicht zu bedeuten?

Nay: Das Verbot, Minarette zu bauen, verstösst ganz klar gegen die Religionsfreiheit. Ich gehe davon aus, dass dieses Verbot wegen der durch die Schweiz ratifizierten Europäischen Menschenrechtskonvention letztlich nicht umsetzbar ist und früher oder später durch den Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg korrigiert wird. Die Initianten haben die Abstimmung wesentlich durch das Schüren von Fremdenangst gewonnen, und indem man das Minarett als politisches Zeichen des Islam darstellte. Als religiöses Zeichen, das es in Wirklichkeit ist, wurde es von den Initianten ausdrücklich nicht abgelehnt.

Sie würden das Minarett also nicht als politisches Symbol bezeichnen?

Nay: Das Minarett kann ebensowenig als politisches Symbol gewertet werden wie der Kirchturm der christlichen Kirchen. Es wird verkannt, dass es sich innerhalb der Muslime um eine deutliche Minderheit handelt - Experten sprechen von allerhöchstens 10 Prozent -, die den Islam politisch instrumentalisieren wollen.

In der Schweizer Bevölkerung bestehen allerdings Ängste, dass die Scharia (das islamische Recht) mit unserem demokratischen System nicht vereinbar sei. Ist da eine öffentlich-rechtliche Anerkennung muslimischer Gemeinschaften überhaupt möglich?

Nay: So betrachtet, könnte auch die römisch-katholische Kirche nicht öffentlich-rechtlich anerkannt werden. Innerhalb der römisch-katholischen Kirche gibt es bekanntlich auch keine demokratischen Verhältnisse. Die Katholikinnen und Katholiken in der Schweiz haben als Ergänzung zu ihrer kanonisch-rechtlichen Struktur (bestehend aus Pfarreien und Bistümern) öffentlich-rechtliche Körperschaften gebildet (Kirchgemeinden und Landeskirchen), in denen nach demokratischen Spielregeln über die Verwendung der finanziellen Mittel entschieden wird. Wenn sie die öffentlich-rechtliche Anerkennung und das Besteuerungsrecht erhalten wollen, müssen auch die Muslime entsprechende Körperschaften bilden, die demokratisch und rechtsstaatlich verfasst sind.

Das heisst, dass die öffentlich-rechtliche Anerkennung auch dazu beitragen kann, die Demokratisierung innerhalb der Religionsgemeinschaften zu fördern?

Nay: Tatsächlich wird in dieser Hinsicht die Demokratie am Rande in die einzelnen Religionsgemeinschaften hineingetragen, indem die Beschaffung und Verwendung der Steuergelder nach demokratischen und rechtsstaatlichen Spielregeln erfolgt, um mit diesen finanziellen Mitteln der Religionsgemeinschaft als solcher zu dienen.

In jüngster Zeit wurden in der Schweiz auch andere Problemfelder heftig diskutiert, beispielsweise über religiöse Symbole im öffentlichen Raum, das Kruzifix an öffentlichen Schulen oder das muslimische Kopftuch. Wie hat der Staat mit solchen Spannungsfeldern umzugehen?

Nay: Die erwähnten Streitfragen müssen sehr differenziert betrachtet werden. Denn der Staat kann den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern nicht verbieten, ihren Glauben im Alltag zu leben und ihn auch mit religiösen Zeichen wie dem muslimischen Kopftuch, dem christlichen Kruzifix oder der jüdischen Kippa zum Ausdruck zu bringen. Wenn es einer Religionsgemeinschaft allerdings darum geht, in der Öffentlichkeit provokativ aufzutreten, dann kann der Staat Schranken setzen. Es sind dabei angemessene Lösungen zu suchen, die sowohl dem Neutralitätsgebot des Staates wie auch der positiven und negativen Religionsfreiheit Rechnung tragen.

Können Sie diesen Weg der Lösungsfindung am Beispiel des Kruzifixstreites darlegen?

Nay: Bekanntlich hat das Bundesgericht 1990 in einem die Gemeinde Cadro im Kanton Tessin betreffenden Fall entschieden, dass Kruzifixe in den Schulzimmern mit der Neutralität des Staates nicht vereinbar seien. Es liess dabei offen, ob allenfalls kleine Kreuze in den Schulgängen als zulässig betrachtet werden könnten. In der Folge löste der Entscheid eine breite Diskussion und mehrheitlich Kritik aus. Es gilt vorab das unterschiedliche Verhältnis zwischen Kirche und Staat in den Kantonen wie auch die verschiedenen religiösen und konfessionellen Voraussetzungen zu berücksichtigen.

Was heisst das konkret?

Nay: Dass ein Kruzifix in einer von vielen Schülern unterschiedlicher Religion und Konfession besuchten Schule die religiösen Gefühle der Minderheitsschüler verletzen kann, bedeutet nicht, dass dies auch in der öffentlichen Schule im Kanton Tessin oder Freiburg mit der grossen Mehrheit katholischer Schüler der Fall ist.
In diesem Zusammenhang ist der neue Entscheid der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 18. März 2011 wegleitend: Aufgrund der Feststellung, dass Kruzifixe in den Schulen in Italien die Europäische Menschenrechtskonvention nicht verletzen, ist eine Änderung der Praxis des Bundesgerichts in einem neuen Fall zu erwarten, zumal sein erwähnter Entscheid kaum Einfluss auf die bestehenden Verhältnisse hatte, die von Kanton zu Kanton und von Region zu Region sehr verschieden sind und blieben.

Welche Herausforderungen sehen Sie in Zukunft für das Verhältnis von Staat und Religion in der Schweiz?

Nay: Staat und Religion verbindet auch in unserer Zeit mehr als angenommen wird, auch wenn sie im Gegensatz zu ihrem historisch engen Verhältnis institutionell streng zu trennen sind und heute auch getrennt sind. Indessen gibt es immer noch einzelne Kantone (beispielsweise Bern), wo das bestehende Verhältnis von Kirche und Staat in Zukunft noch klarer entflechtet werden muss.

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Giusep Nay war Anwalt und nebenamtlicher Bezirks- und Kantonsrichter in Graubünden. Von 1989 bis 2006 war er Bundesrichter in Lausanne und 2005/06 Bundesgerichtspräsident. Im November 2011 wurde ihm für seine Verdienste als Staatskirchenrechtler der Ehrendoktortitel der Theologischen Fakultät der Universität Luzern verliehen.

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Neues Zentrum für Religionsverfassungsrecht an der Universität Luzern widmet sich der Forschung, Lehre, Weiterbildung und dem Erbringen von Dienstleistungen im Bereich des (Spannungs-)Verhältnisses von Recht und Religion in nationalen Verfassungsordnungen und im internationalen System. Die Tätigkeit ist insbesondere auf Fragen der Grund- und Menschenrechte ausgerichtet - sowohl der Einzelpersonen als auch der Religionsgemeinschaften. Das Zentrum steht unter der gemeinsamen Leitung von Adrian Loretan (Ordinarius für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht) und Alexander H.E. Morawa (Professor of Comperative and Anglo-American Law).  

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(kipa/bbü/job)

Dieses Interview ist vom Journalisten und Religionsspezialisten Benno Bühlmann für die Katholische Internationale Presseagentur kipa geführt worden.

Die kipa hat diesen Beitrag lu-wahlen.ch freundlicherweise zur Verfügung gestellt, herzlichen Dank!